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Kapitel 9

Koblenz-Innenstadt, 10:00 Uhr

Christina hasste es, sich nach draußen zu begeben, aber es gab Dinge, die sie sich nicht liefern lassen konnte, und bestimmte Behördengänge konnte ihr auch niemand abnehmen. Es war nicht so, dass sie nicht nach draußen gehen konnte, Gott bewahre. Von Dr. Rossbacher hatte sie gelernt, dass man die Angst vor dem Aufenthalt unter freiem Himmel als Agoraphobie bezeichnete. Das waren wirklich arme Leute, die ihr Haus nicht verlassen konnten, und sie hatte Mitleid mit ihnen. Leider hatte kaum jemand Mitleid mit ihr, obwohl ihre Erkrankung ähnlich tragische Auswirkungen hatte.

Der manische Waschzwang war das eine, was aber kaum jemand mitbekam. Nun ja, sie hatte ihre Arbeitsstelle letztendlich verloren, weil sie alle zehn Minuten auf die Toilette gegangen war, um sich die Hände zu waschen. Dabei hatte sie allerdings auch jedes Mal Unmengen von Papiertüchern dazu verwendet, alle Oberflächen, die sie anfassen musste, vorher zu reinigen.

Ihr Arbeitgeber hatte sie anfänglich nur aufgefordert, das doch zu lassen, dann hatte er sie abgemahnt und sie letztlich auch auf Druck der Arbeitskollegen entlassen. Das war einerseits sehr ärgerlich, andererseits war sie heilfroh, diesem grauenvollen Ort entfliehen zu können, an dem es nur so vor Bakterien und Viren wimmelte.

Manchmal hatte sie den Eindruck, sie könne die Bakterien sehen, wie sie sich grünlich schimmernd auf allen glänzenden Oberflächen breitmachten. Ekelhaft, grauenvoll und absolut nicht zu dulden.

Mysophobie – so hieß laut Dr. Rossbacher diese panische Angst vor Ansteckung, die letztendlich auch der Auslöser für ihren Waschzwang war. Und er konnte sagen, was er wollte. Sie wusste, dass alles voller Bakterien war, davon konnte auch ihr Psychotherapeut sie nicht abbringen. Sie konnte sie riechen, sie konnte sie sogar sehen, und manchmal meinte sie auch, sie hören zu können.

Aber alle Therapieversuche hatten bislang keine wirkliche Besserung herbeigeführt, auch nicht die Gesprächstherapie in der Gruppe. Die fand Christina zwar recht interessant und teilweise spannend, manchmal aber auch ein wenig beängstigend. Unter den fünf anderen Teilnehmern befanden sich zwei Personen, die ihr regelrecht Angst machten. Sie waren so aggressiv und pöbelten in einer Tour die anderen Gesprächsteilnehmer an, bezeichneten sie als „Irre“, mit denen sie nicht in einen Topf geworfen werden wollten.

Christinas Gedanken wanderten in eine andere Richtung, nämlich zu Carlo Wagner, dem netten jungen Mann, der ganz anders war. Er war einfühlsam und scheinbar auf dem besten Weg, seine Zwangsneurose in den Griff zu bekommen. Vor allem war er aber sehr adrett, ordentlich und vermutlich auch sehr reinlich. Er wirkte immer frisch geduscht, roch angenehm, und sie hätte sich fast vorstellen können, ihm mal die Hand zu geben ... sogar ohne Handschuhe zu tragen.

Gedankenverloren schloss sie ihren alten Opel Kadett auf, den sie im hintersten Winkel auf dem obersten Parkdeck des Löhr-Centers geparkt hatte, also möglichst weit weg von anderen Fahrzeugen. Sonst hätte vielleicht die Gefahr bestanden, dass neben ihr parkende Personen beim Aussteigen ihr Auto berührten oder ihr bei der gleichzeitigen Annäherung an das Fahrzeug zu nahe kamen.

Sie hörte die Person nicht, die genau in dem Moment hinter dem Kofferraum hervortrat, als sie den Schlüssel in das Schloss der Tür ihres Wagens steckte. Die Anwesenheit eines weiteren Menschen bemerkte sie erst, als eine Hand von hinter ihrem Kopf auftauchte und ihr einen scheußlich riechenden Lappen auf den Mund drückte.

Noch bevor sie den Gedanken, ob das Tuch vor der Benutzung auch desinfiziert worden war, zu Ende denken konnte, wurde ihr zuerst schwindelig, und dann erloschen alle Lichter.

***

Bin ich in der Badewanne eingeschlafen? Ich kann mich gar nicht erinnern, ein Bad genommen zu haben?

Die Benommenheit ging langsam zurück, und sie registrierte, dass sie fröstelte. Vielleicht war ja das Badewasser schon abgekühlt, dachte sie noch, bevor sie die Augen öffnete.

Der Schock raubte ihr den Atem, und gleichzeitig offenbarten sich ihr gleich mehrere Umstände ihrer Situation. Sie stand zur Bewegungslosigkeit verdammt in einem Bottich, in dessen Mitte sich eine Art Pfahl befand. Sie war voll bekleidet, und das kalte Wasser stand bis zu ihrer Brust. Über ihrem Kopf befand sich eine Art Pendelleuchte, die ihre nähere Umgebung erhellte. Gleichzeitig registrierte sie, dass sie mit einer Kette fest an den Pfahl gebunden war. Allerdings waren ihre Arme frei beweglich, was sie erleichtert zu dem Schluss brachte, dass sie sich vielleicht aus eigener Kraft aus dieser Situation würde befreien können.

Sie schüttelte sich voller Ekel, denn sie stellte sich sofort vor, dass es sich bei der Füllung des Bottichs wohl kaum um sauberes Wasser handeln konnte. Gleichzeitig erreichten immer wieder kleine Spritzer ihr Gesicht, die von einem in das Wasser plätschernden Strahl aus einem Rohr oberhalb ihres Kopfes stammten. Sie versuchte, sich von diesen Spritzern wegzudrehen, aber ihre Fesselung an den Pfahl war zu stramm.

Der obere Rand des Bottichs befand sich einige Zentimeter über Augenhöhe, wo auch das Rohr – mit den Händen nicht erreichbar – über den Rand ragte. Mit aufkeimendem Entsetzen realisierte sie, dass der Wasserpegel langsam aber sicher anstieg und angesichts der Höhe des Randes irgendwann über ihren Kopf reichen würde. In ihrer sofort einsetzenden Panik begann sie, mit den Händen an der Kette zu rütteln, die sie an den Pfahl fesselte. Vergeblich. Als sie sich von ihrem Schock etwas erholt hatte, registrierte sie das große Vorhängeschloss, mit dem die Kette vor ihrer Brust geschlossen war.

Da sie keine Haarklammern oder etwas Ähnliches vorzuweisen hatte, womit sie das Vorhängeschloss vielleicht hätte öffnen können, stieg ihre Panik für einen Augenblick in neue Höhen. Sie begann, aus vollem Hals zu schreien, und bemerkte erst, als sie völlig außer Atem das Schreien einstellen musste, dass es in dem Raum, in dem der Bottich stand, erstaunlich hallte. Da die Pendelleuchte nach unten strahlte, erhellte sie den Raum nicht so weit, dass Christina Wände hätte sehen können. Es musste sich um eine große Halle oder etwas in der Art handeln. Wo befand sich diese Halle, wenn niemand auf ihr Schreien reagierte?

Verdammt, was nützen mir freie Hände, wenn ich dieses verdammte Schloss nicht aufbekomme?

Wieder warf sie sich verzweifelt hin und her, konnte aber die Kette nicht im Geringsten lockern. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Art kleines Tablett, das an der Innenwand des Bottichs in Augenhöhe befestigt war. Sie schrieb es ihrer Panik zu, dass ihr das nicht vorher aufgefallen war.

Zuerst wollte sie ihren Augen nicht trauen, als sie entdeckte, was da auf dem Vorsprung in einem kleinen Berg einer undefinierbaren Masse steckte: Aus der Masse heraus ragte der hintere Teil von etwas, was ohne Zweifel ein Schlüssel sein musste.

Die Aufregung, verbunden mit der Erleichterung, ließ sie beinahe hyperventilieren. Der Schlüssel befand sich in erreichbarer Nähe, und sie musste nur nach ihm greifen, dann konnte sie sich sicherlich befreien. Ihre Todesangst war fast verschwunden, zumindest so weit, dass sie sich bei der Handbewegung hin zu dem rettenden Schlüssel fragte, was das wohl für eine Masse war, in welcher der Schlüssel steckte.

Sie drehte den Kopf so weit es nur ging, um die Masse so gut wie möglich sehen zu können.

Als sie sich noch ein wenig mehr in die Richtung neigte, erreichte sie ein Geruch, den sie sofort erkannte.

Oh nein ... bitte nicht ... das kann doch nicht wahr sein. Bitte, lieber Gott, warum strafst du mich so?

Zwang zu töten

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