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Peking 4. Oktober 2019

Zum Verlassen des Bahnhofs in Peking muss an einer Sperre das Ticket und der Reisepass gezeigt werden, bei mir wurde im Pass immer genau das Visum kontrolliert sowie das Passfoto mit meiner müden Physiognomie verglichen. Mein Guide, der sich als Michael vorgestellt hatte, erwartete mich außerhalb des Hauptbahnhofs. Sein handgemaltes Schild mit meinem Namen konnte ich in dem dichten Gewühl aus Bahnreisenden und Verkäufern zum Glück leicht finden. Er sollte die nächsten Tage nicht mehr von meiner Seite weichen, aus pekuniären Gründen. Weil bei ihm jede Tagesführung 600 Yuan kostete (75 Euro), war er mein Mister 600 Yuan. Michael gab mir schon im Taxi einige Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten Pekings, die er mir zeigen wollte. Mir war aber mehr der Sinn nach einer Dusche und einem sauberen Bett, das ich dann auch bald im Qian Men Jian Guo Hotel haben sollte. Nach einer Erfrischung und einem kurzen tiefen Schlaf waren meine Lebensgeister wieder auf Entdeckung eingestellt. Ich erkundete zunächst meine Herberge. Es handelte sich um eines jener großen internationalen weitläufigen Hotels wie man sie überall auf der Welt findet, mit drei Restaurants, einer Bar, einer riesigen Lobby, mit tiefen Sesseln um einen plätschernden Springbrunnen arrangiert. Direkt von der Lobby aus zugänglich gab es allerdings eine sehr chinesische Besonderheit, das Liyuan Opera Theater. Am Abend sollte es eine Aufführung geben, für die ich noch eine Karte haben konnte, der Abend war also gerettet. Etwa 800 überwiegend Chinesen drängelten sich am Abend um den Eingang des Liyuan Opera Theaters, ich mittendrin und gespannt auf die Aufführung.


Bild 16 Peking Oper im Liyuan Opera Theater

Das Theater zeigt die traditionelle darstellende Kunst der Peking Oper mit kuriosen und humoristischen Elementen, klassischen und artistischen Darstellungen, Liebesdramen und Kung-Fu Kämpfen. Durch die laute Musik von hohen und schrillen Gesangsstimmen begleitet, der exotischen Aufmachung und den bunten Kostümen der Darsteller, wirken die Aufführungen für europäische Augen und Ohren fremdartig. Mir gefiel die Andersartigkeit der Aufführung, deren tieferer oft heiterer Sinn sich nicht sofort erschließt. Die Aufführungen der Theater Truppe gefielen mir aber so gut, dass ich später - nach meiner Rückkehr aus Tibet - das Theater noch einmal besucht habe. Am nächsten Morgen, pünktlich wie verabredet wartete Michael auf mich, um mir Peking näherzubringen. Zur Einführung hatte er die üblichen Touristen Sehenswürdigkeiten ausgesucht. Den Tiananmen Platz, die verbotene Stadt, den Kohlehügel, den Himmelstempel und den Beihai Park. Ich habe ihm dann vorsichtig zu verstehen gegeben, dass ich das andere Peking jenseits der üblichen Touristen Attraktionen kennenlernen möchte, zum Beispiel die jahrhundertealte Sternwarte oder die noch verbliebenen Hutongs. So kam dann nach dem Pflichtprogramm meine gewünschte Kür. Zuerst die Sternwarte: In Chinas Frühzeit hat man sich bereits mit systematischen Himmelsbeobachtungen beschäftigt, die die Grundlagen für die Entwicklung des chinesischen Kalenders waren. Übrigens, die ca. 4000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt beweist, dass man sich in der Frühzeit Mitteleuropas auch hierzulande mit den Sternen und Ereignissen am Himmel intensiv auseinandergesetzt hat. Die Gründung des Observatoriums in Peking geht auf die Zeit um 1279 zurück als der mongolische Herrscher Kublai Khan China beherrschte. Das Pekinger Observatorium war auf der Plattform eines 10 Meter hohen Turms in der Stadtmauer eingerichtet, der für Himmelsbeobachtungen mit den damaligen Instrumenten ideal war. Der Turm selbst diente gleichzeitig der Beobachtung des Sonnenschattens, um astronomische Größen und Zeitabläufe zu ermitteln. Diese Daten waren für das chinesische Kaiserhaus von einiger Bedeutung, weil sich damit indirekt Erntezeiten und mögliche Missernten vorhersehen ließen. Heutzutage kann der Turm besichtigt werden sowie einige der bronzenen Instrumente, mit denen in China die ersten Himmelsbeobachtungen durchgeführt worden sind. Beobachtet und gemessen wurden dabei meist die Winkel zur Bestimmung der Positionen von Sternen.


Bild 17 In den Hutongs

Am nächsten Tag folgte die Tour durch die Hutongs von Peking. Die Hutongs sind die sehr engen Gassen in der Nähe der verbotenen Stadt, wo sich viele Jahrhunderte lang das Leben abgespielt hat. Als ich zusammen mit Michael durch die Gassen lief, wurden wir von einer Kinderschar begleitet, die mich, die Lang-Nase und unsere Unterhaltung neugierig beobachtete. Michael schien hier bekannt zu sein, denn bald wurden wir zu einer Schale Tee eingeladen. Das nur einstöckige Wohnhaus, in das wir höflich gewiesen wurden, war dunkel und sehr einfach eingerichtet. Sanitäre Einrichtungen habe ich vergeblich gesucht. Die einfachen und peinlich sauberen Toiletten und Duschen, die sich außerhalb der Wohnräume befanden, mussten von mehreren Parteien geteilt werden. Die Menschen, die hier leben, bilden soziale Gemeinschaften, in denen jeder die Sorgen des anderen kennt. Hier wird zusammen gekocht, gespeist, gefeiert und getrauert. Alle hier wirkten zufrieden und glücklich. In das moderne und fortschrittliche Peking passen die Viertel der Hutongs nicht mehr. Deren wertvoller Grund und Boden wird radikal mit Hochhäusern bebaut, sodass sehr bald alle Hutongs und mit ihnen die sozialen Strukturen der Menschen dort, verschwunden sein werden. Ich hatte Michael von meinem bevorstehenden Besuch in Lhasa erzählt, also musste ich - wegen der Höhenlage der Stadt-unbedingt einem Arzt, der die traditionelle chinesische Heilkunst praktiziert, vorgestellt werden. Im großen Behandlungsraum saß ich dem Arzt und einer Dolmetscherin zu einer allgemeinen Anamnese gegenüber. Die üblichen Fragen, wie alt, welche Vorerkrankungen, Puls messen, Rachen und Augen betrachten. Fragen zum Sport, den ich eventuell treibe, welche Medikamente ich einnehme und wie ich mich ernähre. Nachdem alle Fragen mit Wohlwollen quittiert worden waren, kam als letzte Frage, wie alt ich denn zu werden gedenke. Mit meinen angestrebten 100 Jahre konnte ich ein bewunderndes Gelächter ernten. Auf einer kalten Liege wurde mein Bauch noch rundum abgetastet und dann war die Untersuchung beendet mit der Zusammenfassung, dass keine Bedenken gegen einen Aufenthalt in der Höhenlage von Lhasa bestehen. Empfohlen wurde mir noch die regelmäßige Einnahme eines speziellen Nierentees, den wir in der Apotheke im Erdgeschoss gleich kaufen konnten. Michael hatte später noch andere Touristen zu betreuen, deshalb nutzte ich die Zeit für Erkundungen der Stadt auf eigene Faust. Im Straßenbild Pekings fallen neben den Leihrädern, die zahlreichen Elektrofahrzeuge auf. Vom Moped über Pkws bis hin zum Großraumbus wird sehr viel elektrisch betrieben. Deshalb und aus einem ganz anderen Grund war die Luft in der Stadt spürbar sauberer als ich das erwartet hatte. Während meiner Tage in Peking wurde nämlich das 70. Jubiläum der Staatsgründung durch Mao Zedong gefeiert, der in China wie ein Heiliger verehrt wird. Aus dem Anlass durfte die Bevölkerung vom 1. bis 7. Oktober 2019 eine verlängerte „goldene Woche“ feiern. Die „goldene Woche“ ist ein jährlicher Nationalurlaub, an dem in China eine intensive Reisetätigkeit für Verwandtschaftsbesuche und Tourismus herrscht. Die gleichzeitigen Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Staatsgründung vor 70 Jahren sorgten in Peking für Massenbetrieb auf allen Bahnhöfen und bei allen Sehenswürdigkeiten. Gleichzeitig waren alle Betriebe entlang der gigantischen Militärparade anlässlich der Feiern zum Jubiläum der Staatsgründung angewiesen, während dieser Woche ihre die Luft-verschmutzenden Maschinen stillzulegen. Deshalb die gute Luft in Peking und deshalb auch der Eindruck, dass sich halb China mit Großeltern, Tanten, Kind und Kegel auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelt hatten. Einen zentralen gemütlichen Platz, wo sich die Bürger zu einem urbanen Leben einfinden können, wo sich der Charakter einer Stadt in vielfältiger Weise zeigt, wo es Gaukler und Musikanten zu beobachten gibt, wo interessante Lokale zum Verweilen einladen, habe ich in Peking allerdings vergeblich gesucht. Der Platz des Himmlischen Friedens, mit seinem gigantischen Monument und der riesigen Halle des Volkes kann diese Rolle eines urbanen Ausdrucks städtischen Lebens nicht erfüllen. Das eigentliche kleine Glück spielt sich mehr am Rand ab, wie bei den Tanzgruppen im Park am Kohlehügel, oder beim Geigenspieler, der im Park ohne Publikum seine Stücke übt oder auch die Spieler, die sich bei einem Brettspiel neben einer belebten Straße köstlich amüsieren.


Bild 18 ein spannendes Brettspiel

360 Längengrade für Methusalem

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