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Kapitel 9

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Unabhängigkeit war etwas anderes als Einsamkeit. Sie hatte sich stets als unabhängige, freie Frau gefühlt, die im Beruf erfolgreich war und niemanden brauchte. Man konnte über Jutta Beltermann sagen, was man wollte, aber das hatte sie erreicht. Wie es ihr allerdings mit dieser Unabhängigkeit in ihrem Innersten ging, wusste niemand.

Nun ja, vielleicht Gregor - nein, mit absoluter Gewissheit Gregor, denn er wusste eigentlich alles, was in den Köpfen seiner Mitarbeiter vorging, dachte sie bei sich. Sie stellte sich vor, dass ihm bewusst war, wie einsam sie war. Gut, sie stürzte sich in die Arbeit, kannte keinen Feierabend oder den Anspruch auf freie Wochenenden. Immer wenn ein Freiwilliger für Sonderschichten oder arbeitsintensive Arbeiten gesucht wurden, war sie ›erste Frau an Bord‹.

Aber irgendwann war sie dann eben doch wieder zu Hause, und dann sprang sie sie an, wie ein ausgehungerter Panter - die Einsamkeit. Jutta, die langsam anfing, den Spitznamen Mutti nicht mehr zu mögen, hatte im letzten Jahr miterlebt, wie Sonja und Gregor zusammengefunden hatten. Ein halbes Jahr später hatten Jenny und Irina ihre Beziehung begonnen und sie schienen bisher recht glücklich zu sein. Sie gönnte beiden Paaren ihr Glück und war nicht neidisch im negativen Sinne. Beneiden war etwas anderes und das tat sie auf jeden Fall. Das gleiche Glück hätte sie sich gerne auch für sich selbst gewünscht.

Mit einundvierzig Jahren hatte sie den Gedanken an Kinder eh schon zu den Akten gelegt, wobei ihr ja auch schon die Voraussetzung eines Partners fehlte. Gut, dachte sie zum wiederholten Mal, man kann auch ohne festen Partner ein Kind bekommen, aber will ich das? In den Zeiten der Einsamkeit stellte sie sich manchmal vor, dass ein Kind die Erfüllung wäre und das Alleinsein erträglicher gestalten könnte. Dann aber setzte sich ihr Realitätssinn durch, und ihr wurde klar, dass ein Kind keinen Partner ersetzen konnte oder sollte.

Aber wie komme ich an einen Partner? Bin ich nicht schon zu lange allein und auf mich selbst gestellt, als dass ich mich noch den Herausforderungen und Problemen einer Partnerschaft stellen könnte? Habe ich überhaupt Zeit für eine Beziehung?

All diese Fragen wälzte sie endlos in ihren Gedanken hin und her. Manchmal verneinte sie jede der beiden Fragen kategorisch, ein anderes Mal dachte sie über Strategien nach. Einmal hatte sie einem wohlmeinenden Rat folgend eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio begonnen, um dort jemanden kennenzulernen, der nichts mit ihrem Beruf zu tun hatte. Leider hatte sie sehr schnell feststellen müssen, dass dort vier Kategorien von Männern vertreten waren: Erstens, die Männer, die äußerlich überhaupt nicht ihren Vorstellungen entsprachen und nur dorthin kamen, um abzunehmen oder nicht vorhandene Muskeln aufzubauen. Zweitens, diejenigen, die ihr zwar gefielen, aber leider eben schon vergeben waren. Drittens, die Männer, die zwar vergeben waren, aber trotzdem auf einen One-Night-Stand aus waren. Viertens, die nicht unerhebliche Anzahl der selbstverliebten Schönlinge, die nur vor dem Spiegel posierten und mit Sicherheit nichts anderes wollten, als bewundert zu werden.

Das Fitnessstudio hatte sich als vorteilhaft für ihre Figur erwiesen, insofern bereute sie es nicht, sich angemeldet zu haben. Was das Kennenlernen eines netten Mannes anging, hatte es sich aber als absoluter Flop dargestellt. Sie war auch nicht der Typ, der alleine in ein Lokal oder ein Bar ging, zumal sie bezweifelte, dass sie dort die richtige Sorte Mann kennenlernen konnte. Es mangelte ihr auch an Freundinnen, mit denen sie zusammen etwas hätte unternehmen können.

Alles in allem eine ziemlich verfahrene Situation, aus der sie keinen wirklichen Ausweg sah.

Sie schenkte sich ihr allabendliches Glas Rotwein ein, das sie als Schlummertrunk zu sich nahm und dabei stets darauf bedacht war, es auf keinen Fall zu einem zweiten Glas kommen zu lassen. Es wäre die Realisierung ihres größten Albtraums gewesen, als einsame Alkoholikerin zu enden, die ihren Kummer jeden Abend ersäufte. Nachdem sie zu Bett gegangen war, versuchte sie, ihre Gedanken auf ein anderes Thema zu bringen - auf die Arbeit und den bevorstehenden Tag.

Frankfurter Kreuzigung

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