Читать книгу Johann Heinrich Pestalozzi "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" - Dieter-Jürgen Löwisch - Страница 6

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Zuschrift

an

einen edlen Mann,

den ich aus Ehrfurcht nicht nenne,

der es aber zu fühlen vermag, daß ich Ihn, nur

Ihn im Auge hatte.

Herr!

Zwei Männer in einem Lande suchten Wahrheit fürs Volk. –

Der eine, hochgeboren, durchwachte seine Nächte und opferte seine Tage, dem Lande, in dem er herrschte, Gutes zu tun. –

Er erreichte sein Ziel. –

Sein Land war durch seine Weisheit gesegnet. –

Lob und Ehre krönten sein Haupt. –

Seine Edlen trauten auf ihn. –

Und das Volk gehorchte ihm schweigend. –

Der andere, ein Müdling1, erreichte sein Ziel nicht, jede seiner Bemühungen scheiterte. –

Er diente seinem Lande nicht. –

Unglück, Leiden und Irrtum bogen sein Haupt, sie entrissen seiner Wahrheit jede Kraft und seinem Dasein jeden Einfluß. –

Die Edlen im Land kennen ihn nicht, und das Volk spottet seiner. –

Welcher von beiden, meinst du, Herr, hat die Wahrheit fürs Volk wirklich gefunden?

Die Welt wird augenblicklich antworten:

Der Müdling ist ein Träumer, und die Wahrheit ist auf der Seite des Hochgebornen. –

Aber dieser urteilte nicht also. –

Da er von dem unabläßlichen Forschen des Müdlings nach der Wahrheit fürs Volk hörte, ging er in seine Hütte und fragte ihn: was hast du gesehen?

Da erzählte dieser dem Edlen den Gang seines Lebens, und der Edle entwickelte jenem den Zustand vieler Verhältnisse, die dieser nicht kannte. –

Der Müdling ließ dem Edlen Gerechtigkeit widerfahren, und der Edle gönnte den Erfahrungen des Müdlings seine Aufmerksamkeit. –

Stiller Ernst war auf der Stirne von beiden, als sie schieden, und auf beider Lippen lagen die Worte:

Wir meinten es beide gut. –

Und wir irrten beide. –

Die Widersprüche, die in der menschlichen Natur zu liegen scheinen, wirkten vielleicht auf wenige Sterbliche so gewaltsam als auf einen Menschen, dessen Lage und Umstände auf eine seltene Art zusammen trafen, die Gefühle eines zwanglosen und ungebogenen Naturlebens mitten durch eine nicht anspruchslose, aber äußerst gehemmte – und in einem hohen Grad unbefriedigende Tätigkeit bis an sein nahendes Alter lebhaft zu erhalten.

Jetzt sitze ich endend und ermüdend nieder und freue mich, wiewohl gekränkt und in meinem Innersten verwundet, des Kindersinns, mit dem ich mich selbst frage:

Was bin ich, und was ist das Menschengeschlecht?

Was hab ich getan, und was tut das Menschengeschlecht?

Ich will wissen, was der Gang meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was der Gang des Lebens, wie er ist, aus dem Menschengeschlecht macht.

Ich will wissen, von was für Fundamenten mein Tun und Lassen und von was für Gesichtspunkten meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen und unter den Umständen, unter denen ich lebe, eigentlich ausgehen müssen.

Ich will wissen, von was für Fundamenten das Tun und Lassen meines Geschlechts und welchen Gesichtspunkten seine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen und unter den Umständen, unter denen es lebt, eigentlich ausgehen müssen.

Der Gang meiner Untersuchungen kann seiner Natur nach keine andere Richtung nehmen als diejenige, die die Natur meiner individuellen Entwickelung selbst gegeben, ich kann also in derselben in keinem Stück von irgend einem bestimmten philosophischen Grundsatz ausgehen, ich muß sogar von dem Punkt der Erleuchtung, auf welchem unser Jahrhundert über diesen Gegenstand steht, keine Notiz nehmen. Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, das ist, die einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben; aber eben darum werden diese Nachforschungen einem großen Teil meines Geschlechts einen ihrer Art und Weise, die Sachen dieser Welt anzusehen, nahestehenden Aufschluß über ihre wesentlichsten Angelegenheiten erteilen.

Vom Throne bis zur Leimhütte nimmt die Geschäftswelt, wie ich, weder von der Philosophie der Vorzeit noch von derjenigen der Gegenwart irgend eine Kunde; aber das Unrecht der Menschen und ihre Torheiten führen allenthalben eben die Erfahrungen, eben die Gefühle und eben die Leiden herbei – die meiner individuellen Anschauungsart der Dinge die Richtung gegeben, die sie genommen.

Ich bin überzeugt, der größte Teil der lebenden Menschen trägt die Fundamente meiner Wahrheit und meiner Irrtümer, mit meinen Gefühlen belebt, in seinem Busen – und die Welt im großen steht den Gesichtspunkten nahe, von denen meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen. Ich bin überzeugt, meine Wahrheit ist Volkswahrheit, und mein Irrtum ist Volksirrtum. Das Volk spricht freilich die Grundsätze nicht aus, bei denen ich hier stehe – aber auch ich sprach dieselben nicht aus, da sie schon längst zu sichern Gefühlen in mir gereift waren. – Ich trug die Frage: Was bin ich? jahrelang schwankend im Busen, bis mir endlich nach langem und langem Suchen folgende Sätze den Faden zu enthalten schienen, an welchem ich den Pfad der Natur in jeder Entwicklung des Menschengeschlechts mit Sicherheit nachspüren und ihn von seinem Anfang an bis zu seiner Vollendung verfolgen könnte.

Johann Heinrich Pestalozzi

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