Читать книгу Der Totenflüsterer - Dietmar Kottisch - Страница 11

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8.

Paul hatte gestern Abend, am 30. Oktober1980, wieder die Stimme seiner „Freundin“ Esther Reschke gehört. Diesmal hatte er es mit der Radiomethode versucht, und das Ergebnis war wesentlich besser, die Stimme deutlicher, die Mitteilungen etwas länger. Wie von anderen behauptet, bekommen die Freunde dadurch mehr Energie, Schwingungen und Frequenzen, um sich zu manifestieren. Er ging auf die Mittelwelle in die Nähe der Sender Moskau und Wien bei 1480 kHz in ein so genanntes Weißes Rauschen. Er begrüßte seine jenseitigen Freunde wie üblich, hörte plötzlich eine laute Männerstimme >Radar<, und dann brach die Stimme von Esther durch: >Esther grüßt Paul.<

Er wollte herausfinden, wer diese Frau aus Eltville ist, wann sie gelebt hatte, wann sie gestorben ist und andere Dinge von ihr, denn schließlich bot sie sich als seine Kontaktperson an, und schließlich sprach er mit einer Toten! Er hatte zwar auf seine Fragen nach der Zeit vorher wütende Stimmen gehört, gab sich aber nicht zufrieden damit.

„Esther, kannst du mir sagen, wann du gelebt hast, und wann du gestorben bist. Ich möchte es gerne wissen.“

Dann brach ihre Stimme durch. >Esther grüßt lieben Paul…sechsundsechzig…neunzehn…<

„Heißt das, dass du neunzehnhundertsechsundsechzig gelebt hast?“ fragte er.

>Tot in sechsundsechzig ja, neunzehnhundert… Esther sehr traurig…lieber Paul…<

„Du bist also neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben, Esther?“

>Ja…stimmt…<

Pauls Herz schlug schneller. Das war ein Dialogexperiment, eine sofortige direkte Antwort auf seine Frage. Er fühlte, wie sein Blut in Wallung geriet, er schaute immer wieder auf das Tonbandgerät, ob es auch wirklich lief und alles aufnahm. Das war wahnsinnig wichtig. „Warum bist du traurig, Esther?“ fragte er weiter.

>Meine Kinder…Heiner und Lore… traurig, so traurig…..<

Dann brach die Verbindung ab. Er spulte zurück und hörte sich alles noch einmal an, so als könne er immer noch nicht begreifen, was er soeben erlebt hatte. Es war ihm, als habe er mit einer Esther >telefoniert<!

Der Tee war kalt geworden. Er stand auf und ging auf die Toilette. Er schaute in den Spiegel und sah sein leicht erstauntes, fragendes Gesicht. Er würde nach Eltville fahren und im Einwohnermeldeamt versuchen herauszukriegen, was mit Esther war. Er stellte sich eine imaginäre Situation vor, wie er mit der Sachbearbeiterin sprach.

Ich möchte gerne wissen, wo die verstorbene Esther Reschke gewohnt hatte...“

Und warum möchten Sie das wissen? Es gibt schließlich so etwas wie einen Datenschutz, mein Herr.“

Ich habe mit ihr gesprochen, aber nicht viel erfahren.“

Sie haben mit ihr gesprochen? Mit einer verstorbenen Esther Reschke?“

Ja.“

Na dann ist ja alles o.k.!“

Er ging nach oben ins Bett. Klara schlief tief und fest. Er würde morgen weiter einspielen.

Am anderen Abend ging es weiter. Er konnte es gar nicht abwarten, bis die Läden geschlossen und er seine Informationen über die Umsätze hatte. Er begrüßte schnell seine Frau, zog seine Jacke aus und eilte in sein Arbeitszimmer. Klara kam sofort hinterher. „Was ist los, Liebling? Willst du nichts zu essen haben?“

„ Später. Ich bin sehr aufgeregt, ich hatte gestern Abend übers Radio eingespielt und Esthers Stimme klar und deutlich gehört, und längere Sätze als sonst.“

„Und?“ fragte sie verwundert.

„Es war das erste Dialogexperiment, verstehst du? Ich saß da und stellte meine Fragen und sie antwortete; so als würden wir uns gegenübersitzen, oder telefonieren,“ sagte er.

„…und was weiter?“

„Sie ist neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben. Wann genau, muss ich noch herauskriegen. Sie sagte etwas über ihre Kinder, Heiner und Lore. Und dass sie sehr traurig ist.“

Klara blieb eine Weile neben ihm sitzen, schien alles zu überdenken. Dann kehrte sie selbst zu den irdischen Bedürfnissen zurück.

„Ich habe nichts Warmes gemacht, nur ein paar Sandwichs. Die kannst du ja hier nebenbei essen,“ schlug sie vor.

Er nickte, und Klara brachte sie und seinen Tee.

„Wenn du willst, kannst du hier bleiben. Es wird spannend.“

„Nein, danke. Ich bin noch nicht so weit.“ Dann ging sie aus dem Arbeitszimmer.

Er schaltete das Radio ein, hörte das schwache Rauschen zwischen den Sendern, stellte das Mikrophon zwischen Radio und Tonband, steuerte hoch aus, drückte auf Aufnahme und begrüßte seine Freunde, wollte mit Esther sprechen.

> Esther grüßt dich….< kam es sofort singend aus dem Radio. Eine klare und sehr deutliche Stimme.

„Esther, erzähl mir, in welchem Monat du gestorben bist und erzähl von deiner Traurigkeit,“ sprach er. Sekunden vergingen, das Rauschen und Wabern und andere Geräusche erfüllten den Raum, dann brach wieder ihre Stimme durch. >Esther .. gestorben elften April.. sehr traurig wegen meiner Kinder.<

Sein Herzschlag setzte für Bruchteile von Sekunden aus. Selbst die Tasse Tee vibrierte, als er sie zum Munde führte.

Elfter April neunzehnhundertsechsundsechzig, dieser Gedanke ergriff ihn sehr emotional. Und plötzlich wieder ihre Stimme: >Paul sehr aufgeregt….!< Sie empfing seine Gefühle.

Gedanken bedeuten sprechen, sprechen!

„Und was ist mit deinen Kindern?“ fragte er weiter.

Die Antwort war erschütternd, Esthers Stimme schien ihn wie verzerrt zu erreichen. >Hammermörder<.

Dann brach die Verbindung total ab. Paul spulte zurück, notierte die Daten und lehnte sich in seinem Sessel zurück, wartete, bis er sich entspannt hatte. Dann bat er Klara hereinzukommen.

„Du bist blass,“ sagte sie und setzte sich. „Was ist los?“

Die Sandwichs hatte er nicht angerührt, die Teekanne war noch voll.

„Ich muss es dir nicht vorspielen, Schatz, ich sag es dir einfach. Esther Reschke ist am elfen April neunzehnhundertsechsundsechzig gestorben. Dann sagte sie wieder, wie traurig sie ist oder traurig war wegen ihrer Kinder. Ich fragte, was mit ihren Kindern sei. Und krieg` nur eine Antwort: Hammermörder.“

Sie schaute ihn aus großen Augen an.

Nach ein paar Minuten sagte er: „Es könnte bedeuten, dass jemand ihre Kinder mit einem Hammer ermordet hat. Oder was meinst du?“

„Oder sie wurde mit einem Hammer ermordet, und ihre armen Kinder waren ohne Mutter.“

„Ja, könnte auch sein.“

In dem Moment reifte in ihm ein Entschluss. Er hatte Namen, Ort und Zeiten. Und es müsste mit dem Satan zugehen, wenn er nicht herausfinden würde, was damals passierte.

„Das dürfte auch die Kollegen vom Interessenverband interessieren.“

Am nächsten Tag hatten sie ja wieder ihr Treffen in Wiesbaden.

„Ich werde es den Freunden morgen vorspielen.“

Klara nickte. „Das mit dem Hammermörder ist schon ein Hammer, Paul.“

Sie waren alle bis auf Jochen, den Arzt aus Büdingen, vorhanden, er hatte Dienst als Notarzt. Paul erzählte von seinen Einspielungen, die Mitglieder kannten Esther von seinen Erzählungen her, wie auch er andere Verstorbene von den Erzählungen kannte. Es waren sozusagen unsichtbare Mitglieder in dem Verein. Er brühte sich einen Tee auf, andere hantierten an der Kaffeemaschine herum. Es dauerte eine Weile, bis sie alle auf ihren Plätzen saßen, jeder eine Tasse und seine Unterlagen vor sich.

„Beginnen wir mit Neuigkeiten,“ leitete Paul diese zwanglose Sitzung ein. „Zunächst die Sache mit meiner kleinen verstorbenen Schwägerin Sarah.“

Alle nickten und schauten erwartungsvoll zu Paul.

„Meine Frau hat ihr Tagebuch gefunden – und darin wird dieser Äppli erwähnt.

Insofern sind diese Fakten als Anscheinsbeweis zu sehen. Aber es kommt noch doller. Einige Tage später findet sie einen Brief ihrer Schwester an diesen besagten Äppli, der mit richtigem Namen Roland heißt oder hieß, den Nachnamen kennen wir nicht. Diesen Brief hat Sarah nie abgeschickt. Die Gründe möchte ich nicht nennen.

Nun zu den zweiten Neuigkeiten. Ihr wisst, dass Esther Reschke meine Kontaktperson ist und dass sie aus Eltville am Rhein stammt.“

Die Kowalski hat auch einmal in Eltville gewohnt, fiel es Paul ein.

„Das war bis dato alles, was ich wusste. Jetzt habe ich auch über das Radio eingespielt. Und ich muss sagen, der Erfolg ist enorm. Jetzt weiß ich, wann diese Esther gestorben ist, nämlich am elften April neunzehnhundertsechsundsechzig. Und dann sagte sie etwas über ihre Kinder…. und dann hörte ich das Wort Hammermörder.“

In diesem Augenblick bekam Irmgard Kowalski einen Schwächeanfall. Sie wurde blass, rieb sich die Stirn, stammelte: „Mir ist so komisch…verflixt.. mein Kreislauf…was ist das?“ Dann kippte sie zur Seite und konnte gerade noch von Dieter Schelling aufgefangen werden. Er legte sie sachte auf den Boden. Die anderen sprangen von ihren Stühlen auf. „Verdammt, der Doktor muss ausgerechnet heute nicht da sein…“ rief Reinhard Drechsler, lief zur Spüle, hielt ein Taschentuch unter kaltes Wasser und legte es der Frau auf die Stirn.

„Die Beine hoch,“ rief Paul,

„..und, den Kopf flach halten,“ rief Franziska.

„..ich hab keine Ahnung..“ sagte Dieter, und gab der armen Irmgard in Erinnerung an irgendeine Kinoszene ein paar Ohrfeigen. In den nächsten Sekunden schlug sie wieder die Augen auf.

„Ich sag`s ja, mit Gewalt geht alles….“

Dann erhob sie sich leicht benommen und nahm auf ihrem Stuhl wieder Platz. Vier Augenpaare starrten sie an. „Was war denn?“

Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“

Nach einer Weile fragte Paul: „Kann es sein, dass es mit dem eben Genannten zusammenhängt?“

Sie verdrehte die Augen, überlegte.

„Du hast doch mal in Eltville gewohnt, soviel ich weiß…“

Sie atmete schwer. Dann nahm sie das nasse Taschentuch von der Stirn.

„Jetzt erinnere ich mich.“ Sie drückte das Taschentuch in ihrer Hand.

„Es war ein Tag bevor wir aus Eltville nach Bad Homburg zogen, im April sechsundsechzig. Ein Drama! Mein Mann und ich hatten alle Hände voll zu tun mit unserem Umzug, deswegen weiß ich nicht mehr, was damals passierte.“

„Und du hast dich auch später nicht mehr dafür interessiert?“

„Nein. Der Umzug, die neue Stelle meines Mannes, und das alles waren für mich wichtiger. Außerdem kannte ich die Leute nicht persönlich, also vergaß ich das Ganze.“

„Ich werde der Sache nachgehen,“ versprach Paul, „..und sag Euch dann Bescheid.“

Anfang November fiel der erste Schnee, als Paul und Klara in ihrem BMW auf die Autobahn A66 Richtung Wiesbaden fuhren. Kurz hinter Hattersheim kamen sie wegen eines Unfalls in einen Stau, der sie eine halbe Stunde Zeit kostete. Dann wechselten sie auf die Bundesstrasse 42 und fuhren direkt nach Eltville. Da sich die Autofahrer erst wieder an diese winterliche Witterung gewöhnen mussten und wegen des Staus, brauchten sie über 2 Stunden. Paul hatte am Tage zuvor die <Rheingauer Gazette> angerufen und sich erkundigt, ob sie einen Blick in ein paar ältere Ausgaben werfen könnten. Natürlich, kein Problem, sagte die Frau am Telefon. Die >Rheingauer Gazette< war das Blatt in dieser Gegend. Davon versprach er sich die meisten Informationen. Gegen zwölf Uhr kamen sie an und fuhren gleich auf den Parkplatz der Zeitung und gingen in die Redaktion. Natürlich wollte die ältere Dame, Frau Weil, wissen, weshalb man sich für Esther Reschke interessiere.

Sie sei eine weit entfernte Verwandte, log Paul. Sie kämen erst jetzt aus den Staaten zurück und wollten Näheres wissen.

„Ich bin über zwanzig Jahre bei der <Gazette>,“ sagte Frau Weil, die eine Brille mit dicken Gläsern trug, „..und ich kann mich an dieses Drama damals erinnern. Es ist mittlerweile vierzehn Jahre her.“

Paul nickte. „Dann möchten wir uns die damaligen Ausgaben einmal ansehen,“ drängte er. Frau Weil erhob sich und ging voran. „Kommen Sie, gehen wir ins Archiv.“

Das Archiv lag im Keller. Der Raum war gelb getüncht, eine Neonröhre an der Decke spendete genügend Licht, um lesen zu können. Sie hatte bereits fünf Zeitungen vom April 1966 herausgesucht und sie auf den Tisch gelegt. „Damit Sie nicht elendig lang suchen müssen, Herr Klein.“

Paul bedankte sich, er und Klara nahmen Platz, und Frau Weil ließ sie allein. Der Aufreißer vom elften April begann mit der Schlagzeile >Hammermörder erst 14 Jahre alt<.

Paul fühlte, wie sein Herz heftig schlug, als er das Gesicht von Esther vor sich sah. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, die Frau zu sehen, die schon lange tot war und trotzdem seit vier Jahren zu ihm sprach. Sie hatte ein schmales Gesicht, kurze schwarze Haare, dunkle, ausdrucksvolle Augen und einen sinnlichen Mund. Ihr Blick wirkte reserviert. Unwillkürlich schaute er zur Decke, als wolle er sagen: „Jetzt kenn ich dich besser, Esther“. Seine Hände zitterten so sehr, dass es Klara auffiel. „Ist schon komisch, was Paul?“ flüsterte sie, und Paul nickte nur. Und beide saßen da und starrten auf den Bericht.

Eltville, 11.April 1966. Hammermörder erst 14 Jahre alt.

Am Abend des 10. Aprils 1966 ereignete sich hier in Eltville eine Familientragödie. Der arbeitlose Kraftfahrer Wilhelm R. (39), der durch seinen übermäßigen Alkoholkonsum erst seinen Führerschein und dann seine Arbeit verloren hatte, misshandelte über Jahre seine ganze Familie. Seine Frau E.(32) musste ihren Lohn als Verkäuferin abliefern, damit er sich seinen Schnaps besorgen konnte. Im Rausch verprügelte er sie bei jeder Kleinigkeit. Seinen Sohn H.(14) und seine Tochter L.(10) misshandelte er ebenso.

Als sich an jenem Abend seine Frau E. weigerte, ihm Geld zu geben, weil sie Lebensmittel einkaufen musste, schlug er sie so hart ins Gesicht, dass sie mit dem Kopf an eine Tischkante stürzte und ohnmächtig liegen blieb. Er nahm ihr das Geld ab und ging in seine Kneipe. Sein Sohn H. rief den Notarzt an, der die Frau sofort ins St.Josefs-Hospital in Wiesbaden einliefern ließ. Dort verstarb sie am frühen Morgen des elften April. Als der Vater nach Hause kam und sich volltrunken ins Bett legte, erschlug ihn sein Sohn mit einem Hammer.

Dann sahen sie das Foto eines Mannes. Darunter: „Wilhelm R.(39)“.

Er hatte ein schmales Gesicht, dunkle Augen, glatte, nach hinten gekämmte Haare, eine gerade Nase und enge, zusammen gepresste Lippen.

Esthers Worte liefen wie ein Spruchband vor seinem inneren Auge ab:

<Esther sehr traurig…lieber Paul>

<Meine Kinder Heiner und Lore…traurig…>

<Hammermörder>

„Ihr Sohn Heiner hat also ihren Mann getötet…,“ flüsterte Klara.

„Mir ist kotzübel…. Ich muss hier raus…..!“

Er stand auf und ging die Treppe hoch. Frau Weil sah ihn. „Sie möchten nach draußen, Herr Klein?“

„Ja, bitte. Ich muss nur etwas frische Luft schnappen.“ Seine Worte waren mehr ein Krächzen. „Schlimm, so was, nicht wahr?“

„Grausam!“

„Ich kann mich gut daran erinnern.“

Paul wollte nicht mit ihr reden und eilte zum Ausgang. Draußen blieb er stehen und atmete einmal tief durch. Die kalte Winterluft tat ihm gut. Fünf Minuten später kam Klara nach. Sie standen nebeneinander da und schauten auf die Durchgangsstrasse und auf den Verkehr. „Es ist, als wären Esther und ihre Kinder unsere Freunde….,“ sagte sie und steckte die Hände in die Manteltaschen. Sie sind es…irgendwie, dachte Paul.

„Ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen.“

Paul hatte vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. In kritischen Momenten seines Lebens überkam ihn die Lust, aber immer blieb er hart gegen sich selber, denn die Zeiten der Entwöhnung waren auf Kosten seiner Nerven zu teuer erkauft.

Klara hatte nie geraucht.

Nach ein paar Minuten gingen sie wieder hinein. Frau Weil beobachtete sie neugierig. Arme Verwandte, sagte ihr Blick.

In der übernächsten Ausgabe kam die Fortsetzung der Tragödie.

Der 14jährige Heiner R. erzählte den Kripobeamten, unter welchen grausamen Bedingungen er, seine Schwester Lore und seine Mutter leben mussten. Der Vater Wilhelm R. habe seine Schwester jeden Tag verprügelt und noch andere Dinge mit ihr angestellt. Näheres wollte der Junge, der noch unter Schock stand, nicht sagen. Er selber habe bereits gezittert, wenn er seinen Vater nur im Hausflur hörte. Die Szene an diesem Abend war für die Kinder alltäglich. Wenn der Vater herumbrüllte und herumtobte, verkrochen sie sich und mussten zusehen, wie er ihre Mutter drangsalierte. Nachdem sie mit dem Kopf gegen eine Tischkante gestürzt war und regungslos liegen blieb, nachdem der Vater Wilhelm ihr das Geld aus der Tasche genommen hatte und nach draußen gegangen war, rief der Junge einen Notarzt an, der mit seiner Mutter sofort ins Krankenhaus fuhr. Die Nummer dieses Notarztes hatte der Junge immer parat!

In dieser Nacht muss in ihm die ohnmächtige Wut so mächtig geworden sein, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah, als den Vater zu töten. Als er sah, wie der Mann betrunken in die Wohnung torkelte und sich gleich ins Bett warf, holte er aus der Werkzeugkiste einen Stielhammer. Dann ging er ins eheliche Schlafzimmer und zertrümmerte seinem Vater mit 20 Schlägen den Kopf. Einem Reporter gelang es, Fotos der Polizei in die Hände zu bekommen.

Heiner R. wurde in die „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters Rheinhöhe“ in Eltville-Erbach gebracht. Um seine Schwester Lore kümmerte sich zunächst das Jugendamt.

Auf einem Foto war das zerschmetterte Gesicht eines Mannes zu sehen, die demolierte Kinnlade, der offene Mund ohne Zähne, einige lagen auf dem Bett, viel Blut, geschwollene, weit aufgerissene Augen, kaputte Nase.

Klara und Paul erschauderten.

„Heiner müsste heute ….achtundzwanzig sein, und Lore vierundzwanzig,“ flüsterte Klara und faltete ihre Hände und stützte ihr Kinn darauf.

„Was müssen diese Menschen durchgemacht haben in ihrem Leben,“ stöhnte Paul. „Lass uns gehen. Lass uns einen Tee trinken.“

„Frag, ob du von den Artikeln eine Fotokopie machen kannst.“

„Warum?“

„Überleg doch mal, Paul. Für deine Unterlagen, für Wiesbaden, für die Beweise deiner These, dass die Stimmen identisch sind mit einer wirklichen Person.“

Er rieb sich die Stirne. „Natürlich, du hast Recht.“

Sie erhielten die Erlaubnis, Fotokopien machen zu dürfen. Der Kopierer stand in einem anderen Raum. Sie kopierten die Berichte und steckten sie in einen Umschlag. Dann blätterten sie die anderen vier Ausgaben durch und kopierten auch diese Artikel, die sie zu Hause lesen wollten.

Eine Viertelstunde später bedankten sie sich, und verließen das Gebäude. Draußen fiel weiter Schnee. Sie gingen in ein Cafe in der Nähe.

Paul bestellte sich einen Tee, und schüttelte den Kopf, als er einen Beutel in einem Glas bekam, und schüttelte weiter den Kopf, als auf der Untertasse ein Stück Zitrone lag. „Keine Kultur!“ brummte er. Klara bestellte sich einen Espresso. Sie saßen da und waren in Gedanken versunken.

„Wenn wir schon hier sind, „sagte Paul, „sollten wir auf den Friedhof gehen, zu ihrem Grab, was meinst du?“

„Frag doch bitte die Frau, ob sie weiß, wo Esther liegt.“

Paul nickte. Er trank seinen Tee und stand auf. „Zahl du bitte, wir treffen uns in fünf Minuten hier.“

Klara brauchte nicht lange zu warten, er kam sofort wieder. „Auf dem Friedhof Königstädten liegt sie.“

Sie fuhren hin, parkten den Wagen und gingen in das Büro der Friedhofsverwaltung. Ein junger Mann, wahrscheinlich Student, schaute sie konsterniert an, als Paul die Grabstätte von Esther Reschke wissen wollte.

„Wann ist sie denn beerdigt worden?“ fragte er und legte sein mit Käse belegtes Brot zur Seite.

„Um den dreizehnten, vierzehnten April herum.“

„Neunzehnhundert?“ Er griff nach einem Kugelschreiber und knabberte an ihm herum.

„Sechsundsechzig…..“

„Wann? Sechsundsechzig? Du meine Güte, die Unterlagen liegen in einem anderen Raum. Das ist ja eine Ewigkeit her…..“

„Das ist ja auch für die Ewigkeit gedacht,“ erwiderte Paul, der merkte, dass dem jungen Mann jeder Handgriff zu viel war. „Aber Sie sind ja die Liebenswürdigkeit in Person und schauen mal nach, ja?“

Die Liebenswürdigkeit erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl, schraubte die Thermoskanne zu, als habe er Angst, Paul und Klara würden ihm seinen Kaffee wegtrinken. Dann schlürfte er aus dem Raum. Paul und Klara setzten sich auf die Stühle und warteten. Nach etwa sieben Minuten schlürfte er wieder zurück und hielt einen Zettel in der Hand. „Abschnitt D, Gang vierzehn, Grab sechshundertneunundachtzig, wenn’s Recht ist.“

„Es ist uns sehr recht.“

Zehn Minuten später standen sie vor Esthers Grab. Ein einfacher Stein verkündete die Worte: "Jetzt hast Du Frieden Esther 1934 – 1966". Und in der Mitte des gut gepflegten Grabes steckte eine Vase mit frischen Astern.

Zu Hause öffnete Paul seine kleine Ledertasche, in die er die Kopien der Zeitungsausschnitte gelegt hatte. Er wollte die restlichen Ausgaben durchlesen, während Klara Tee kochte.

Dann kam sie mit der Kanne und den Tassen. Sie setzte sich an den Tisch zu Paul und schenkte Tee ein. Nach einer Weile der Besinnung sagte sie: „Mir wird jetzt erst so langsam bewusst, was wir machen. Wir erforschen ein Leben, das vor langer Zeit zu Ende gegangen ist – und stellen fest, dass es gar nicht zu Ende ist, dass es im üblichen Sinne kein Ende gibt.“

„Ein Kreis hat keinen Anfang und kein Ende,“ sinnierte er und begann die Kopien der Zeitungsausschnitte zu lesen.

Unser Reporter befragte die Nachbarn. Fast alle sagten aus, dass schon seit langem in dieser Wohnung Streit, Kräche, Flüche zu hören waren. Auch haben sie oft gehört, wie er brüllte, dass er sie alle umbringen wolle. Die Ehefrau Esther R. wurde oft mit einem blauen Auge gesehen. Die Kinder flüchteten manchmal abends aus der Wohnung. Sogar das Sozialamt wurde informiert, das aber nicht eingreifen konnte oder wollte. Der Ehemann Wilhelm wurde oft von der Polizei aufgegriffen, weil er nachts betrunken auf der Strasse randalierte.

Die Schwester der Verstorbenen, I. K., war zu keiner Aussage bereit.

Und plötzlich stutzte er.

„Ich glaub es nicht. Ich glaub es einfach nicht,“ rief er. Klara blickte auf und beugte sich zu ihm.

„Hier. Da hat ein Reporter versucht, die Schwester von Esther zu interviewen. Hier, siehst du das Bild? Hier.. die Frau in der Haustüre! Der Reporter wollte sie interviewen, aber sie hatte nichts zu sagen, gar nichts. “

„Ja? Kennst du sie?“

„Natürlich, das ist eine Frau aus unserer Gruppe in Wiesbaden. Sie heißt Irmgard Kowalski.“

Er schüttelte den Kopf. Dann legte er die Kopie zur Seite und schaute Klara an.

„Diese Irmgard hatte einmal in Eltville gewohnt. Als ich bei unserem letzten Treffen davon berichtete, was Esther mir mitteilte, klappte sie zusammen, ein Schwächeanfall, wie sie sagte. Sie hat uns aber nicht gesagt, dass Esther ihre Schwester ist. Sie hat sogar gesagt, sie kenne die Leute nicht.“ Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort. „Jetzt kann ich es verstehen. Wer bekennt sich gerne zu einer Familie, in der der Neffe den Vater ermordet hat?!“

„…und in der der Schwager ein Alkoholiker und brutaler Schläger ist…..“ ergänzte Klara. Paul nickte. „Sie hat sich einfach geschämt.“

Der Totenflüsterer

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