Читать книгу Der Totenflüsterer - Dietmar Kottisch - Страница 7

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4.

Seit ungefähr dreißig Jahren träumte er immer wieder denselben Traum, er sah ein totes Babygesicht, das plötzlich die Augen öffnete und sich zur hässlichen Fratze verwandelte. Dann wachte er schweißgebadet von seinem eigenen Schrei auf.

Er erinnerte sich an eine Begebenheit in seiner Kindheit. Da gab es die Geschichte vom Flaschengeist. In seiner Fantasie hatte sich das Bild festgesetzt, dass dieser Flaschengeist sich ausdehnen könnte, um die Flasche zu sprengen. Dahinter verbarg sich eine latente Wut, eine Aggression von großem Ausmaß, die nach Befreiung schrie, die das Glas zersprengen wollte. Er hatte große, unerklärliche Schuldgefühle.

Durch diesen immer wiederkehrenden Traum entwickelten die Psychologen die These, dass Paul in der frühen Kindheit etwas Schlimmes erlebt haben musste. Er habe sie verdrängt, aber das Erlebte arbeite unbewusst weiter, wolle nach oben ins Bewusstsein steigen. Die Psyche jedoch schütze sich davor und hielt es in einer Schublade fest.

Außerdem gab ihnen ein Traum, der immer denselben Inhalt hatte, ein Rätsel auf.

Aber seine Mutter, als sie noch lebte, berichtete ihm, er habe eine normale, liebevolle Kindheit gehabt. Es gäbe nach ihrem Wissen kein Erlebnis, das solch schlimme Alpträume auslösen könne.

Ab und zu kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht deshalb enormes Interesse an Verstorbenen hatte, dass er deswegen über das Tonband in ihre Welt eindringen wollte.

Auch Klara beobachtete diese Erscheinung mit großer Sorge. Sie war zwar immer anwesend, wenn er von Alpträumen gebeutelt schreiend aufwachte, konnte ihn zwar auch beruhigen, aber wirklich helfen konnte sie ihm nicht.

Auch seine frühere Verlobte Anne bekam selbst Todesängste, wenn sie ihn so schreien hörte.

Paul dachte an Hypnosesitzungen, die ihm Aufschluss geben könnten, verwarf aber den Gedanken wieder. Spukschloss Seele, sagte er sich. Keiner weiß genau, was in den inneren Tunneln des Unterbewusstseins vor sich ging.

Abgesehen davon, ist und bleibt das Leben ein Rätsel, dachte er. Und da er ein Mensch war, der sich nicht damit zufrieden gab, einfach da zu sein, wollte er wissen, was nach dem leiblichen Tod kam.

Da verfolgte er eines Tages eine Fernsehsendung, als ein deutsches Team nach Schweden fuhr und diesen Jürgenson besuchte. Er war wie elektrisiert, einen Blick in jene Welt zu werfen, von der niemand etwas wusste, viele aber daran glaubten, oder glauben wollten, dass es sie gibt.

Paul war davon überzeugt, dass es sie gibt, diese Sphäre der Geistigkeit nach dem Tod. Er war fest davon überzeugt, dass es hier auf dieser Welt keine Sinnlosigkeit gibt, dass alles seinen Sinn hat, und sei er noch so grausam. Er konnte anderen Menschen einen Trost geben, wenn sie jemanden verloren haben oder wenn sie an ihren eigenen Tod dachten. Und dieser Trost bestand in ganzen vier Worten: das Leben geht weiter. Die Stimmen, die er und viele seiner Freunde auf dem Tonband festhielten, waren ein Anscheinsbeweis.

Raudives Einspielungen wurden von 2 wissenschaftlichen englischen Gremien unter strengsten Bedingungen untersucht und für paranormal erklärt: Angesichts der Ergebnisse der Tests findet etwas statt, was wir mit unseren normalen physikalischen Begriffen nicht erklären können. Die Stimmen waren Fakten, die Interpretationen blieben offen. Betrug wurde durch die Tests ausgeschlossen.

Auch für Paul gab es nur eine einzig mögliche Interpretation, nämlich dass es die Verstorbenen sind, die sich manifestieren. Wer anders sollte es denn sein? Wer anders als die uns bekannten Toten konnte sich mit Namen und Informationen melden und sich dadurch zu erkennen geben!?

Paul erinnerte sich. Im Ladengeschäft in Frankfurt passierte im Frühjahr eines der zeitübergreifenden Phänomene. Paul saß im vierten Stock in seinem Büro. Zu dieser Zeit wurde unten auf der Strasse das Pflaster herausgerissen und erneuert. Dadurch drangen die Geräusche der einzelnen Maschinen, Kräne und Motoren und Arbeiterstimmen auch zu ihm hinauf. Er ließ sich trotzdem nicht davon abhalten, auch dort in seinem Büro Tonbandstimmeneinspielungen zu machen.

Es war am 22. August 1976, einem regnerischen Tag, als er das Band einschaltete und ins Mikrophon sprach: „Kann ich Konstantin Raudive sprechen?“

Konstantin Raudive, 1974 gestorben, war einer der ersten Tonbandstimmen-Forscher neben dem Schweden Friedrich Jürgenson , also eine Koryphäe und ein Avantgardist der Forschung.

Paul spielte drei Stimmen ein. Erst hörte er eine Männerstimme: >Konstantin Raudive<, dann eine Flüsterstimme <Konstantin> mit Betonung auf <Ko> und dann: <ja, ich bin da>.

Er trug die Einspielung mit den genauen Daten, Datum, Uhrzeit, Bandlaufnummer und Bandnummer in sein Buch ein.

Er tippte diese Einspielung in die Schreibmaschine und ließ sie in der nächsten Ausgabe seines Mitteilungsblattes als Erlebnisbericht veröffentlichen. Der Text lautete wie folgt.

„Am 22. August 1976, um 12.45 Uhr machte ich in meinem Büro in Frankfurt/Main Einspielungen. Unten auf der Strasse befand sich eine Baustelle mit ihren diversen Geräuschen. Ich rief Konstantin Raudive an. Kurz darauf brachen 3 Stimmen ein: 1) <Konstantin Raudive>, eine dunkle Männerstimme. 2) eine Flüsterstimme: <Konstantin> mit der Betonung auf Ko und 3) eine Männerstimme: < ja ich bin da>. Es blieben auf Grund der lauter werdenden Baustellengeräusche weitere Einspielungen ergebnislos.“

Das Mitteilungsblatt erreichte nun auch ausländische Forscher und Experimentatoren, die die Erfahrungen der Kollegen zur Kenntnis nahmen und auch selbst Mitteilungen machten, die veröffentlicht wurden.

Im September 1976 bekam Paul Post. Er öffnete den dicken Umschlag und entnahm ihm einen Brief und eine kleine Kassette. Der Absender war der Engländer Antony Hall aus Bridlington in Nordengland. Darin schrieb er, dass er am 23.August 1976 um 18. Uhr eine Einspielung gemacht hatte (Dialogexperiment, das heißt direkte Antwort) und den Inhalt zunächst nicht einordnen konnte. Er wollte Kontakt mit Konstantin Raudive, und eine sehr laute und deutliche Stimme brach durch: >Muss Raudive an der Baustelle warten oder wartet<. Er konnte mit dieser Aussage zunächst nichts anfangen. Nachdem er später in besagtem Mitteilungsblatt des Interessenvereins Pauls kurzen Bericht gelesen hatte, wusste er Bescheid. Konstantin Raudive nahm Bezug auf eine damalige Einspielung in Frankfurt unter den störenden Baustellengeräuschen.

Paul staunte. Er ging in die Küche und brühte sich einen neuen Tee auf. Dann legte er die Kassette in sein Radiofach und drückte auf Play. Er hörte die englisch sprechende Stimme von Antony Hall und dann eine sehr laute und deutliche Stimme inmitten von kratzenden Radiogeräuschen: < Muss Raudive an der Baustelle warten>!

Da wollte er am 22.August 1976 in Frankfurt Kontakt mit Raudive haben, und am dreiundzwanzigsten August meldet sich dieser tote Raudive an der Nordostküste Englands bei einem anderen Mensch und verweist auf die Baustelle, an der er warten musste.

Das würde er in der nächsten Versammlung in Wiesbaden vorspielen, es war einfach phänomenal! Das Dialogexperiment, also die direkte Antwort ist wie ein Telefongespräch. Antony Hall spricht ins Mikrophon und hört sofort die Antwort aus dem Radio; und alles wird aus Gründen der Nachprüfung auf Tonband aufgenommen.

Sie hatten sich an einem Freitagabend bei einem guten Essen im italienischen Restaurant >Da Nino< wieder über die Stimme von Sarah unterhalten. Für Klara war es ein immerwährendes Thema geworden, obwohl sie stets mit sehr gemischten Gefühlen daran dachte. Paul trug das Argument vor, man solle diesen damaligen Freund ihrer Schwester irgendwie ausfindig machen.

„Das wird schwer. Ich weiß nur noch, wie der Ort hieß, in dem wir Urlaub gemacht hatten, es war eine kleine private Pension in der Nähe von Bern, Ostermundigen hieß er. Wir sind fast jedes Jahr dorthin gefahren. Meine Eltern und die Wirtsleute hatten sich im Laufe der Zeit angefreundet.“

Sie stocherte mit der Gabel auf dem Salatteller herum.

„Außerdem war es billig.“

„Die Wirtsleute gibt`s wahrscheinlich nicht mehr, oder?“

„Die sind Jahre später gestorben.“

„Und dieser Äppli, du erinnerst dich an ihn?“

„Ja, er war ein reizender Junge, ein, zwei Jahre älter als Sarah. Auch ich hab mich in ihn ein bisschen verliebt. Aber Sarah war richtig verknallt in ihn. Er kam fast täglich mit dem Fahrrad nach Ostermundigen, und die beiden trafen sich heimlich. Meine Eltern durften nichts wissen davon. Ich verstehe, dass es andere Beweise geben muss, damit die Sache richtig untermauert ist. Aber ich glaube nicht, dass wir ihn aufstöbern können.“

„Gibt es Briefe von ihm?“

„Ich weiß nicht. Ich habe damals, als ich das Haus verkaufte, alle persönlichen Sachen in einen Koffer gepackt. Ich konnte sie nicht wegwerfen, konnte sie aber auch nicht mehr sehen, das tat so weh, verstehst du?“

„Also besteht die Möglichkeit, dass es Briefe gibt von diesem Äppli. Wenn wir sie finden, untermauern wir unsere These, dass es Sarah ist, die sich gemeldet hat. Würdest du…. oder hättest du die Kraft, in dem Koffer nachzusehen?“ Er nahm einen Schluck Wein.

Klara stocherte weiter auf ihrem Teller herum. „Ich kann mich erinnern, dass meine Schwester damals ein Tagebuch geführt hatte. Ob es noch vorhanden ist, weiß ich nicht.“

Sie trank auch einen kleinen Schluck Rotwein. Ihre Wangen hatten eine rötliche Farbe, Paul nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie: „Du siehst unglaublich sexy aus … wenn du Rotwein getrunken hast, ich könnte dich jetzt hier im Lokal …..“

„Klar! Wenn sie in diesem Tagebuch ihren Äppli erwähnen würde, wären wir einen großen Schritt weiter,“ ignorierte sie schamhaft seine Bemerkung.

Der Kellner fragte, ob er noch eine Flasche Wein bringen sollte. Paul schüttelte den Kopf. Aber die Rechnung könnte er bringen.

Kaum hatten sie die Haustüre geschlossen, schob er ihren Rock nach oben. Klaras Reaktion war ein herzhaftes Quieken, was ihn noch mehr antörnte. Er hob sie hoch, warf sie über seine rechte Schulter und trug sie ins Wohnzimmer und legte sie auf den Teppich.

Sie lachte laut… „lass uns ins Bett gehen, Paul, bitte….“

„Nein, hier bleibst du jetzt…“ befahl er, und seine Stimme hörte sich an, als wäre Widerspruch sinnlos.

Etwa eine Stunde später ging Paul in sein Arbeitszimmer, allerdings nicht der Tonbandstimmen wegen, sondern weil er auch noch einige Büroarbeiten für seine Läden zu erledigen hatte. Er schrieb ein paar Überweisungen für morgen und überprüfte seine Kontoauszüge, wobei für einige Momente seine gute Laune verschwand.

Sein Büro war dreißig Quadratmeter groß. Der riesige Schreibtisch aus 1,5 cm dickem Glas stand vor dem Fenster. Rechts standen seine Tonbandmaschine, zwei Lautsprecher und das Mikrofon. In der Mitte stand die Schreibmaschine. Links war ein freier Platz für sonstige Papiere, für seine Teetasse, das Telefon. Die Wände waren weiß getüncht. Bis auf fünf Worpsweder Keramikplatten und einem eingerahmten Spruch (Der Himmel hilft niemals solchen, die nicht handeln wollen, Sophokles 497-406 v.Chr.), sowie 3 Kupferstiche Tee aus 1790, waren sie ohne Behang. Linker Hand von der Eingangstüre stand ein großes Regal für seine Ordner. Auf einem kleineren Glastisch links befand sich das Faxgerät und der Fotokopierer. Als Lichtquelle dienten drei Bürolampen auf den Tischen.

Klara beschäftigte sich mit dem Gedanken, den alten Koffer zu öffnen – und die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Zuerst aber dachte sie an den Liebesakt im Wohnzimmer auf dem Teppich. Er kam ihr etwas gewaltsam vor, aber nicht unbedingt unangenehm.

Sie ging nicht gleich auf den Dachboden, sondern setzte sich ins Wohnzimmer und überlegte. Sie musste die Barriere in ihrem Kopf überwinden, das war wichtig, für sie selber und auch für Paul. Je größer die Wahrscheinlichkeit war, dass Sarah zu ihr gesprochen hatte, desto kleiner wurde der Schmerz der Trennung, den sie neunzehn Jahre in sich hatte. Sarah lebt weiter, sagte sie sich immer wieder, sie hat sich gemeldet und sich zu erkennen gegeben mit dem Stichwort Äppli. Dreiunddreißig müsste sie jetzt sein. Seit dem Tod der Schwester erinnerte sie sich neunzehn Jahre lang an sie in einer trauernden Stille. Sarah existierte nur noch in Gedanken. Und jetzt plötzlich war sie wieder irgendwie existent!

Wer sollte das auf dem Tonband sonst gewesen sein? Wer?

Sie ging in den ersten Stock. Von da aus gelangte sie zum Dachboden, der als kleiner Stauraum genutzt wurde. Sie öffnete die Eingangsluke, holte die ausziehbare Leiter herunter und kletterte nach oben. Der Stauraum war niedrig, und sie musste sich bücken, um ein paar Meter zu den Koffern zu gelangen. Sie sah diesen rotbraunen Koffer auf den ersten Blick. Sie hatte damals jene letzten persönlichen Sachen hineingetan, die sie nicht wegwerfen, die sie aber auch nicht mehr betrachten konnte. Sie angelte den total verstaubten Koffer hervor und schleppte ihn zur Leiter. Dann stieg sie wieder vorsichtig herunter, ging ins Wohnzimmer und legte ihn auf den Fußboden. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Sie wischte den Staub und ein paar Spinnenweben ab und öffnete ihn. Vor ihr lagen die kärglichen Überreste eines vierzehnjährigen Lebens. Es waren Zeugnisse, Briefe, Sarahs Geburtsurkunde, ihr Kinderausweis, Freischwimmerzeugnis, ein paar Fotos von ihnen beiden und von der Schulklasse, und der <Silvia-Roman>, den sie zuletzt gelesen hatte.

Klaras Hände zitterten, als sie es sah. Es war ein rotes kleines Büchlein. Sie nahm es heraus, setzte sich auf die Couch und schlug es auf. Auf der Innenseite des Deckels stand mit verblasster Tinte in Sarahs Handschrift >Tagebuch von Sarah Schuster<, dann auf der rechten ersten Seite die Jahreszahl 1960. Da war sie dreizehn Jahre alt, dachte Klara. Sie konnte sich erinnern, dass sie sich gerne ins Zimmer zurückgezogen hatte und ins Tagebuch schrieb. Das war ihre kleine intime Welt, da standen mit Sicherheit ihre geheimen Gedanken, die selbst Klara nicht wissen durfte, und sie wollte sie auch heute noch nicht lesen. Sie blätterte weiter, sah die kleine nach links gerichtete Handschrift, suchte nur nach einem Namen, suchte nach Äppli. Die Buchstaben kamen ihr verschwommen vor, und es war schwer, sie zu übersehen und den Inhalt nicht wahrzunehmen. Sie spürte, wie ihre Augen nass wurden, und sie blätterte weiter. Plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihre Schwester könne sie beobachten. Sie hielt für einen Moment inne, dann blätterte sie weiter. Erst sind es Wortfetzen und Daten – dann kam sie nicht umhin, ganze Sätze zu lesen.

<Mutti will mir ein neues Kleid kaufen, aber Papa sagt, er habe jetzt kein Geld>

<meine Noten sind nicht besonders gut, in Mathe könnte ich besser sein, aber ich hab keine Lust. Sie drohen mir mit Hausarrest, wenn ich mich nicht bessere. >

<Klara hat mich verpetzt bei Mutti…>

Was könnte das wohl gewesen sein, da sie es nicht ausgeschrieben hat, fragte sich Klara.

<30.Juli 60. Hab gestohlen, hab Mutti 5 Mark aus der Geldbörse gestohlen weil ich Mitleid hatte mit den Justus Kindern, hab ihnen was zu Essen gekauft>

Oh Gott, dachte Klara, was war das damals für ein Theater, weil Mama fünf Mark fehlten. Ich habe nicht ahnen können, dass es Sarah war, und erst recht nicht, dass sie anderen damit geholfen hatte. Die Justus Kinder waren sehr arm, hatten kaum was zu beißen. Fünf Mark waren damals viel Geld, wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter vielleicht achtzig Mark Wochenlohn hatte. Es hat nicht viel gefehlt, dann hätten wir gewaltigen Ärger bekommen. Aber letztendlich glaubte Mutter, sie habe das Geld selbst verloren.

Unter dem 1.August hatte Sarah plötzlich ein flammendes Herz gemalt.

< 3.August. Die Ferien sind zu Ende. Unser Urlaub in Ostermundingen war herrlich!> Wieder ein flammendes Herz, und Klaras Herz begann zu rasen. Sie blätterte die Seite um.

> Ein neuer Junge in der Parallel-Klasse, Albert. Er schwärmt von meinem Schwesterherz. Er ist ein bisschen eigenartig.<

Klara entsann sich. Albert war zwei Jahre älter als Klara, weil er sitzen geblieben war, außerdem stotterte er und war außergewöhnlich nervös.

> 8. August. Wie schön….. Ich denke immerzu an Äppli.<

Ihr stockte der Atem.

Ich denke immerzu an Äppli“

> 1.September. Die Eltern machen einen Aufstand, weil wir bis 10 Uhr wegwollten. Um 8 müssen wir daheim sein<

<4.September 1960, Äppli hat geschrieben, ich hab den Brief zehnmal gelesen und ihn unter mein Kopfkissen gelegt, Äppli ist soooo süß>.

Sie legte das Tagebuch zur Seite. Wir brauchen diesen Äppli gar nicht zu suchen, dachte sie, wir haben den Beweis in Sarahs Tagebuch. Nach ein paar Minuten stand sie auf und ging mit dem Tagebuch in Pauls Arbeitszimmer.

Er hatte seine Kopfhörer wieder aufgesetzt und lauschte und schrieb. Sie berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Paul drehte sich um und nahm die Kopfhörer herunter.

Klara legte den Beweis aufgeschlagen vor ihn hin. „Lies!“

Paul sah den Satz und nickte. „Voller Erfolg. Wir brauchen nur noch den Brief.“

Sie setzte sich auf den Stuhl. „Und wenn sie ihn zerrissen hat? Aus Angst vor den Eltern? Unser Vater war streng.“

„Ich glaube nicht mal, dass sie ihn zerrissen hat, Schatz. Vielleicht gut versteckt. Wir sollten ihn finden. Das Tagebuch an sich ist schon zweifellos ein gutes Indiz, aber der Brief wäre in diesem Zusammenhang der hundertprozentige Beweis.“

Klara musste ihm zustimmen. Sie musste in dem Koffer weitersuchen.

Während sie ins Wohnzimmer zurückging, bekam sie plötzlich wieder Schuldgefühle. Sie hatte sie jahrelang unterdrücken können, aber in dem Moment tauchten sie wie Kobolde aus der Schublade auf, jener Schublade, die Paul mit den Stimmen einen Spalt geöffnet hatte. Sie setzte sich auf die Couch. Schuldgefühle, weil sie, Klara, lebte und Sarah tot war? Schuldgefühle, weil die letzte Erinnerung ein hässlicher Streit war, bevor Sarah starb?

Und wieder kehren die Bilder von damals in ihr Gedächtnis zurück. Der Vater war mit Sarah und zwei Freundinnen (Anna und Ilona) am 17. August 1961 zu den Kahler Seen gefahren. Sarah musste beim Schwimmen einen Herzstillstand bekommen haben, wie die Ärzte später feststellten. Ihre Freundin Anna sah nur, wie sie plötzlich nicht mehr an der Stelle im Wasser war, an der sie noch eben gewunken hatte, etwa 20 Meter vom Ufer entfernt. Erst hatte Anna geglaubt, sie tauche, aber nach etwa 5 Minuten war sie immer noch nicht sichtbar. Der Vater kam gerade mit ein paar Bechern Limonade zurück, und Anna sagte es ihm. Die restlichen Ereignisse, wie man Sarah barg, wie sie und die Mutter davon erfuhren, verschwanden so tief in ihr Unterbewusstsein, dass sie keine Erinnerung mehr hatte.

Sie brühte sich einen neuen Tee auf, und während der fünf Minuten Ziehdauer stand sie in der Küche, ihre Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr.

Und es sollte noch eine Überraschung geben!

Mit der Teetasse ging sie wieder ins Wohnzimmer. Links vom Flur hörte sie Paul. Sie blätterte in dem Tagebuch weiter nach hinten, in der Zeit zurück. Dann sah sie den Eintrag: >6.September 1960. „Ekelhafter E.“.< Klaras Stirn bekam Falten, als sie das Datum las. Vaters Geburtstag. Es war die Feier zum 46. Geburtstag ihres Vaters Hannes. Sie erinnerte sich. Viele Gäste kamen an diesem Tag, Hannes Geschwister, Mutters Geschwister und deren Kinder. Was bedeutete der Ausdruck <Ekelhafter E.>? Sie fuhr ihre unsichtbaren Antennen aus. Da war etwas an diesem Abend. Sie dachte krampfhaft nach. Und dann kam die Erinnerung. E war die Abkürzung von Eckhard, Hannes` Bruder. Eckhard war Richter am Landgericht Frankfurt/Main. Ab irgendeinem Zeitpunkt veränderte sich damals die Situation. Sarah war anders, ihr Verhalten hatte sich geändert, sie war missmutig, gereizt, unausstehlich, aggressiv. Dann war sie plötzlich verschwunden. Die Gäste bemerkten es kaum, zumal es auf den Abend zuging und einige viel Alkohol getrunken hatten. Nur Vater und Mutter suchten verstohlen das ganze Haus ab. Dann fanden sie sie. Sarah kniete vor der Kloschüssel, war total betrunken, hatte gekotzt. Was war passiert? Hatte der Eintrag etwas damit zu tun? Dann fiel es Klara wie Schuppen von den Augen, und es lief ihr kalt den Rücken herunter. Eckhard hatte es auch bei ihr versucht! Und bestimmt an diesem Abend auch bei Sarah! Jetzt musste sie jenen anderen Abend in ihr Gedächtnis zurückholen, den sie am liebsten vergessen wollte. Es war etwa ein Jahr zuvor, Klara war 11 Jahre alt, als der Bruder ihres Vaters ihr an die Brüste und unter den Rock gegriffen hatte. Sie hatte sich so sehr gewehrt, dass er davon abließ. Nur seine hinterhältige Drohung, er werde es abstreiten und behaupten, sie habe ihn verführt und er würde es der ganzen Familie erzählen, hielt sie davon ab, es ihren Eltern zu berichten. Nur Sarah erfuhr es. Und ihre Reaktion war eigenartig. Eigentlich hätte sie neugierig fragen müssen, aber sie wandte sich plötzlich ab und wollte scheinbar von dem Thema nichts mehr wissen. Auch nachdem Klara nachhakte, blieb die Schwester zurückhaltend und introvertiert. Sie wollte auf keinen Fall darüber reden. Und dann fiel ihr ein, dass Sarah seit ihrem 10. Lebensjahr manchmal plötzlich verschlossen war, und sie nicht an sie herankam.

Ich weiß, was ihr Früchtchen in eurem Alter schon für perverse Gedanken im Kopf habt!“ hatte der Onkel damals immer gesagt.

Dann verlief es irgendwie im Sand. Der Onkel hatte sich dann im Jahre 1961 eine Villa in Kronberg gekauft. Sie erinnerte sich, dass sich die Eltern immer gefragt hatten, woher er das Geld habe, denn auch ein Richter verdiene nicht so viel, um sich eine Villa leisten zu können. Eckhard starb vier Jahre später an einem Herzinfarkt. Klara lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. Jetzt erst schien das Verhalten von Sarah irgendwie in diesem Zusammenhang erklärbar, wenn dieses Schwein auch an Sarah war.

Sie schlug das Tagebuch zu und suchte weiter nach einem Brief.

Aber ihre Gedanken machten wieder einen Sprung ins Jahr 1961, dem Todesjahr ihrer Schwester. Erinnerungen tauchten auf, die mit ihren Gefühlen zu tun hatten, mit jenen Gefühlen, die ein Mädchen in ihrem Alter damals noch gar nicht haben durfte, Liebesgefühle. Die Blue Diamonds sangen >Ramona< und Nana Mouskouri >Weiße Rosen aus Athen<, Sarahs Lieblingssong. Und auch an den Bau der Berliner Mauer erinnerte sich Klara plötzlich.

Dann gab sie das Tagebuch Paul zum Lesen.

Der Totenflüsterer

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