Читать книгу 360 Längengrade für Methusalem - Dieter Kaiser - Страница 7
ОглавлениеBerlin – Moskau 16.September 2019
Bild 1 Start der Reise am Berliner Ostbahnhof
Mit seinen buschigen Augenbrauen über schwarzen Augen starrte mich der Waggon Schaffner so vorwurfsvoll an, wie ein Pfarrer banausenhafte Touristen anblickt, die sich anschicken in unangemessener Bekleidung seine Kirche zu betreten. Das soll ja vorkommen, ich aber wollte nur in seinen Strizh einsteigen, der mich nach Moskau bringen sollte. Strizh oder Mauersegler nennt die russische Bahnverwaltung etwas tiefgründig ihren Intercity, der in rund zwanzig Stunden die Stecke von Berlin nach Moskau befährt. Den Zug durfte ich nicht besteigen, denn vor mir hatte sich dieser hartnäckige Waggon Schaffner breitbeinig aufgebaut und verwehrte mir strikt jeden Einlass. In respektfordernder Uniform, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf so groß, dass sie leicht zu einer russischen Admiralsuniform gepasst hätte, stand er wie ein unüberwindbares Hindernis vor mir. Die Ursache für seinen Unmut lag offenbar in meinem Reisepass, den er in der Hand hielt, immer wieder auf das Datum meines Transit-Visums für Belarus klopfend, das ich auf den 17. September ausgetüftelt hatte, also für den kommenden Tag. Heute war erst der 16. September 2019. Das passt für ihn offenbar alles gar nicht zusammen. Als zusätzliche Pointe war der gute Mann nicht bereit in einem anderen Idiom zu sprechen als in seinem vertrauten russisch, wovon ich kein Wort verstand, außer einem „njet“, dass mich immer wieder aus seinem Wortgetümmel ansprang und mir sehr bekannt vorkam. Nach einigem Hin und Her ließ er mich dann doch resignierend passieren. Entweder wegen meiner Hartnäckigkeit oder wegen seiner viel besungenen unergründlichen russischen Seele oder vielleicht einer plötzlichen Erkenntnis folgend, wer weiß das schon. Den Start meiner Reise rund um die Welt hatte ich mir irgendwie etwas glatter vorgestellt, aber Probleme müssen gelöst werden, dazu sind sie da sagte ich mir voller Tatendrang. Ich bestieg also dennoch sehr erleichtert und froh den rollenden Boden von Mütterchen Russland. Ein paar Floskeln in russischer Sprache und einige Rubel zur Hand, kann bei dieser Bahnfahrt sicher nicht schaden, dachte ich mir. In meinem Abteil hatten sich inzwischen meine drei Mitreisenden gemütlich eingerichtet, zwei ältere und eine junge hübsche Dame. Eine der Älteren beschäftigte sich mit ihrem Strickzeug und arbeitete mit leisem Klicken an einem Schal, wobei sie ständig konzentriert auf ihrer Unterlippe kaute. Die andere schaute mich aufmunternd an und erkundigte sich mit leicht russisch gefärbtem Deutsch nach meinem woher und wohin. Sie hatte etwas Mütterliches, was mir gefiel. Verwundert blickte sie auf mein leichtes Gepäck für die lange Reise, schleppten die drei doch große Reisetaschen mit sich, deren Inhalt mir, wenn auch unfreiwillig, später noch offenbart werden sollte. Alle drei wollten nach Brest in Belarus. Bis auf die jüngere hübsche die aus Paris kam, sprachen die beiden anderen neben russisch ganz gut deutsch. Die Reise über die knapp 1900 km bis Moskau dauert rund 20 Stunden mit dem Start pünktlich um 18: 45 Uhr in Berlin Ostbahnhof. Ich hatte mich darauf eingestellt, dass es eine Nacht mit Unterbrechungen sein würde, denn der Zug passiert zunächst die Grenzen zu Polen und später nach Mitternacht die zu Belarus, das heißt volles Programm bei den Grenzkontrollen. Der Zug rumpelte gemächlich über Schienenstöße und Weichen in die Nacht hinaus. Die Aussicht auf die Hinterhöfe von Berlin, eher trübe. Hier erhält der erste Teil der Devise „arm, aber sexy“ für Berlin eine sehr reale Bedeutung. Die drei in meinem Abteil mitreisenden und russisch sprechenden Damen stürzten sich im Laufe des Abends in eine temperamentvolle Diskussion, die in ein Juchzen und schließlich in ein schier endloses ansteckendes Gelächter überging. Schließlich lachten wir alle vier mit Tränen in den Augen. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, das bekam ich später mit vielen Details ausgemalt, zu hören. Aber zunächst ging es ans Bettenbauen, das die drei gleich routiniert und schwungvoll für das ganze Abteil erledigten. Wie selbstverständlich gab es auch für mich noch etwas Gebäck aus dem unerschöpflichen Vorrat der Damen, bevor sie sich auf den schmalen Betten zur Ruhe legten. Bald breitete sich jene Stille aus, wie sie spätabends für ein Zugabteil typisch ist, nur vom regelmäßigen Schlagen der Räder auf die Schienenstöße gestört. Schlafen konnte ich nicht, mich trieben viele Gedanken um, was hatte ich alles vergessen, würde es Probleme an den Grenzen geben, würde das Geld reichen, außerdem befiel mich ein unbestimmtes Gefühl von Tristesse. Ich hatte für die nächsten sechs oder sieben Monate von meiner Familie Abschied genommen, dem Freundeskreis, der Nachbarschaft und meinem gewohnten Umfeld mitsamt meinem geliebten kleinen Segelboot. Dazu kam das ich alleine unterwegs war, was für mich ungewohnt ist. Im Abteil verbreiteten die gleichförmigen Schlafgeräusche meiner Mitreisenden eine beruhigende Atmosphäre, ich beneidete sie. Gegen 3: 20 Uhr wurde die Fahrt langsamer und schließlich stoppte der Zug mit einem quietschenden Ruck. Wir standen im Bahnhof von Warschau. Die hell erleuchtete menschenleere Station hatte etwas Gespenstisches. Draußen liefen einige Bahn-Mitarbeiter eilig hin und her, ein Pfiff auf der Trillerpfeife und schon rollte der Zug langsam weiter gegen Osten. Wenig später, ein energisches Klopfen an der Kabinentür begleitet vom Ruf „granitza „und „pasportnyy kontrol“. Alle springen auf, denn das ist eine ernsthafte Angelegenheit: Ein polnischer und ein belorussischer Grenzbeamter erschienen in der Tür und wollten die Reisepässe, belorussisches Transitvisa und russisches Visum sehen. Dann sammelten sie alle Pässe ein und verschwanden wieder. Wenig später erschien ein weiterer Grenzbeamter, der das Gepäck kontrolliert. Meine Sachen interessieren ihn nicht, dafür um so mehr die ungewöhnlich großen Taschen meiner drei Mitreisenden. Meine Diskretion und meine inzwischen gewachsene Sympathie für die Damen erlauben mir nicht im Einzelnen zu beschreiben, was der Zöllner, neben dem köstlichem Gebäck, von dem ich schon profitiert hatte, an verführerischen Dessous und zarter Damenwäsche aus Paris und Berlin, alles noch original verpackt, aus ihren Taschen ans Licht beförderte. Damit hätte leicht die Wäsche-Abteilung eines kleinen Kaufhauses bestückt werden können. Einer der Zöllner forderte die drei in barschem Ton auf, mitzukommen. Ich war voller Mitgefühl mit den drei, aber was nutze das schon. Nach einer endlosen Zeit kamen sie jede ein Formular in der Hand zurück und ließen sich seufzend in die Polster fallen. Nachfragen wollte ich nicht, konnte mir aber leicht denken was geschmuggelt werden sollte. „Corriger la fortune“ hatte zu Galinas, so hieß die Schöne aus Paris, und auch zu meinem Bedauern diesmal nicht funktioniert. Wir mussten dann alle vier noch Einreise- und Ausreisekarten ausfüllen und erhielten die inzwischen gestempelten Pässe wieder zurück und alles war zumindest für mich „karascho“, meine drei Begleiterinnen ernteten dagegen einen strengen Blick. Vor Brest kam die Durchsage, dass ab jetzt die Uhr, um eine Stunde vorzustellen sei. Das sind also nach meiner einfachen Rechnung die ersten 15 Längengrade Richtung Osten, die ich zurückgelegt hatte, 345 weitere und spannende sollten bis zur Heimkehr nach Deutschland folgen. Die nächste Aktion war die Umstellung der Spurweite des Zuges auf das etwas breitere russische Maß. Das wird nahezu unbemerkt von den Bahnreisenden bewerkstelligt, indem der Zug ganz langsam über eine automatische Umspur-Anlage gefahren wird. Meine drei Damen hatten inzwischen ihre Zoll Formulare ausgefüllt und ihren schier grenzenlosen Humor wieder zurückgefunden. Jetzt waren alle entspannt und ich sollte in die abendliche, unser Gelächter auslösende Geschichte eingeweiht werden. Die will ich ohne die dekorativen Ausschmückungen meiner Übersetzerin erzählen, denn Galina, die Heldin des Erlebnisses sprach außer russisch nur französisch. Wobei es für mich ein besonderes Vergnügen war, der angenehmen Stimme Galinas zu folgen, mit ihren charmanten französischen Einsprengseln. Mit ihren immer strahlenden blauen Augen, und dem von einer schicken blonden Kurzhaarfrisur umspielten angenehmen Gesicht, war sie zweifellos ein sehr liebenswertes Wesen. Zu einem zweiten Monsieur Bonnet, der der Protagonist ihrer Geschichte war, hätte ich mich allerdings nie hinreißen lassen, wie wir noch sehen werden. Ich bin da eher von der zurückhaltenden Sorte. Hier ist ihre kurze Erzählung: „Galina, war im feinen 6. Pariser Arrondissement bei der wohlsituierten Familie Bonnet (Name geändert) als Mädchen für die Tochter des Hauses engagiert. Eines Abends, bei günstiger Gelegenheit, unternahm Monsieur Bonnet, klein, glatzköpfig, nach einer Mischung aus Käse und Wein riechend, den Versuch Galina zu verführen. Das sollte nach Galinas Worten mit stürmischen Küssen und „ je t’aime“ Gemurmel eingeleitet werden. Der Versuch wurde leider für Monsieur zum Fiasko und endete nach einigem übergriffigem Gerangel mit einer „Gifles de visage“, wie Galina es nannte, also einer Ohrfeige für den kühnen Verführer, der sich danach schmollend zurückzog. Galinas Unbekümmertheit und die ursprüngliche Freude an der Arbeit in der Familie und dem Leben in Paris waren von da an verweht und hatten einer gewissen Anspannungg Platz gemacht. Galina beschloss deswegen bald nach dem Vorfall die Heimreise nach Brest anzutreten, wodurch ich wiederum in den Genuss ihrer kurzen Bekanntschaft im Strizh nach Moskau kam. Außerdem hatte sie einen bestimmten Anlass nach Hause zurückzukehren: Ihr Freund in Brest bestand auf baldiger Verlobung, er wollte wohl kein Risiko eingehen mit der Zukünftigen, auf dem heißen Pflaster von Paris. Der Zug war unterdessen gegen 6: 10 Uhr morgens in Brest Centralny eingelaufen, die drei packten ihre Sachen und verabschiedeten sich mit vielen Umarmungen und guten Wünschen für meine Reise und überließen mir noch ihr restliches Gebäck als Proviant, das dann bis Moskau reichen sollte. Für mich war das die Gelegenheit, den Speisewagen zu erkunden. Ich war an dem noch frühen Morgen der einzige Gast und wurde vielleicht deshalb sehr freundlich betreut. Die Speisekarte war in kyrillisch ausgedruckt. Mit etwas Fantasie, Glück und meiner eigenen Zeichensprache wurde mein Frühstück ein Käse-Schinken-Omelette, dazu viel Kaffee. Im Speisewagen zu reisen ist immer ein vierfaches Vergnügen, das es nur bei der Bahn gibt: Man speist, genießt die Landschaft, reist seinem Ziel entgegen und mit etwas Glück darf man das alles in angenehmer Gesellschaft erleben. Die Landschaft, die der Zug ab Brest durcheilt, ist eben und nur von halbhohen Büschen und Sträucher bewachsen, die gelegentlich von Birkenwäldern mit kleinen Gewässern und Flussläufen abgelöst werden. In der Ferne sind weiträumige Felder sichtbar, die um die Jahreszeit schon abgeerntet waren. Das alles erinnerte mich sehr an die Lüneburger Heide. Ausgenommen die einfachen niedrigen Katen, die sich in die Landschaft ducken, von Bauern bewohnt, die gerne zum Bahndamm hin ihre nicht mehr genutzten Gerätschaften dem Verfall überlassen. Der Zug fährt stundenlang im einschläfernd klopfenden Rhythmus der Räder durch diese Landschaften, bevor ein Halt in einer größeren Stadt die Melodie unterbricht und für etwas Abwechslung sorgt. Ab Minsk und weit nach dem Frühstück teilte ich das Abteil mit einem Ehepaar, das in der Taubstummensprache miteinander kommuniziert hat. Mir stellte sich die Frage, ob die Gebärdensprache, die ja vielen Taubstummen auf der Welt zur Verständigung dient, eine international einheitliche Sprache ist, ähnlich dem Esperanto. Ich konnte auch nicht erkennen, ob beide oder nur einer von dem Handicap betroffen war, so ergab sich leider keine Gelegenheit zu einer kleinen Unterhaltung. Nach kurzer Fahrt, bis Smolensk verließen die Beiden den Zug dann auch schon wieder. Dafür stieg ein sympathisch wirkender und gut gekleideter noch jüngerer Mann ein. Wir stellten uns gegenseitig vor und Michail erklärte mir in gutem Englisch, dass er zunächst etwas Schlaf brauchen werde. Den wollte ich ihm gerne gönnen, zumal bis Moskau immerhin noch gut vier Stunden zu fahren waren. Etwa zwei Stunden vor Moskau erhob sich Michail von seinem Lager und packte seinen mitgebrachten Proviant aus. Der Geruch von Würsten und Käse begann langsam durch das Abteil zu wabern. Ich verzog mich deswegen hungrig in den Speisewagen, wo ich eine Portion Borschtsch mit gutem Appetit gelöffelt habe. Borschtsch Suppe gehört in Russland traditionell zu einem der beliebtesten Gerichte. Die Liste der Zutaten ergibt eine kräftige Suppe, die durch die enthaltene Rote Bete ihre typisch rote Färbung erhält. Vielleicht deswegen wird sie von vielen zu Unrecht verschmäht, wie ich meine. Im Abteil hatte unterdessen Michail seinen Proviant verzehrt und wurde gesprächiger. Er kam aus der Stadt Orel südwestlich von Moskau und war als Ingenieur an einem Modernisierungsprojekt in der Nähe von Smolensk beteiligt, wo er wochenlang zu tun hatte. Seine Frau und seine beiden Kinder, deren zerknitterte Fotos er aus der Geldbörse zog, lebten zusammen mit der Babuschka also der Oma, in Jekaterinburg tief im Osten des Landes. Er freute sich schon auf Moskau und die Einkäufe, die er für die Familie dort machen wollte. Die Schienen wurden hinter Minsk schlechter, ich habe mir nicht vorstellen können, dass ein Zugwaggon so sehr rollen und springen kann. Die restliche Fahrt bis Moskau rumpelte der Zug deshalb ganz gemütlich dahin. Zeit genug die Landschaft vor Moskau in Muße zu betrachten. Sümpfe, kleine Wasserläufe, Birken in moorigem Untergrund und immer wieder Holzkaten und einfache Bauernhäuser wechselten einander ab. Es ist eine Landschaft, die eine große Ruhe ausstrahlt. Mit der Ruhe war es übergangslos vorbei, als ich den Zug im Trubel und Menschen-Gewühl des Belorussischen Bahnhofs von Moskau verlassen habe und mich plötzlich mitten im abendlichen Berufsverkehr einer gigantischen Millionenstadt befand.