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ОглавлениеKapitel 5
Mülheim-Kärlich, 11:40 Uhr
Auer und sie waren schon auf der Fahrt übereingekommen, dass Coco die Gesprächsführung übernehmen sollte, quasi „von Frau zu Frau“. Damit hatte Coco kein Problem. Sie wusste nur zu gut, dass es bei einer solchen Nachricht von Vorteil sein konnte, wenn sie von einer Frau überbracht wurde. Eventuell brach die Empfängerin der Nachricht zusammen und musste in den Arm genommen werden. Da war es besser, wenn das eine Beamtin machte, um alle möglichen Missverständnisse zu vermeiden.
Es war kein Problem gewesen, Verena Kellermann, die Ex-Frau des getöteten Raimund Kellermann, als inzwischen in der kleinen Stadt Mülheim-Kärlich, nur zehn Kilometer westlich von Koblenz, wohnhaft auszumachen. Sie hatte sich ordentlich umgemeldet, und bereits in den Scheidungsunterlagen war ihre noch immer gültige Adresse angegeben gewesen. Sie bewohnte laut Meldeunterlagen das kleine Einfamilienhäuschen alleine, ging keiner Beschäftigung nach, und sie hatten auch insofern Glück, dass ihnen bereits wenige Sekunden nach ihrem Läuten geöffnet wurde.
Bereits aus dem Scheidungsurteil war ersichtlich gewesen, dass Verena Kellermann ganze zehn Jahre jünger war als ihr nun verstorbener Ex-Mann. Die gepflegte Blondine, die ihnen die Tür öffnete und sie fragend ansah, machte auf Coco sofort einen Eindruck, zu dem ihr lediglich der Ausdruck „Luxus-Weibchen“ einfiel.
„Ja, bitte?“, fragte sie, sah ihnen direkt ins Gesicht und strich sich mit überlangen und grellrot lackierten Fingernägeln die langen blonden Haare zurück. Wäre sie nicht dabei gewesen, hätte Coco ihr gesamtes Auftreten als sofortigen Flirtversuch mit Auer ausgelegt.
Sie beeilte sich, ihr Anliegen so schnell wie möglich vorzutragen, damit kein falsches Bild entstand.
„Guten Tag, Frau Kellermann, mein Name ist Crott, und das ist mein Kollege Auer. Wir kommen vom Polizeipräsidium Koblenz und haben leider schlechte Nachrichten für Sie. Dürfen wir hineinkommen?“
Sowohl sie als auch Auer hatten ihre Ausweise gezückt und hochgehalten. Ihre Reaktion zeigte Coco, dass sie vermutlich weder Kinder noch Geschwister hatte, um die sie sich hätte Sorgen machen können. Ansonsten wäre die wahrscheinlichste Reaktion auf eine solche Ankündigung ein erschrockenes: „Oh Gott, ist was mit ...?“, gewesen.
Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah sie misstrauisch an. „Da ich vor fünf Minuten mit meiner Mutter in Frankfurt telefoniert habe, kann da eigentlich nichts vorgefallen sein, also bin ich mal gespannt, was Sie mir Schlimmes erzählen wollen.“
Na, das kann ja heiter werden, dachte Coco überrascht.
Laut Scheidungsurteil waren Frau Kellermann und ihr Ex-Mann erst seit vierzehn Monaten getrennt und seit drei Wochen geschieden, aber sie schien keine Sekunde an ihren Ex-Mann zu denken.
Sie folgten der schnellen Schrittes vorausgehenden Frau ins Haus, bis sie in ein edel eingerichtetes Wohnzimmer gelangten, wo sie auf eine große Ledercouch wies.
„Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Wasser?“
„Ein Kaffee wäre sehr nett“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Auer, und Coco musste sich ein Grinsen verkneifen, offensichtlich hatte er Angst, sie würde ablehnen.
Verena Kellermann ließ sich Zeit, man hörte sie in der Küche rumoren, und kurz darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem sie drei dampfende Tassen, Milch, Zucker, Süßstoff und einige Plätzchen ins Wohnzimmer trug. Sie platzierte die Tassen vor Coco und Auer auf dem Couchtisch, nahm sich selbst eine Tasse und ließ sich schließlich in einem Sessel nieder.
Ihr war keine Neugier anzumerken, und Coco fragte sich, wie sie das werten sollte. Normalerweise blieb niemand so cool, wenn die Polizei mit einer nicht näher bezeichneten „schlechten Nachricht“ erschien.
„Nun“, eröffnete Verena Kellermann schließlich das Gespräch, „was ist denn so Schreckliches passiert?“ Dabei sah sie abwechselnd Coco und Auer an, als wartete sie darauf, wer denn nun so kühn sein würde, ihr die Botschaft zu überbringen.
Coco hatte genug Zeit gehabt, sich eine an diese kalte Gelassenheit angepasste Vorgehensweise zu überlegen.
„Ihr Mann wurde ermordet.“
Kein Drumherumgerede, kein vorsichtiges Herantasten, sondern einfach die Fakten. Verena Kellermanns Reaktion hätte nicht überraschender sein können.
„Soso. Und was geht das, mal abgesehen von dem Umstand, dass er mir nun keinen Unterhalt mehr zahlen wird, mich an? Das hätte mir auch das Gericht mitteilen können. Oder der Notar, falls ich wider Erwarten vielleicht doch was erbe.“
Sie sah die beiden weiterhin ohne die geringste Gefühlsregung erwartungsvoll an, und Auer war schockiert. Bevor er irgendetwas sagen konnte, ergriff Coco schnell wieder das Wort.
„Angesichts des Umstandes, dass Sie nicht wirklich betroffen wirken, erlaube ich mir, offen mit Ihnen zu reden. Mal abgesehen davon, dass Sie im Erbfall auf jeden Fall zum Kreis der Tatverdächtigen gehören, gebietet es der Anstand, dass man die nächsten Angehörigen als Erstes verständigt, bevor sie die unappetitlichen Einzelheiten aus der Presse erfahren. Deshalb ...“, sie unterbrach sich, denn Verena Kellermann war in ein lautes und herzliches Lachen ausgebrochen.
Coco fiel auf, dass Auer völlig schockiert immer wieder zwischen ihr und Frau Kellermann hin und her blickte. Er war weit emotionaler veranlagt als Coco und konnte offensichtlich nicht fassen, was er da hörte.
Verena Kellermann hatte sich wieder etwas beruhigt.
„Nächste Angehörige ... das ist gut ... da müssen Sie aber lange suchen. Zu seinen Eltern hatte der schon seit Jahren keinen Kontakt mehr, und als Einzelkind hat er ansonsten nichts, das man als ‚Angehörige‘ bezeichnen könnte. Der Arsch hat es sich eigentlich mit jedem so sehr verdorben, dass seine Beerdigung vermutlich eine ‚One-Man-Show‘ werden wird. Haha.“
Erstmals bereute Coco es, dass das Scheidungsurteil nicht mehr hergab als ein „unüberbrückbares Zerwürfnis“ aufgrund „psychischer Dissonanzen“, die allerdings nicht näher erläutert waren.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als genau diesen Punkt zu hinterfragen.
„Was waren das für psychische Dissonanzen, von denen in Ihren Scheidungspapieren die Rede ist?“
Verena Kellermann reagiert nicht überrascht, dass der Polizei dieser Umstand bereits bekannt war, sondern erläuterte kalt: „Er war bekloppt. So einfach ist das. Total bekloppt.“
Sie sah die Fragezeichen in den Augen der Beamten und fuhr seufzend fort: „Okay, das ist nicht der offizielle Begriff, aber für mich hat es sich so dargestellt. Mein lieber Ex-Mann hatte Arithmomanie, und falls Ihnen das nichts sagt ...“, es sagte Coco zwar etwas, und auch bei Auer sah sie ein Verstehen, aber sie wollte die Frau nicht in ihren Ausführungen unterbrechen, „... das bedeutet ‚Zählzwang‘. Das hört sich harmlos an, aber Sie können sich nicht vorstellen, was das, verbunden mit einer despotischen Veranlagung, für seine Umgebung, also die Ehefrau, Verwandte und vor allem alle, mit denen er beruflich zu tun hatte, wirklich bedeutet. Zumal er sich gegen jede mögliche Hilfe mit aller Kraft gewehrt hat. Er wollte das zwar loswerden, hat aber alle, die ihm helfen wollten, niedergemacht und als inkompetent hingestellt.“
Coco wusste aus ihrem Psychologiestudium und aus ihrem Praktikum im „Nette-Gut“, der Einrichtung für gewalttätige psychisch Kranke, dass eine ausgeprägte Arithmomanie sowohl für den Betroffenen als auch sein Umfeld eine wirklich große Belastung darstellen konnte. Sie musste es nicht ausführen, denn das übernahm Verena Kellermann sofort und ungefragt.
„Er hat alles gezählt ... ALLES! Und wehe dem, der ihn dabei unterbrach oder gar bat, das doch zu lassen. Ha! Schritte, Latten an einem Zaun, die Streifen an einem Fußgängerüberweg, Treppenstufen, Bücher in einem Regal, Fliesen auf dem Boden, die korrekte Anzahl der Tassen und Teller im Schrank, einfach wirklich alles, was zählbar war.“
Sie war während ihrer Ausführungen immer lauter geworden.
„Und wenn jemand weiß, woher die Redewendungen ‚nicht mehr alle Latten am Zaun‘ oder ‚nicht mehr alle Tassen im Schrank‘ kommen könnten, dann sicherlich ich. Es war einfach nicht mehr zu ertragen.“
Sie hatte sich immer weiter nach vorne gelehnt und ließ sich nun erschöpft in den Sessel zurücksinken. Dann ergänzte sie ihre Ausführungen leise: „Wenn ich nicht so unter ihm gelitten hätte, könnte er mir nun fast leidtun. Nun aber zu sagen, das habe er nicht verdient, erschiene mir scheinheilig. Und eines kann ich Ihnen sagen“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „Sie werden wenige finden, die anders darüber denken.“