Читать книгу Zwang zu töten - Dieter Aurass - Страница 6
ОглавлениеProlog
Koblenz-Innenstadt, 09:30 Uhr
1 – 2 – 3 – 4 – 5 ...
Er verfluchte sich, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wie viele Stufen diese verdammte Treppe hatte, obwohl er sie schon zigmal hinauf- oder hinabgegangen war.
26 – 27 – 28 – 29 ...
Ich meine, es waren zweiundvierzig, aber warum kann ich mich nicht erinnern?
Die Frage war absolut fehl am Platze, denn er wusste grundsätzlich genau, warum er sich nicht erinnern konnte. Weil er nicht nur diese Treppenstufen zählte, sondern alle Treppenstufen, die er jemals betreten hatte. Und er zählte nicht nur Stufen, nein, er zählte alles, was man im Vorbeigehen zählen konnte: Parkuhren am Straßenrand, Parkplätze in einer langen Parkbucht, die senkrechten Streben eines Brückengeländers oder die Laternenmasten in seiner Straße.
Dr. Rossbacher hatte ihm erzählt, woher dieser Zwang kam, aber das war nicht wirklich nützlich gewesen, seine Zwangsneurose zu lindern.
„Scheiß auf die Kindheit! Ich will, dass das aufhört und nicht wissen, warum und wodurch der Grundstein für diesen manischen Zählzwang in meiner Kindheit gelegt wurde.“
Dr. Rossbacher hatte nicht gerade freundlich reagiert, als er ihn während einer der vielen Einzelsitzungen angeschrien und ihm wiederholt sehr barsch versichert hatte, dass es ihn einen Scheißdreck interessiere, wie man diese Erkrankung nannte: Arithmomanie. Wie sollte ihm das helfen?
„Und diese Gesprächssitzungen in der Gruppe kotzen mich auch an! Ich habe keine Lust, mich mit lauter Bekloppten zusammenzusetzen und denen von meinen Problemen zu erzählen. Lassen Sie sich gefälligst eine bessere Therapie einfallen!“
Raimund Kellermann war nicht der Typ, der sich auf lange Diskussionen einließ, und er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Mit fünfundvierzig war er bereits einer der Stars in der deutschen Werbebranche und führte eine eigene Werbeagentur in Koblenz. Keiner seiner Mitarbeiter durfte ihm widersprechen, das war eine seiner eisernen Grundregeln. Allerdings war in letzter Zeit vermutlich einigen seiner Angestellten aufgefallen, dass er sich nicht immer völlig „normal“ verhielt.
Er hatte es nicht verhindern können, dass seine ständige Zählerei bemerkt worden war. Vor allem bei Besprechungen hatte er es nicht unterlassen können, auf einem Zettel Strichlisten zu führen: wie oft Wegner sich an die Nase fasste, wie viele Male Haschke: „Wenn Sie wissen, was ich meine?“, sagte oder wie oft die Müller auf die Uhr sah. Leider hatte er seinen Zettel liegen lassen, und die Überschriften über den Strichen mit den jeweiligen Namen und Handlungen sprachen Bände. Aber auf keinen Fall durfte einer seiner Leute mitbekommen, dass er bei so einem Psychoheini in Behandlung war. Gott bewahre, wenn das jemand rausbekam, konnte er in der Branche einpacken.
41 – 42 – 43.
Also doch, er hatte sich fast richtig erinnert. Er verließ das Schängel-Center auf der Clemensstraße, in dem er im Obergeschoss sein tägliches Fitnesstraining absolviert hatte, und hastete über den Zentralplatz in das Parkhaus des Forum Mittelrhein. Die bösen Blicke einiger Passanten, als er einfach über die Straße lief, anstatt sich an der Fußgängerampel anzustellen, ignorierte er. Wahrscheinlich galten sie sowieso eher seinem stylischen Kleidungsstil und seinem jugendlichen und sportlichen Aussehen, auf das er in seinem Beruf angewiesen war. Sein langer blonder Pferdeschwanz wippte, und der warme Septemberwind ließ sein weites Baumwollhemd flattern.
Im Parkhaus angelangt und auf dem Weg zu seinem Porsche, in dem er die Sporttasche abstellen wollte, kam er nicht umhin, die in der langen Reihe parkenden Autos zu zählen: 7 – 8 – 9 – 10 – 11.
Er warf die Tasche in den Kofferraum und machte sich umgehend auf den Weg zurück, damit er den Termin mit dem potenziellen Kunden noch schaffen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch fast zehn Minuten Zeit hatte, was für ihn bei einer Entfernung von geschätzten hundertfünfzig Metern bis zum Treffpunkt kein Problem darstellen sollte. Also verließ er das Shoppingcenter am nordwestlichen Ausgang und wechselte über die Görgenstraße ins Altlöhrtor in Richtung Löhrstraße. Schon beim Verlassen des Gebäudes begann er die Schritte zu zählen, um seine Entfernungsschätzung zu bestätigen. 56 – 57 – 58 – 59.
Beim Café Höfer angekommen, fand er nach einer überschlägigen Rechnung seine Schätzung bestätigt. Ziemlich genau hundertfünfunddreißig Meter bis zum Eingang des Cafés. Die acht, nein, neun Tische vor dem Café waren bis auf zwei alle besetzt, und er blickte sich suchend nach einem einzelnen Herrn um, der nach seinem Aussehen als Auftraggeber für eine Werbekampagne für ein neues, revolutionäres Produkt infrage kommen könnte. Aus dem eigentlichen Produkt hatte der Anrufer ein Geheimnis gemacht, und auch zur Branche hatte er sich noch nicht äußern wollen. Das sei auch der Grund für den ungewöhnlichen Treffpunkt, anstatt in die Agentur in der Koblenzer Innenstadt zu kommen.
Egal ... Hauptsache, ein Abschluss war zu tätigen. Das Produkt war Kellermann ziemlich egal. Die Erfahrung in seiner Branche hatte gezeigt, dass man mit der richtigen Werbekampagne jeden Scheiß an den Mann oder die Frau bringen konnte.
„Herr Kellermann?“
Er fuhr herum und sah sich einem unscheinbaren Mann mittleren Alters gegenüber, den er unter anderen Umständen eher für einen Büroangestellten gehalten hätte. Allerdings kam ihm der Mann entfernt bekannt vor. Wo hatte er ihn schon mal gesehen?
„Herr Paschke?“
„Ja, genau. Wir sind verabredet.“
Kellermann streckte die Hand aus und schüttelte die seines Gegenübers. Ihm fiel auf, dass sie schweißnass war, und obwohl der September einer der wärmsten seit Jahrzehnten war, hatte diese unappetitliche Feuchte nichts mit der Witterung zu tun. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse.
„Okay, Herr Paschke, wollen wir uns setzen? Ich habe noch weitere Termine, und es wäre mir lieb, wenn wir möglichst schnell zur Sache kämen.“
Der Mann wand sich ein wenig, als wäre ihm etwas peinlich. „Wäre es sehr schlimm, wenn wir zuerst zu meinem Wagen gehen, damit ich Ihnen das Produkt zeigen kann? Ich habe es im Kofferraum meines Wagens und möchte es nicht durch die Stadt tragen.“
Diese Geheimniskrämerei begann Kellermann auf die Nerven zu gehen, aber er wollte einen potenziellen Kunden nicht zu einem so frühen Zeitpunkt verprellen.
Der Mann schien zu merken, dass Kellermann ein wenig ungehalten wurde, und beeilte sich zu versichern: „Es dauert nicht lange, mein Wagen steht direkt hier im Altlöhr-Parkhaus, keine fünfzig Meter von hier. Es geht wirklich schnell, aber Sie müssen einen Blick auf das Produkt werfen, unbedingt. Dann können wir eine der größten Werbekampagnen planen, die Sie je hatten. Sie werden begeistert sein, versprochen.“
Dessen war sich Kellermann nicht so sicher, aber er gab klein bei. „Okay, gehen Sie voran und zeigen Sie mir dieses geheimnisvolle Produkt. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun auch nicht an.“
Gemeinsam gingen sie zum Parkhaus und fuhren dort mit dem Fahrstuhl auf das oberste Parkdeck. Der Mann roch unangenehm nach Schweiß, was Kellermann dazu veranlasste, sich so weit wie möglich von ihm weg in eine Ecke des Fahrstuhls zu drücken. Endlich öffnete sich die Tür, und sein zukünftiger Klient eilte voraus. Kellermann folgte ihm langsam, um auch den Abstand zu ihm nicht zu klein werden zu lassen. Zielsicher steuerte der Mann auf einen kleinen Toyota zu, der neben einem dunklen Kleintransporter stand.
Was soll das denn? Wenn der so einen Kleinwagen fährt, wie will der dann die Werbekampagne bezahlen?
Kellermann begann zu befürchten, dass bei diesem Treffen nichts als verlorene Zeit herauskommen würde. Aber einen Blick auf das ominöse Produkt wollte er nun ja doch riskieren. Der Mann hatte gerade den Kofferraum aufgeschlossen und nach oben geklappt. Dann war er einen Schritt zur Seite getreten und wies mit einer Hand auf den geöffneten Kofferraum. „Voilà, sehen Sie und seien Sie beeindruckt!“
Kellermann steuerte auf den Wagen zu und blickte in den dunklen Kofferraum, dessen Beleuchtung offensichtlich kaputt war. Das passte zu dem überhaupt schäbigen Eindruck, den das Fahrzeug machte. Er trat näher heran, blickte hinein und sah ... nichts.
„Was ...?“, wollte er aufbegehren, als sich von hinten eine Hand mit einem Lappen auf seinen Mund presste. Der beißende Geruch nahm ihm den Atem, und als er erschrocken tief Luft holte, bemerkte er noch, wie ihm ganz schwummrig wurde. Im nächsten Moment gingen alle Lichter im Parkhaus aus ... und tiefe Dunkelheit umfing ihn.
***
Langsam kehrte sein Bewusstsein zurück, und die erste Sinnesempfindung, die er verspürte, waren die hämmernden Kopfschmerzen.
Was? Wo?
Er spürte eine schaukelnde Bewegung, und als er versuchte, sich irgendwo abzustützen, bemerkte er mit Entsetzen, dass seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren. Der plötzliche Adrenalinschub holte ihn gänzlich ins Hier und Jetzt und ließ ihn die Augen aufreißen, die mit einer klebrigen Substanz bedeckt zu sein schienen. Trotz der bohrenden Kopfschmerzen schüttelte er heftig den Kopf, und es gelang ihm tatsächlich, die zähe Flüssigkeit von seinen Augen wegzuschütteln. Was er erblickte, ließ ihn entsetzt aufschreien. Er hing kopfüber über einer Pfütze, und ein erschrockener Blick in Richtung seiner Füße offenbarte ihm gleich mehrere schockierende Dinge:
Seine Füße waren mit einer Art Kette zusammengebunden, die über einen Ring in der Decke an eine etwa einen Meter entfernte Wand führte.
Sein Blick blieb auch an seiner ehemals hellbeigen Designerhose hängen, bei welcher der Gürtel geöffnet war und die nicht mehr hell, sondern nun dunkelrot war – zumindest oberhalb seiner Oberschenkel in Richtung des Gürtels.
Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass sich sein Kopf etwa einen Meter über einer großen Pfütze befand. Ein süßlicher Geruch stieg von der Pfütze zu ihm auf, und es dauerte eine Weile, bis er ihn als Blutgeruch erkannte. Erst als ein Tropfen von seinem Kopf in die Pfütze tropfte und kurz darauf der nächste, dämmerte ihm, was die dunkle Verfärbung seiner ehemals hellen Hose zu bedeuten hatte.
Es war SEIN Blut, das da heruntertropfte, und die Pfütze war bereits riesig. Er spürte keine Schmerzen, aber der Verdacht war naheliegend, dass er aus einer Wunde am Oberschenkel blutete.
Was soll das? Warum hänge ich hier und blute? Was kann ich tun?
Seine lauten Hilferufe und sein heftiges Schütteln und Schaukeln blieben ohne jede Wirkung ... außer, dass sich die Frequenz der in die Pfütze fallenden Tropfen etwas erhöhte.
Er kam nicht umhin, von den stetig fallenden Tropfen so eingenommen zu werden, dass er begann, sie zu zählen. Auch die Frage, wie lange er diesen Blutverlust wohl würde überleben können, änderte nichts daran, dass er ohne Unterlass weiterzählte.
35 – 36 – 37 ...
Er merkte, wie ihm schummrig wurde und er sich immer schlechter konzentrieren konnte.
51 – 52 – – 53 – – – 54 – – – – 55 ...