Читать книгу Johann Heinrich Pestalozzi "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" - Dieter-Jürgen Löwisch - Страница 25

Religion

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Das kühnste Wagstück deiner Natur, o unbegreiflicher Mensch, die Erhebung deines Ahndungsvermögens über die Grenzen alles hier möglichen Forschens und Wissens – auch dieses ist in seinem Ursprung ein Kind deiner tierischen Neigung zur Behaglichkeit.

Kronen und Szepter, den Göttern gleich werden, sitzen auf Thronen, weder hungern noch dürsten, weder Frost noch Hitze dulden, mit erwünschten Leuten schmausen, alle diese Bilder zeigen, daß sie aus dem Hirn deiner nach Harmlosigkeit schmachtenden Natur entsprungen sind.

Aber sei mir auch in aller Schwäche deines Ursprungs, sei mir auch im Lallen deiner kindlichen Selbstsucht ehrwürdig, göttliche, weit angebetete Mutter meines Geschlechts.

Wenn ich dich in der Hülle deines Entstehens für tierisch erkläre, so setze ich das Ziel deiner Vollendung gar nicht in die Grenzen der Hülle deines Entstehens.

Ich achte das Innere deines Wesens für göttlich wie das innere Wesen meiner Natur; aber wie dieses in meinem tierischen Leib ruhet und aus dem Moder seines Todes entkeimt, so entkeimst und wallest auch du in meinem tierischen Leib und in dem Moder seines Todes.

Wenn der Mensch einen Baum oder eine Blume pflanzet, so gräbt er die Erde um, er legt Mist an die Wurzeln und deckt sie wieder mit Erde. Was tut er mit allem diesem für das innere Wesen des Baums und der Blume? Der Stoff, durch den sich jeder Keim entwickelt, ist in der ganzen Natur unendlich geringer an Wert als der Keim selber.

Darum seid meine Richter, ihr freundlich Guten, die ihr in der Weihe des himmlischen Funkens göttlicher lebt als unser Geschlecht. Seid meine Richter, verdunkle ich damit der Sonne Licht, wenn ich sage, alle Wärme der Erde entkeimt aus dem Boden dieser Erde; oder wenn ich sage, der Säugling müsse nach tierischen Gesetzen entwöhnt werden, behaupte ich damit, es gebe gar kein sittliches Gesetz in meiner Natur?

Nenne es Abtötung, nenne es Wiedergeburt, dieses kühne Wagstück deiner Natur, diesen salto mortale außer dich selbst, in sofern du nur sinnliche Natur bist.

Es ist die höchste Anstrengung deines ganzen Wesens, den Geist herrschen zu machen über das Fleisch, eine in meiner Natur lebende bessere Kraft, die selbst mein tierisches Wesen entflammt gegen mich selbst und meine Hand aufhebt zu einem unbegreiflichen Kampf.

Der Mensch findet in seiner Natur keine Beruhigung, bis er das Recht seiner tierischen Sinnlichkeit in sich selbst verdammt hat gegen sich selbst und gegen sein ganzes Geschlecht. Aber er scheint die Kraft nicht zu besitzen, diesem Bedürfnis seines Wesens ein Gnüge zu leisten. Die ganze Macht seiner ganzen tierischen Natur sträubt sich gegen diesen ihr so schrecklichen Schritt. Aber er setzt die Kraft seines Willens der Macht seiner Natur entgegen.

Er will einen Gott fürchten, damit er Recht tun könne; er will einen Gott fürchten, damit der Tiersinn seiner Natur, den er an sich selber verachtet, ihn nicht länger in seinem Innersten entwürdige. Er fühlt, was er in dieser Rücksicht kann, und macht sich nun das, was er kann, zum Gesetz dessen, was er soll. Diesem Gesetz, das er sich selber gibt, unterworfen, unterscheidet er sich von allen Wesen, die wir kennen.

Ihm allein mangelt die Schuldlosigkeit des Instinkts, durch dessen Genuß das Vieh beruhiget auf dem Punkt bleibt, den dieser ihm anweist. Er allein vermag es nicht, auf diesem Punkt stehen zu bleiben, er muß sich entweder über denselben erheben oder unter denselben versinken. Er hat eine Kraft, getrennt vom Instinkt, Überlegung und Gedanken in sich selbst wollen zu lassen, auch gegen den Instinkt.

Er hat eine Kraft, in sich selbst den Gedanken herrschen zu lassen über den Instinkt. Er kann aber im Gebrauch dieser Kraft von dem gedoppelten Gesichtspunkt, entweder dessen, was er soll, oder dessen, was er gelüstet, ausgehen.

Wenn er im Gebrauch derselben von dem letzten ausgeht, so führt sie ihn dahin, ohne alle Aufmerksamkeit auf den Trug und das Unrecht seiner tierischen Natur zu handeln, sie führt ihn auf die Höhe des Tempels, zeigt ihm alle Reiche der Welt und lispelt ihm zu, das alles ist dein, wenn du nur willst.

Dann lebt der Mensch im Glauben an das Wort seiner tierischen Selbstsucht, unter seinem Geschlecht ein Verderber. Sein Auge glühet gegen den Mann, der sein will, was er ist, auf seiner Lippe ist Hohn gegen die Wahrheit und gegen das Recht seines Geschlechts, er liebt die Trägheit, die Gewalttätigkeit, die Galeeren, die Monopole, die Schikane, den Eigensinn und die gesellschaftliche Kraft des Eigensinns, die willkürliche Gewalt. – Wenn er aber im Gebrauch dieser Kraft von dem ausgeht, was er soll, so führt sie ihn zu einer Gemütsstimmung, in der der Trug und das Unrecht, die Trägheit, die Gewalttätigkeit, die Galeeren, die Schikane, die Monopole, der Eigensinn und die willkürliche Gewalt von ihm verachtet werden, in der er tief fühlend, mit der ganzen Fülle seines Wesens strebend nach dem Besten, Edelsten, das er zu erkennen vermag, nur innere Vollkommenheit sucht und nichts anders.

Und es ist in der Weihe dieses Strebens, daß er seine Traumkraft über die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung erhebe, damit er finde das Bild eines Gottes, das ihm Kraft gebe gegen den Tiersinn seiner Natur. Sollte der Mensch dieses nicht tun, sollte er die Handbietung seiner sinnlichen Natur, sollte er sein Ahndungsvermögen über die Grenzen alles hier möglichen Wissens nicht benutzen? Sollte er der Wahrheit um der Wahrheit und dem Recht um des Rechts willen getreu sein? Fordre das nicht von ihm, bis ers kann, und denke nicht, daß ers könne, so lange er ein Tier ist, und eben so wenig, daß er anders als tierisch dahin gebracht werden könne, ein Mensch sein zu wollen.

Störe also das Werk deiner Natur, die tierische Einlenkung in das Gebiet der Sittlichkeit, nicht durch die Anmaßungen deines Tiersinns selber. Hätte der Mensch die sinnliche tierische Ahndung einer Hoffnung über das Grab nicht, so wäre Recht und Wahrheit von der Erde verbannt, es würde sichs dem tierischen Menschen um der Seifenblase einer nichtigen Meinung willen nicht lohnen, sich aus Wahrheit und Recht, wie er solche in diesem Zustand zu erkennen vermöchte, vieles zu machen.

Ohne der Gottesfurcht sinnliche Handbietung ist Wahrheit und Recht meinem Geschlecht nur Täuschung und Schein.

Entwürdige ich damit das Heiligtum meiner Natur? Ich meine nein! Wie bei der Treue und dem frommen Gehorsam die Früchte der Gottesfurcht nicht mehr am Stamm, dem sie entkeimen, angeheftet bleiben; Engel tragen sie dann in heiligen Händen.

Alles Äußere der Religion ist innigst mit meiner tierischen Natur verwoben.

Ihr Wesen allein ist göttlich.

Ihr Äußeres ist nur gottesdienstlich.

Ihr Wesen aber ist nichts anders als das innere Urteil meiner selbst von der Wahrheit und dem Wesen meiner selbst. Es ist nichts anders als der göttliche Funken meiner Natur und meiner Kraft, mich selbst in mir selbst zu richten, zu verdammen und loszusprechen.

Das Äußere der Religion ist jede in die Sinne fallende Wartung und Pflege dieses Funkens.

Die Wahrheit der Religion ist die Übereinstimmung dieser Wartung mit ihrem Wesen.

Offenbarung: jede Führung zu irgend einer Wartung dieses Funkens, die sich meiner Vorstellungskraft als von höhern Wesen herrührend dargetan hat.

Glaube: eine auf reiner Neigung zu innerer Vervollkommnung ruhende Vorliebe für die Wahrheit von Geschichten, Meinungen und Lebensregeln, die sich meiner Vorstellungskraft als von höhern Wesen herrührend dargetan haben.

Andacht: jede an solche Geschichten, Meinungen, Lebensregeln angekettete Erhebung meiner Seele, die zum Zweck hat, den Reiz meiner tierischen Sinnlichkeit durch die Kraft dieser Vorstellungen zu schwächen.

Alle äußeren Folgen der Erhebung meiner Traumkraft über ihre tierischen Grenzen, Gebet, Andacht, Glauben usw. sind an sich nicht göttlich, sondern nur gottesdienstlich und vermöge ihres Ursprungs mit sinnlichen Vorstellungen und tierischen Begierden innigst verwoben, also in ihrem Wesen allgemeine Nahrung meines tierischen Sinns und aller Verirrungen, zu welchen dieser Sinn uns alle hinführt. Deswegen auch die Erfahrungen aller Zeiten und aller Weltteile laut sagen, die Religionen geben dem Menschengeschlecht allgemein die verschobene Richtung, daß ihre Wirkungen wie die Wirkungen des Eigentums, der Macht und der Ehre in den Jahrbüchern der Welt fast immer nur als schaudernde Denkmäler unsers kalten, selbstsüchtigen und blutdürstigen Tiersinns und aller List, alles Betrugs und aller Windbeutelei derselben zum Vorschein kommen.

Es ist nichts anders möglich, wo immer dein Geist, ehe er vom innern Wesen der Religion geheiligt ist, an irgend einem Bild deiner Traumkraft verweilet, da findest du im Bild deines Gottes das Bild deiner selbst.

Bist du dann dumm, dein Gott lohnt die Dummheit mit dem ewigen Leben und den Menschenverstand mit der ewigen Verdammnis.

Bist du ein Tyrann, dein Gott kennt keine Tugend als Untertänigkeit, und seine Engel bücken sich vor seinem Thron wie deine Sklaven vor dir.

Bist du gefräßig, du legest die Fette der Stiere auf den Altar deines Gottes, und deine Knechte machen das Recht deines Bratens zur ††† des Menschengeschlechts.

Verschobener Menschenverstand macht sich dann zum Lehrer des Volks:

Es ist diesem dann nicht genug, daß man bloß unwissend sei:

Bloße Unwissenheit läßt dem Menschensinn noch Spielraum.

Es erfordert dann Hörsäle, Akademien, Edikte, Seminare und militärische Gewalt, den verworfenen Menschenverstand gehörig, sicher und allgemein zu verschieben.

Die Guillotine des Wahns wird dann notwendig, Menschenfresser braten dir dann dein Herz und skalpieren dir deinen innern Schädel.

Beklage dich nicht, ohne das könnte die Macht die Welt nicht mit den Priestern teilen, und dein König könnte nicht an einen Gott glauben, der die Wahrheit so schwachköpfig fürchtet und das Recht so starrköpfig hasset wie er.

Ohne das würde die Menschheit ihr größtes Verderben nicht auf den Thronen vergöttern und den vergötterten Elenden noch edler und reiner finden als seinen obersten Priester, dessen Vestalin dem Schönsten aller Schönen an einem schmutzigen Kreuz liebäugelt, und dessen Mönche die ersten Grundsätze des gesellschaftlichen Rechts für Verbrechen der beleidigten Majestät erklären.

Johann Heinrich Pestalozzi

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