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Kapitel 4

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Er saß nun seit über einer Stunde in der ersten Bank der Kirche und las. Vor ihm auf der Brüstung, wo üblicherweise die Gesangbücher abgelegt wurden, befand sich sein Notepad. Er sah sich im Internet alles an, was er über den katholischen Glauben, die katholische Kirche in Deutschland, über die spezielle Kirche, in der er gerade saß und über Regeln, Zeremonien, Abläufe, Zuständigkeiten, Aufgaben und die Hierarchie der katholischen Kirche im Allgemeinen finden konnte.

Gregor kam zugute, dass er zum einen sehr schnell lesen konnte und zum anderen über ein fotografisches Gedächtnis verfügte. Inzwischen wusste er schon eine Menge über die Zusammenhänge im Bistum Limburg, die Namen der Kirchenoberen, wie zum Beispiel den des Weihbischofs Dr. Elmar Gundelach, des apostolischen Administrators des Bistums. Auch über die Aufgaben eines Bischofs, der Pfarrer, eines Küsters und die Zuständigkeiten von Pfarrgemeinderat und anderen kirchlichen Einrichtungen hatte er bereits Unmengen von Informationen in sich aufgesaugt.

Nicht alles konnte er auf den ersten Blick nachvollziehen, aber er machte sich gedankliche Notizen, wo er über Querverbindungen zu einigen Themen noch recherchieren musste. Seine Quellen im Internet waren nicht nur Wikipedia und geschichtliche Lexika, sondern auch die Homepage des Bistums, aber auch Zeitungsartikel über Ereignisse von öffentlichem Interesse der letzten zwei Jahre.

In der Kirche war es inzwischen ruhig geworden und die Beamten des Spurensicherungsteams waren gerade dabei, alle ihre Utensilien wieder einzupacken.

Gregor las gerade einen Artikel über die Probleme der Kirche in den letzten Jahren aufgrund des Missbrauchs von Kindern, die sich in der Obhut der Kirche befanden, als er auf einen Tumult am Eingang aufmerksam wurde.

»SIE saache mir net, was ich hier derf oder net derf, dass des emal klar is, gell!«, hörte er eine aufdringliche Stimme polternd vom Eingang her tönen. »Wer hat dann hier es Saache? Ich will sofot ihrne Chef spreche.«

Seufzend schaltete Gregor seinen Notepad aus, erhob sich und ging langsam in Richtung der Aufregung. Der Verursacher war ein untersetzter, stämmiger Mann mit Halbglatze, einem strähnigen Haarkranz und einem pausbäckigen Gesicht mit rotgeäderten Wangen. Gregor schätzte ihn auf etwa Mitte Vierzig. Völlig unpassend zu seiner körperlichen Erscheinung und seinem Auftreten, war der offensichtlich maßgeschneiderte dreiteilige Anzug mit teurer Seidenkrawatte und passendem Einstecktuch im Anzug. Als Gregor nähertrat, blaffte ihn der Unbekannte an: »Habbe Sie hier was zu saache? Ich will sofot wisse, was hier los is.«

Gregor ging völlig unbewusst in den ›Sonja-Modus‹, wie es seine Kollegen bezeichneten. Da er nicht in der Lage war, mit Emotionen anderer in der richtigen Weise umzugehen, hatte seine Lebensgefährtin Sonja ihm beigebracht, welche Reaktionen in welchen Fällen zielführend waren und ihm die genauen, zur jeweiligen Situation passenden Worte vermittelt.

»Einen schönen guten Tag. Nett Sie kennenzulernen, Herr ...?«

Mit dieser Reaktion hatte der aggressive Aufrührer nicht gerechnet, denn er sah Gregor verdattert an und erwiderte in normaler Lautstärke: »Äh ... Gmünder ... Rudolf Gmünder ... ich bin de Vorsitzende vom Pfarrgemeinderat.«

Seine kurzfristige Verwirrung, die ihn etwas von seinem hohen Ross heruntergeholt hatte, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Sofort fand er wieder zu seiner cholerischen Art zurück. »Un wer sin Sie, wenn ich fraache derf?«

»Gregor Mandelbaum, Leiter der Mordkommission Frankfurt, angenehm.« Er streckte Gmünder die rechte Hand entgegen, die dieser aber geflissentlich übersah.

»Ich will jetzt sofot wisse, was hier los is! Ei, im Ort erzähle die sich ja die dollste Dinger.«

»Nun, als Vorsitzender des Pfarrgemeinderates haben Sie sicher das Recht zu erfahren, was hier passiert ist. Pfarrer Dr. Bock wurde ermordet. Zumindest liegt der Schluss nahe, da er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht selbst an die Kanzel genagelt hat.«

Gmünder sah ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. »Äh ... wie ... genachelt?«

Da Gregor seine Reaktion auf das Bild sehen wollte, packte er seinen Notepad aus der Tasche, rief die Tatortfotos auf und suchte eine Aufnahme heraus, auf der Pfarrer Bock noch mit der blutdurchtränkten Soutane an der Kanzel hing. Wortlos hielt er dem Fragesteller das Bild vor die Nase.

Der kniff die Augen zusammen und besah sich die Aufnahme aus nächster Nähe, sehr ruhig und ganz genau.

Ein von Gmünder selbst vermutlich nicht bemerktes Zucken des Mundwinkels, eine hochgezogene Augenbraue und die kurz gekräuselte Oberlippe verrieten Gregor die in diesem Moment in dem Mann vorherrschenden Emotionen: Verachtung, Schadenfreude und eine Portion Zufriedenheit.

»Aha, Sie haben ihn also nicht besonders gemocht«, stellte Gregor sachlich fest.

Gmünder sah ihn fassungslos an. »Wie bitte?«, brauste er auf, »Ei natürlich hab ich de Herr Pfarrer gemocht. Der war doch übberall beliebt.«

Auch ein weniger geübter Leser von Mimik hätte die offensichtliche Lüge erkannt, aber Gregor ließ die Aussage zunächst so stehen.

»Könnten Sie sich vorstellen, wer ihm so etwas hätte antun wollen?«

»Nee, nee, off keine Fall. Also ... mir sin eine sehr friedliche und zufriedene Gemeinde, gell.«

Gregor sah ihm überdeutlich an, dass er im Geist gerade die wohl umfangreiche Liste der Verdächtigen durchging. Und als wollte er seine Behauptung in seinem letzten Satz direkt Lügen strafen, ergänzte Gmünder ungefragt: »Da werd sich de Engel abber freue. Da isser ja dann fein raus.«

»Darf ich fragen, wie Sie das meinen?«

Gmünder tat, als müsse er sich überwinden weiter zu erzählen, obwohl ihm die Befriedigung deutlich im Gesicht stand. »Ja nu ... wisse Se ... de Engel, also, der wo unsere Küster is, der hat sich letzt Woch schwer mitem Pfarrer in die Haar gekrischt. De Herr Pfarrer hat en im Verdacht gehabt, dasser in die Kollekte gelangt hat, wenn Se wisse was ich mein.«

Gregor wusste, was er meinte. Ihm war inzwischen bekannt, dass es sich bei der Kollekte um das während der Messe gesammelte Geld der Besucher handelte.

Gmünder beugte sich näher an Gregor heran, als wolle er ihm etwas Geheimes berichten, das niemand mithören sollte. »Also wisse Se, mer soll ja nix Schlechtes über die Leut rede und über Dode schon grad garnet, aber die beide ... die habe sich bald gekloppt, so is de Herr Pfarrer ausgerast.«

Er nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf, als wolle er seine Aussage untermauern. »Also ich würd sowas ja niemand zutraue, aber der Engel ... na ja ... des is schon keine Gude.«

Gregor hatte für den Moment genug gehört. »Vielen Dank Herr Gmünder, ich werde das in unseren Ermittlungen beachten. Sollten wir noch Fragen haben, werden wir auf Sie zukommen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ den verdutzten Mann einfach stehen. Was er gerade gehört hatte, passte so gar nicht mit dem zusammen, was er in der letzten Stunde über den katholischen Glauben gelesen hatte: Vergebung, Mitgefühl, Menschlichkeit, Verständnis. Er fragte sich, wie das mit der Funktion eines Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates zusammenpasste.

Selbstverständlich war der grundsätzliche Inhalt der Beschuldigung gegen den Küster etwas, was man weiter betrachten musste. Er musste auf jeden Fall mehr über die beteiligten Personen erfahren. Ihre Vorgeschichte, ihre Verhältnisse und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die er immer so schwer verstehen konnte. Aber wie immer würde sein Team ihn dabei unterstützen.

Frankfurter Kreuzigung

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