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Kapitel 5

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Als sich die Tür zum Sektionssaal II des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Frankfurt mit einem leisen Zischen öffnete, fuhr Sonja erschrocken auf und drehte sich hastig um.

Seit den Ereignissen im vergangenen Winter, als sich ihr Chef, Professor Bücking, als sehr, sehr kranker Mann herausgestellt hatte, der mehrere unschuldige Frauen getötet hatte, war es ihr noch nicht gelungen, wieder zu ihrem alten, selbstsicheren Ich zurückzufinden. Sie war entführt worden und hatte einen schweren Autounfall mit einigen Verletzungen überlebt. Die Knochenbrüche waren inzwischen ohne Spuren verheilt, aber ihre Selbstsicherheit und ihr unerschütterlicher Optimismus waren noch nicht vollständig wiederhergestellt.

Ihre Verkrampfung löste sich schnell, als sie die unverkennbare Gestalt von Gregor in der Tür sah. Erst jetzt merkte sie, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, die sie nun mit einem erleichterten Stoß wieder ausatmete.

Gregor näherte sich ihr mit elastischen, federnden Schritten. Trotz seiner Körpergröße von 1,90 und seiner hageren Gestalt, hatte er die Beweglichkeit eines trainierten Sportlers. Noch immer hatte er einen Hang zu dunklen Kleidungsstücken, die er aber inzwischen mit weißen Hemden und, wenn erforderlich, dezent gestreiften Krawatten kombinierte, was eine wesentliche Verbesserung zu früher darstellte, als sie ihn kennengelernt hatte. Zu dieser Zeit, vor nun mehr als anderthalb Jahren, hatte er ausschließlich schwarze Klamotten getragen, was ihm im Zusammenhang mit seiner Gestalt den Spitznamen ›der Bestatter‹ eingetragen hatte. Dass er inzwischen meist nur noch ein schwarzes Kleidungsstück trug, dies aber kombiniert mit etwas anderem, farbenfroherem, war überwiegend ihr Verdienst.

Gregor hatte seine Arme um ihre Taille geschlungen und sie kurz an sich gedrückt. »Hallo Schatz, wie geht es dir?«

Selbstverständlich hatte er ihr das kurzfristige Unwohlsein und die nun verblassende Unsicherheit angesehen, und natürlich auch die Erleichterung, dass er es war, der so überraschend in den Raum gekommen war. Sonja wusste, dass er in ihrer Mimik und Körpersprache lesen konnte, wie in einem offenen Buch.

Sie brauchte vor ihm keine Geheimnisse zu haben, er las ihr sowieso jede Emotion direkt vom Gesicht ab. »Ich erschrecke immer noch, wenn sich überraschend die Tür zum Sektionsraum öffnet. Aber ich meine, es wird langsam ein wenig besser.«

Gregor kommentierte dies nicht, denn Allgemeinplätze wie »das wird schon wieder« oder »die Zeit heilt alle Wunden«, waren von ihm nicht zu erwarten. Stattdessen lenkte er das Thema auf den Grund seines Besuchs. »Hast du schon mit der Obduktion unseres Opfers begonnen?«

»Ja, aber ich habe erst die äußere Leichenschau vorgenommen und die erforderlichen Fotografien erstellt. Ich wollte jetzt mit der genaueren Untersuchung der Wunden beginnen.«

Gut. Dann bin ich ja zur richtigen Zeit gekommen.«

Sonja sah ihn fragend an. »Bist du sicher, dass du dir das antun willst? Die Verletzungen sind wirklich grauenhaft.«

Sie bemerkte noch im gleichen Augenblick, was für eine dumme Frage das war. Gregor war aufgrund seiner Prädisposition niemand, den eine grauenerregende Verletzung in irgendeiner Weise abschrecken konnte. Er empfand weder Ekel noch Abscheu. Jeder normale Mann hätte angesichts der Verletzung die Vorstellung durchlebt, wie das wohl wäre, wenn ihm selbst so etwas passierte.

Gregor hingegen würde sich die rein logischen Konsequenzen überlegen, wie: Kann man eine solche Verletzung überleben? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Was müsste man unmittelbar tun, wenn man noch dazu in der Lage wäre?

Noch bevor Gregor sein Befremden über die unlogische Frage zum Ausdruck bringen konnte, setzte sie sofort nach: »Entschuldige, blöde Frage, ich müsste ja wissen, dass dir sowas nichts ausmacht.«

Dennoch ereilte sie die Quittung für ihr eigentlich normales Verhalten sofort.

»Wieso entschuldigst du dich für die Frage? Ich hätte sie dir auch einfach mit JA beantwortet. Natürlich bin ich mir sicher, dass ich das sehen will. Ich muss so viel wie möglich über Zeitpunkt der Verletzung, Entstehungsweise, mögliche Werkzeuge und die unmittelbaren Folgen erfahren, wie ich kann, damit ich daraus ableitbare Rückschlüsse auf einen möglichen Täter ziehen kann.«

Selbst nach über einem Jahr Dauer ihrer Partnerschaft konnte Sonja sich einfach nicht daran gewöhnen, mit Gregor anders zu reden, als mit jedem anderen Menschen, den sie kannte. Die üblichen Floskeln, Redewendungen, rhetorischen Fragen und unnötige – weil unlogische – Erläuterungen waren einfach so tief verwurzelt, dass sie immer wieder vergaß, sie bei Unterhaltungen mit Gregor einfach wegzulassen.

»Okay«, wechselte sie das Thema, »kümmern wir uns um die Leiche und was ich dir bisher dazu sagen kann.« Sie zog das über dem Körper liegende Tuch mit einem Ruck beiseite und gewährte dadurch Gregor den vollständigen Blick auf den Toten. Der Körper war nun entkleidet, und Sonja hatte ihn bereits gewaschen. Dadurch waren die Verletzungen überdeutlich zu sehen und nicht mehr durch Blutreste überdeckt. Es war kein schöner Anblick und Sonja bemerkte, dass sogar Gregor ein wenig überrascht war, aber vermutlich mehr von der Grausamkeit der Verstümmelung, als von der speziellen Region, in der sie stattgefunden hatte. Der Blick wurde automatisch auf den inzwischen gesäuberten Genitalbereich gelenkt, den man allerdings nicht mehr als solchen bezeichnen konnte. Als sie sah, dass Gregor die Region nun aufmerksam und mit zusammengezogenen Brauen betrachtet, begann sie automatisch mit ihren Erläuterungen.

»Ich kann jetzt schon sagen, dass die Verletzung durch ein sehr scharfes Schneidwerkzeug herbeigeführt wurde, allerdings absolut unfachmännisch. Wie man an den Schnittkanten erkennen kann, wurde mit einem längeren Messer oberhalb des Schambeins eingestochen und dann ...«, sie überlegte einen Moment, »... ich würde es mal umgangssprachlich als ›rumgesäbelt‹ bezeichnen wollen. Der Täter oder die Täterin hat danach im Uhrzeigersinn um den Penis und den Hodensack herumgeschnitten.« Sie suchte nach einem passenden Vergleich. »Man könnte es mit dem trichterförmigen Herausschneiden eines Geschwürs vergleichen. Es ist auf jeden Fall eine sehr ungewöhnliche Art der Entmannung, die ich so auch in der Literatur noch nie gesehen habe.«

Gregor hatte den Blick von der Wunde, die einem Loch im Unterkörper glich, abgewandt und sah sie fragend an. »War diese Verletzung die Todesursache?«

Sonja zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Er ist auf jeden Fall verblutet. Wenn dir das als Todesursache reicht, kann ich es sicher bestätigen. Dabei muss man aber Folgendes beachten: Ersten - zum Verbluten hätte auch alleine die Abtrennung des Penis bei nicht stattfindender Versorgung der Wunde gereicht. Es hätte etwas länger gedauert, aber er wäre ebenfalls auf jeden Fall verblutet. Zweitens - beim Heraustrennen des gesamten Genitalbereichs wurde zusätzlich die ›arteria femoralis‹, also die Oberschenkelarterie verletzt, wobei man nicht feststellen kann, ob das durch Zufall oder absichtlich geschah. Das hat zu einer wesentlich stärkeren Blutung geführt, die das Verbluten so stark beschleunigt hat, dass er nach meiner Schätzung eine Minute nach dieser Verletzung tot war.«

»Wie viel Liter Blut muss man verlieren, bis der Tod eintritt, oder besser gefragt, wie schnell verblutet man?«

»Nun, das ist unterschiedlich und hängt von zahlreichen Faktoren ab. Lass mich ein wenig ausholen. Der Mensch verfügt über 70 - 80 Milliliter Blut pro Kilogramm Körpergewicht. Unser Opfer war kein Leichtgewicht, sondern wog bei einer Körpergröße von einem Meter und achtzig über 105 Kilogramm. Also dürfte er über etwa siebeneinhalb Liter verfügt haben, grob gerechnet. Ab einem Blutverlust von mehr als zwei Litern müsste eine Bewusstlosigkeit eintreten. Das menschliche Herz pumpt im Ruhezustand vier bis fünf Liter pro Minute, was bedeutet, dass er bei dieser Art der Verletzung nach spätestens dreißig Sekunden bewusstlos hätte sein müssen.«

»Mit Ruhezustand meinst du einen normalen Puls?«, stellte Gregor die naheliegende Zwischenfrage.

»Ja genau«, bestätigte Sonja, »und bevor du fragst, bei sportlichen Höchstleistungen oder großer Aufregung und dadurch erhöhtem Puls, kann sich dieser Wert natürlich vervielfachen. Dabei sind wir aber direkt beim nächsten Faktor, den ich derzeit noch gar nicht bewerten kann. Die toxikologische Untersuchung dauert noch an, weshalb noch nicht klar ist, ob der Mann sediert, gänzlich narkotisiert, oder aus anderen Gründen bewusstlos war, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden. Davon ist aber abhängig, wie schnell das Herz zu diesem Zeitpunkt schlug, und davon, ...«

»... wie schnell das Blut durch den Kreislauf gepumpt wurde«, ergänzte Gregor ihre Ausführungen und nickte dabei. »Ich verstehe.« Er überlegte einen Moment. »Aber wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass er innerhalb längstens einer halben Minute tot war, unter bestimmten Umständen vielleicht noch früher. Aber das spielt eigentlich nicht die entscheidende Rolle. Ein anderer Punkt interessiert mich noch: Du hast erwähnt, dass es sich nach deinem Kenntnisstand um eine eher ungewöhnliche Art der Entmannung handelt. Wie sähe denn die gewöhnliche Art aus?«

Sonja atmete schwer ein und aus. Sie musste sich selbst gegenüber eingestehen, dass es sich hier um ein Thema handelte, über das sie eher ungern referierte.

Aber wenigstens müssen wir nicht beim Abendessen darüber sprechen, dachte sie erleichtert.

Sie war als Rechtsmedizinerin schon einiges gewöhnt und grundsätzlich nicht leicht zu beeindrucken. Aber dieses spezielle Thema mit einem Mann - nein, ausgerechnet mit ihrem Mann zu besprechen, machte sie dann doch ein wenig befangen. Erst als sie sich in Erinnerung rief, dass Gregor an dem Thema weder etwas Anzügliches noch Befremdliches finden konnte, da er alle ihre Äußerung mit fast kalter Logik und ohne jegliche Hintergedanken betrachten würde, fiel es ihr leichter, darüber zu reden. »Es gibt verschiedene Arten der Entmannung oder auch Kastration. Zum einen das Entfernen der Hoden, dann das Entfernen des Penis und letztendlich beides zusammen. Wird das als Verstümmelung von einem Laien und nicht aus medizinischen Gründen von einem Arzt durchgeführt, wäre die normale - wenn man so was überhaupt als normal bezeichnen kann - Methode, dass man das zu entfernende Teil vom Körper wegzieht und dann mit einem scharfen Werkzeug von unten nach oben oder umgekehrt abschneidet.«

Die meisten Männer hätten an dieser Stelle ihrer Ausführungen wohl ein schmerzverzerrtes Gesicht gemacht. Sie hätten sich zusammengekrümmt, und alleine die Vorstellung, ihr bestes Teil auf eine so schreckliche Weise zu verlieren, hätten ihnen den Schweiß auf die Stirn getrieben. Gregor hingegen dachte völlig anders. Er schien eine Weile völlig entrückt in sich hineinzuhorchen, bis er schließlich feststellte: »Es könnte also durchaus eine Möglichkeit sein, dass der Täter oder die Täterin den Penis unseres Opfers nicht berühren wollte.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Allerdings eine, die Sonja so nicht in den Sinn gekommen wäre. »Ja, tatsächlich, das könnte diese seltsame Art der Herbeiführung der Verletzung erklären.«

»Was kannst du mir sonst noch an Informationen liefern, solange der toxikologische Befund noch nicht vorliegt?«

»Nun ja, wie man’s nimmt. Es gibt da noch etwas, was dir aber sicherlich selbst schon beim Studium der Tatortfotos aufgefallen sein dürfte.«

»Was meinst du?« Gregor wusste offenbar noch nicht, worauf sie hinauswollte.

»Die Art, wie er an die Kanzel genagelt wurde. Dir ist doch sicherlich aufgefallen, dass sie nicht der üblichen Darstellung von Jesus am Kreuz entspricht, oder?«

Gregor hatte die Stirn gerunzelt. »Selbstverständlich, aber ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.«

Sonja vermutete, dass ihre Feststellungen am Leichnam für Gregor so selbstverständlich und logisch waren, dass er ihre Bedeutung nicht erfassen konnte.

»Du hast es vermutlich schon am Tatort gesehen, aber als ich ankam, war der Leichnam schon abgenommen. Also konnte ich erst bei der Leichenschau sehen, dass unser Opfer nicht mit durch die Hände getriebenen Nägeln an die Kanzel geschlagen war, wie das normalerweise in der christlichen Kirche dargestellt wird. Das ist aber geschichtlich absolut falsch. Stattdessen waren Nägel durch seine Handwurzeln oberhalb des Handgelenkes zwischen Elle und Speiche, sowie nochmals durch den Oberarm geschlagen worden.«

»Das ist leicht erklärbar, da die geschichtlich inkorrekte Darstellung einer Nagelung durch die Handfläche das Körpergewicht eines Mannes niemals ausgehalten hätte. Zumal bei der Kanzel keine Möglichkeit bestand, auch noch durch die Fußgelenke zu nageln, weil die Füße über den unteren Rand hinaushingen.«

»Genau«, beeilte Sonja sich, weiter zu erklären, »aber es gab keine Spuren, dass der Täter zuerst fälschlicherweise versucht hätte, die Nägel durch die Handfläche zu treiben.«

Sie ließ ihm eine Sekunde Zeit und sah auch direkt das Verstehen in seinem Gesichtsausdruck.

»Aber natürlich, daraus lassen sich Rückschlüsse auf den Täter ziehen. Entweder er hat eine anatomische oder medizinische Ausbildung, oder er ist geschichtlich so weit informiert, dass er deshalb weiß, wie eine Hinrichtung durch Kreuzigung mit Nägeln tatsächlich in der Antike abgelaufen ist. Ich habe einfach vorausgesetzt, dass jeder ...«

»... soviel weiß wie du, was natürlich nicht der Fall ist«, beschloss Sonja seine Schlussfolgerungen, wobei sie sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte.

Gregor schien es nicht zu beachten oder aber nicht deuten zu wollen. »Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Dabei gibt es allerdings noch einen Punkt, der mir bisher nicht ganz klar ist. Ist es überhaupt möglich, dass ein Mensch alleine das zustande bringt? Ich erinnere mich an die Probleme beim Abhängen des Leichnams. Wie viel Leute mögen erforderlich gewesen sein, um den Mann dort zu platzieren?«

»Da wiederum kann ich dir weiterhelfen«, verkündete Sonja nicht ohne Stolz. »Ich habe unmissverständliche Spuren dafür gefunden, dass vor seinem Tod ein Seil um seine Brust gespannt gewesen sein muss, das unter seinen Achseln nach hinten-oben führte. An diesem Seil muss er nach den Abdrücken in der Haut hochgezogen worden sein und dort gehangen haben, bis die Nägel in Unter- und Oberarmen eingeschlagen waren. Die Spurensicherung müsste mit höchster Sicherheit Spuren dieses Seiles am oberen Rand der Kanzel gefunden haben.«

»Das bedeutet, dass es sich doch ohne Weiteres um einen Einzeltäter oder -täterin gehandelt haben kann.«

Sonja nickte zustimmend. »So sehe ich das auch.«

Gregor sah sie mit einem Blick an, der ihr Bewunderung oder zumindest Anerkennung signalisierte, soweit er zu solchen Gefühlen überhaupt fähig war.

Er drückte sie kurz an sich und gab ihr einen leichten Kuss. »Danke, du hast mir sehr weitergeholfen.« Dann drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Sonja seufzte. Sie blickte dem vor ihr auf dem Tisch liegenden Leichnam ins Gesicht und zog einen Mundwinkel nach oben. Dann sprach sie den Toten an, als könne er sie hören: »Tja, so ist er nun mal. Damit werde ich wohl leben müssen.«

Frankfurter Kreuzigung

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