Читать книгу 360 Längengrade für Methusalem - Dieter Kaiser - Страница 8
ОглавлениеMoskau 17. September 2019
Bild 2 Russisch-orthodoxe Kirchen im Kreml/Moskau
Ich war Michail dankbar, dass er mir noch im Strizh angeboten hatte, gemeinsam mit mir in Moskau zur nächsten Metro-Station zu gehen, um mir ein Ticket zu kaufen. So marschierten wir also im gleichen hastigen Schritt wie die Moskowiter über einen belebten Platz zum nächsten-Metro-Schild und weiter treppab durch lange Gänge wieder treppauf in eine große Halle, wo die Ticket-Automaten der Metro an den langen Menschen Schlangen davor zu erkennen waren. Als wir an der Reihe waren, bekam ich zuerst gezeigt, wo der Knopf für „Englisch“ war und dann ging alles schnell: Ticket Nummer für den Zielbahnhof eingeben, -sie findet sich in einer Tabelle neben dem Automaten-, Geld rein und schon spuckt der Automat zirpend das Ticket aus. Hier musste ich mich von Michail verabschieden, der in Moskau ja noch die Einkäufe für seine Familie zu erledigen hatte. Die anschließende Fahrt durch den Moskauer Untergrund zum Hotel im Leningrader Bahnhof war dann ein Kinderspiel.
Bis zur Weiterreise mit der Transsibirischen Eisenbahn hatte ich 5 Tage für Moskau geplant. Genug Zeit, um die Stadt zu erkunden und vielleicht einige Lieblingsplätze zu entdecken. Was mit der Metro ein wirklich preiswertes Vergnügen ist. Erleichtert wird so ein Streifzug auch durch die einprägsamen Namen vieler Metro Stationen wie Komsomolskaja, Barrikadnaja oder Puskinskaja. Manche dieser Stationen sind wahre Kunstpaläste, gebaut für den Arbeiter- und Bauern-Staat unter Stalin. Er soll auch für den Bau der Ringbahn gesorgt haben, die alle Außenäste der Metro miteinander verbindet. Eine Fahrt kostet etwa 80 Cent. Solange man keine Ausgangssperre benutzt, kann man dafür beliebig lange Metro fahren, in alle Richtungen. Mich zog es zuerst in die Neue Tretjakow Galerie in der ul. Krymskiy Wal. Die Galerie beherbergt Russlands größte Sammlung für nationale Kunst. Dieses Museum war der ideale Einstieg in meine weitere Russland Reise, denn hier gewinnt man über die Exponate einen Einblick in russische Kultur, Geschichte, das religiösen Leben und das vergangenen Leben des Adels und der einfachen Leute auf dem Land. Es ist wie ein Blick durch ein Fenster in eine längst vergangene Zeit. Einen ganzen Tag zur Besichtigung hatte ich für diesen besonderen Höhepunkt in Moskau geplant.
Bild 3 Im Kaufhaus Gum geht es gemütlich zu
Bild 4 Eines der belebten Zentren von Moskau
Bild 5 Der Rote Platz
Nach der Tretjakow Galerie standen der Rote Platz und das Kaufhaus GUM auf meinem Programm und später der Kartenkauf für den Nikulin Zirkus am Zwetnoj Bulwar. Der Rote Platz ist für viele Moskau Besucher ein Muss. Sicher denken dabei die Wenigsten an einen jungen Deutschen aus Wedel bei Hamburg. Er war im Mai 1987, also mitten im Kalten Krieg, von Helsinki und Petersburg kommend, mit seiner kleinen einmotorigen Cessna, direkt hinter der Basilius Kathedrale, auf der Moskwa Brücke gelandet. Ursprünglich wollte er unmittelbar auf dem Roten Platz landen, da waren aber zu viele Menschen für eine sichere Landung. Mit der riskanten Solo-Aktion wollte er etwas für den Weltfrieden erreichen. Zumindest wurden damals einige russische Generäle gefeuert und unser kühner Flieger landet nach dem Husarenstück im Gefängnis. Da ging es ihm aber gut, zumal er genügend Motivation hatte die russische Sprache, mithilfe seiner Wärter perfekt zu lernen. Nach einigen Jahren wurde er gesund und munter wieder entlassen. Aber zurück zum Roten Platz, der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Der Platz war in früheren Jahrhunderten der zentrale Marktplatz und Festplatz der Stadt. Hier war der Ort, an dem die Pelzhändler aus dem Ural und die Bauern der Umgebung ihre Waren verkaufen konnten und hier wurden dem Volk die Erlasse und Urteile des Zaren verkündet. In schweren Fällen waren das Hinrichtungen oder im günstigsten Fall die Verbannung nach Sibirien. Auf die vielfältigen Entwicklungshilfen, die die sibirischen Siedlungen über die Verbannten vorteilhaft beziehen konnten, komme ich später noch einmal zurück. Zu Zeiten der Sowjetunion rollten auf dem Roten Platz die Panzer und Raketen zur Demonstration von Macht und Größe des Kommunismus. Auch in der heutigen Zeit finden hier die großen Siegesparaden und Aufmärsche aller Waffengattungen der russischen Armee statt, zur Erinnerung an den siegreichen Verlauf des Zweiten Weltkrieges. Der Platz wird von der Basilius-Kathedrale dominiert, deren Bau Iwan der Schreckliche 1522 in Auftrag gab. Die Kirche mit ihrem zentralen Hauptgebäude und den acht kreisförmig angeordneten Kuppeltürmen ist ohne Zweifel ein architektonisches Meisterwerk. Zur Rechten der Basilius-Kathedrale steht das riesige, in mehrere Gebäudeflügel gegliederte Kaufhaus GUM. Das Kaufhaus führt die alte Tradition des Marktplatzes fort, mit einem sehr umfassenden Angebot auch westlicher Waren und mit guten Speiselokalen. Dem GUM gegenüber liegt das Zentrum der Macht in Russland – der Kreml. Ab dem 14. Jahrhundert herrschten von hier aus die Zaren, wie Iwan der Schreckliche oder Katharina die Große. Aus der Zeit sind die vielen prächtigen Kathedralen und Paläste geblieben, die heutzutage für das staunende Publikum geöffnet sind. Die Russen lieben den Zirkus über alles, so gibt es in Moskau natürlich den großen Staatszirkus mit Spitzenleistungen in Artistik, Dressur oder Clownerie. Daneben existieren in der Stadt noch ein Katzen-Zirkus, ein Tierzirkus mit Nilpferd, Bär und Wildschwein, der älteste von allen aber ist der Nikulin-Zirkus, der seit 1880 seine Aufführungen einem begeisterten Publikum vorführt. Ich machte mich also auf die Fahrt per Metro zum Zirkus Nikolin auf dem Zwetnoi Boulevard. Der Dame an der Kasse des Zirkus-Nikulin hatte ich „bilety“ murmelnd einen Zettel mit Datum und Uhrzeit der gewünschten Vorstellung hingeschoben. Das Verfahren hat sich später in China oder Japan auch recht gut bewährt. Daraufhin erhielt ich ein Ticket gleich in der ersten Reihe für die Kindervorstellung, für die ich mich entschieden hatte. Das hatte den Vorteil, dass ich die riesigen Luftballons, von den Clowns unter das jauchzende Publikum geworfen, gleich weiter in die oberen Ränge befördern durfte. Ein Clown demonstrierte, sehr zur Schadenfreude und unter dem Gelächter der Zuschauer, alle möglichen Verrenkungen, um es sich auf einer immer wieder zusammenklappenden Campingliege gemütlich zu machen. Bis er sich schließlich im Gestell der Liege völlig verfangen hatte und sich nur mit Mühe wieder aus dem Gestänge befreien konnte. Eine toll choreografierte Nummer, die es auf die Schadenfreude vor allem der Kinder abgesehen hatte. Außer den Clowns, die für die aufgeregten Kinder natürlich das Wichtigste waren, gab es noch Hochseil-Akrobatik, Tiger- und Pferdedressur-Nummern und vieles mehr. Die Atmosphäre des Nikulin mit seinen Tieren, den Geräuschen und Gerüchen, den artistischen Nummern, den Clowns und allen anderen Zirkusleuten übte auf mich einen magischen Reiz aus, der auch die vielen Kinder in Begeisterung versetzte und uns hinterher zufrieden nach Hause gehen ließ. Ganz in der Nähe des Zirkus Nikulin, am Anfang des Rozdestvenskij bulwar liegt einer meiner Lieblingsplätze in Moskau. Eine an den früheren Großmarkt von Paris erinnernde Halle aus dem frühen vorigen Jahrhundert mit kleinen Speiselokalen aus aller Welt. Hier findet sich auch eine große Auswahl deutscher Wurstsorten (Wurstland) und Gerichte. Wurst und Brot werden neben Autos und Biergärten vielerorts mit Deutschland assoziiert, was ja nicht schlecht sein muss. Einer meiner anderen Lieblingsplätze in Moskau ist der Jelissejewskij Laden auf der Twerskaja uliza, ein altes Delikatessengeschäft der Familie Jelissejew. In deren Räumlichkeiten in einem ausladenden Barock und Jugendstil wird der Verkauf von feinsten Delikatessen zelebriert. Zum Beispiel das Zarenlachs-Rückenfilet oder Stör, für die Zubereitung schon vorbereitet. Alles in prächtigen Auslagen dem Publikum verführerisch zum Kauf angeboten. In Deutschland können nur einige ausgewählte Delikatessen-Geschäfte in Berlin oder München mit der hier gebotenen Pracht mithalten. Mit einer kleinen Portion köstlichem Fischsalat zog ich weiter. Eines meiner Highlights in Moskau war der Abend im Bolschoi Theater mit einer Aufführung von Dornröschen durch die berühmte Ballettkompanie des Theaters. Weil ich für meine Reise keine passende Operngarderobe eingepackt hatte, war meine Karte für die oberen Ränge des Hauses für mein Outfit gerade angemessen. Meine Sorge war aber unbegründet, denn es ging sehr locker und ungezwungen zu. Mit noch ungezwungener Begeisterung ging das Theaterpublikum während der eigentlichen Aufführung temperamentvoll mit. Die märchenhafte Handlung des Balletts wird von der wunderbaren Musik Peter Tschaikowskys getragen, der Dornröschen für sein schönstes Ballett hielt. Das Publikum verfiel nach jedem gelungenen Luftsprung, gelungener Pirouette oder einem besonders zärtlichen Pas de Deux in stürmischen Beifall, den die Tänzer an der Rampe mit elegant-graziöser Geste entgegennahmen. Die Choreografie und Interpretation des Stückes durch die Tänzer waren einfach so perfekt, dass ich in den Jubel des Publikums beim Schlussapplaus selig mit einfiel und voller Freude, die Musik in mir nachklingend, zur nächsten Metro Station ging. Gut, ein Glas Wein in einem gemütlichen Lokal mit Freunden zum Ausklang des Abends wäre eher nach meinem Geschmack gewesen als mein kleines Hotelzimmer im Leningrader Bahnhof. Einen kalten ungemütlichen Vormittag habe ich in einer der großen Moskauer Buchhandlung beim Stöbern verbracht. Meine Buchhandlung – die Biblio Globus Buchhandlung in der Lubyanskij Proyezed - versteckt sich hinter einem unscheinbaren Seiteneingang und verfügt über eine gut sortierte deutschsprachige Abteilung. Hier darf man stundenlang und gemütlich in den Büchern blättern und lesen. Mit Goethes Wahlverwandtschaften unter dem Arm habe ich schließlich die Buchhandlung wieder verlassen. Meine Entdeckungstouren durch Moskau mussten damit langsam zu Ende gehen. Moskau ist eine Stadt, die, außer den bekannten Plätzen, ihre angenehmen und schönen Seiten gerne im Verborgenen hält und entdeckt werden will. Die 14-tägige Weiterreise mit der Transsib von Moskau nach Peking hatte ich über eine Reiseagentur gebucht (GoRussia). Allein der Begriff „Transsibirische Eisenbahn“ weckte in mir die Erwartungen auf ein fremdartiges Abenteuer. Ich dachte an den Bau der Bahn, an die vielen Gefangenen, die dafür in eisigen Wintern und heißen Sommern schuften mussten und an die außergewöhnlichen Vorfälle auf der riesigen Strecke von St. Petersburg bis Wladiwostok. Davon später etwas mehr. Die Agentur hatte Zwischenübernachtungen in Städten wie Jekaterinburg, Irkutsk oder Ulan Bator eingeplant. Ein Tour-Guide würde uns in den Städten in Empfang nehmen um uns mit den interessantesten Aspekten der Gegend vertraut machen. Dadurch wird natürlich die Monotonie der tagelangen Bahnreise durch neue Eindrücke unterbrochen und auch durch einige Hotelübernachtungen gemildert, was mir alles ganz recht war. Der Treffpunkt der ersten Übernachtung war das Katharina City Hotel in Moskau. Ein gutes Hotel, mindestens zwei Sterne besser als meine Unterkunft im Leningrader Bahnhof, allerdings mit einer Besonderheit, die mich noch sehr beschäftigen sollte. Den Vorabend meiner Abreise aus Moskau, dass mir während der letzten fünf Tage immer vertrauter geworden war, verbrachte ich im Paulaner Bierkeller in der Nähe des Hotels. Es gab, in original bayerischem Ambiente, einen zarten Krustenbraten mit Kartoffelknödel und Krautsalat, dazu eine Maß Paulaner Helles. Das würde ich alles die nächsten sechs Monate vermissen, dachte ich. Aber ganz so schlimm sollte es dann doch nicht kommen, denn Sydney oder Brisbane haben auch ganz anständige bayerische Bierkeller. Mit der nötigen Bettschwere ging ich ins Hotel zurück. Es muss gegen 23 Uhr gewesen sein, als zaghaft an meiner Zimmertüre geklopft wurde. Draußen stand eine wirklich attraktive junge Erscheinung, der ich auf ihr hingehauchtes „hello“ mit einem etwas verdutzten „how can I help you“ antwortete. Sie trug Superminis, die meinen Blick auf ihre schönen Beine lenkte. Dazu trug sie eine helle Bluse, die mir freizügig viel ihres üppigen Inhalts zeigte. Im Gegensatz zu dieser eindeutigen Aufmachung wirkte sie mit ihrer scheuen, leisen Stimme und ihrem Wesen irgendwie unsicher, fast ängstlich. Jedenfalls weckte sie in mir mehr väterliche Gefühle als die von ihr offenbar beabsichtigten. Sie hielt ein Smartphone in der Hand, dass sie mir in gutem Englisch für 100 € anbot, weil sie sich damit nicht auskennen würde, wie sie sagte. Trotz der Maß Bier vom Paulaner und der späten Stunde blitzten bei mir schlagartig alle Warnlampen auf und alle Bremsen gingen in Aktion. Vielleicht gestohlen, vielleicht eine Falle, vielleicht eine Geschäftsanbahnung der besonderen Art. Mir wurde heiß und kalt, aber als höflicher und neugieriger Mensch, bot ich meiner Besucherin zunächst einen der beiden Sessel in meinem Zimmer an, auch um das Smartphone zu prüfen. Als sie an mir vorbei in mein Zimmer stöckelte, begleitete sie ein dezenter Duft von Jasmin oder Lavendel, der am nächsten Morgen noch leicht im Zimmer lag. Jetzt konnte ich sie genauer betrachten. Ihr blondes gescheiteltes Haar umrahmte ein angenehmes sympathisches Gesicht. Sie hatte einen blassrosa Lippenstift aufgelegt und wohl vor Aufregung rosa Wangen. Auffallend waren ihre dunkelbraunen hölzernen Ohrringe, die unter ihrem Haar sichtbar wurden und farblich zur Augenfarbe passten. Am besten gefiel mir an Tanja – so hatte sie sich vorgestellt – ihr russisch gefärbtes weiches Englisch. In dem Gespräch, bei dem sie sich immer wieder nervös ihre langen Haare aus dem Gesicht strich, erzählte sie, dass sie an der staatlichen Agraruniversität im ersten Semester Biotechnologie studiert. Sie hätte vom Aussehen her, ohne Weiteres eine gute Schauspielerin abgeben können, wir wissen ja, dass Schauspieler für ihren Beruf gut lügen können müssen. Als sie noch ein Kind war, wurde ihr Vater eines Tages von der Polizei abgeholt und ist seitdem verschwunden. Ihre Mutter sei Rentnerin und verdient mit Hausarbeiten noch etwas dazu. Tanja selbst erhielt ein Stipendium von umgerechnet 20 € im Monat, dass bei Weitem nicht reicht für den Lebensunterhalt einer Studentin in Moskau, wie sie mir mit einem Wahnsinns-Augenaufschlag gestand. Wie dem auch sei, Tanja wirkte überzeugend auf mich. Ich fasste mir also doch ein Herz und, aber hier muss ich noch entschuldigend einflechten, dass Tanja vor mir saß, ihre langen nackten Beine wippend, die roten High Heels lagen am Boden, sie war die Verführung in Person, welcher Mann wird da nicht schwach. Jedenfalls fasste ich mir ein Herz und zog mich aus, nein aber nicht doch, kein finale furioso‘, dass Du liebe Leserin oder lieber Leser jetzt erwarten könntest. Ich zog mich aus dem frivolen Spiel zurück und gab ihr zweitausend Rubel, was ungefähr 25 Euro entspricht und wünschte Tanja alles Gute und eine gute Nacht. Das Geld steckte sie mit einem zufriedenen Lächeln in die Nähe ihres Busens, zog ihre roten High Heels an und verschwand, vielleicht zu einem anderen Zimmer oder auch nicht. Sie hatte mit ihrem Auftritt ohne besonderen persönlichen Einsatz ihr Ziel erreicht, so schien es mir jedenfalls. Ich war dennoch zufrieden, die Ausbildung einer russischen Studentin unterstützt zu haben. Denn das hatte sie mit ihrem aktuellen Studien-Ausweis der Uni nachgewiesen, soweit ich das mit meinen mangelhaften Kenntnissen der kyrillischen Schrift überprüfen konnte. Nach diesem Besuch hatte ich noch viel meinem Tagebuch anzuvertrauen und beschloss aus Sicherheitsgründen nie wieder bei solchen Gelegenheiten die Tür zu öffnen, weil ähnliche Besuche nicht immer frivol, sondern auch sehr unangenehm ausgehen können. Tanja war mir zum Glück wohlgesonnen und schickte mir keinen stämmigen „Beschützer“, wegen eventueller Nachforderungen.
Bild 6 Moskau in der Nähe des Jaroslawer Bahnhofs