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3.

In Wiesbaden, in einer Seitenstrasse der Luisenstraße, befand sich der >Interessenverein der Tonbandstimmen<. Die Räume waren eine ehemalige Fahrschule, die in einen anderen Stadtteil umgezogen ist. Die kleine Schar der Tonbandstimmenforscher traf gegen neunzehn Uhr ein. In einer Ecke des zehn mal zwölf Meter großen Raumes stand auf einem kleinen Beistelltisch ein Kaffeeautomat mit Tassen und Untertassen, ein Heißwasserkessel, Kaffeetüten, 4 Teedosen und Teefilterpapier. Kaffee und Tee wurden an diesen Abenden in rauhen Mengen getrunken.

In der Mitte standen ein ovaler Tisch und sechs Stühle. Der Raum war gut beleuchtet durch große Deckenstrahler.

Es waren da:

Paul Klein,

Rainer Drechsler, Inhaber eines Supermarktes in Frankfurter Stadtteil Schwanheim,

Franziska Breitenbach, Sekretärin in einem Anwaltsbüro in Frankfurt,

Jochen Brahms, Arzt in Büdingen, einem kleinen historischen Städtchen am Fuße des Vogelsberges,

Irmgard Kowalski, Hausfrau aus Bad Homburg,

und Dieter Schelling, Sachbearbeiter bei einer Versicherung in Frankfurt.

Nach und nach nahmen alle Platz. In der Mitte des Tisches stand eine Tonbandmaschine, auf der alle ihre mitgebrachten Bänder abspielen konnten. So musste nicht jeder jedes Mal sein eigenes Tonband mitbringen. Oder jemand benutzte einen Kassettenrekorder. Sie begrüßten sich herzlich, denn im Laufe der Zeit entstand unter ihnen eine Art vertrauensvoller Freundschaft mit einem einzigen Ziel, der Welt zu beweisen, dass der Tod nicht das Letzte war, sondern dass es im Jenseits auf eine noch zu erforschende Art ein Weiterleben gab.

Die Arbeiten faszinierten sie, sie tauschten die neuen Ergebnisse aus und diskutierten. Nachdem alle auf ihren Stühlen saßen, eröffnete Paul die Sitzung mit den Worten: „Ich habe vorgestern eine interessante Einspielung gemacht. Es sind zwei gute Stimmen übers Mikrophon. Und das Schöne daran ist, dass ich einen Freund von mir, einen sehr sarkastischen Skeptiker, zumindest das Schweigen gelehrt habe.“

„Ich bin gespannt,“ sagte Jochen lächelnd und zündete sich eine Zigarette an.

Paul legte seine Bänder in das Tonbandgerät und sein Heft vor sich auf den Tisch.

„ Die Vorgeschichte. Die Schwester meiner Frau ist 1961, also mit vierzehn Jahren, ertrunken. Vorgestern, am Donnerstag um neunzehn Uhr vierunddreißig kam ihre erste Stimme herein, die Stimme meiner kleinen Schwägerin.“

Sie alle schauten zu, wie er in seinem Buch nach der Bandlaufstelle suchte.

„Eine Mikrophonstimme!“ Er drückte auf den Startknopf und der Raum wurde erfüllt mit jenen seltsamen Geräuschen, die ein hoch ausgesteuertes Mikrophon erzeugt. Und dann hörten sie klar und deutlich die Stimme. Obwohl zwischenzeitlich alle an diese Arbeit gewohnt waren, war die Reaktion immer wieder ein konzentriertes Hören, verbunden mit einem Staunen und der Freude von Forschern, die ein Ergebnis hatten.

„Ich höre deutlich den Namen Sarah,“ sagte der Arzt.

„Ich auch, “ nickte Franziska.

„Ja, Sarah,“ bestätigte Reinhard.

„Sarah, stimmt!“ sagte Irmgard.

„Spiels noch mal ab,“ bat Dieter.

Paul drückte wieder auf den Startknopf, und alle hörten jene hin gehauchte, wie durch einen Tunnel klingende Stimme. Dann nickte er, „..Ja, ich höre es. Das S ist sehr deutlich. Sarah!“

„Das alleine wäre ja kein Beweis für unsere These. Es gibt wahrscheinlich eine Menge Sarahs auf dieser Welt, die gestorben sind, ob jung oder alt. Und jetzt kommt dieser so genannte Anscheinsbeweis.“

Paul drückte wieder auf den Knopf, dann hörten sie alle noch einmal dieselbe Stimme und danach das kurze „Äppli“. Alle waren sich einig, es hieß „Äppli“.

„Äppli war die erste Liebe des jungen Mädchens, meine Frau hat es bestätigt, sie erinnerte sich daran.“

Alle waren jetzt still und in sich gekehrt. Sie hatten den Anscheinsbeweis ihrer These, die Bestätigung eines Faktes aus der Vergangenheit.

„Es wäre interessant herauszukriegen, ob dieser Junge von damals noch lebt und wo. Er könnte es zum Beispiel bestätigen, wenn er sich daran erinnert. Frag doch deine Frau, ob sie weiß, wo er wohnt,“ sagte Franziska und nahm einen Schluck Tee.

„Sicherlich heißt er nicht Äppli, das ist nur ein Kosename oder so,“ wandte Reinhard ein.

„Könnte von Apfel kommen….“

„Er könnte vielleicht… ihre Äpfelchen… gemeint haben…“ schmunzelte die Kowalski.

Einige grinsten. „Und daraus hat sie ihn liebenswürdig vielleicht Äppli genannt.“

Ein paar lachten.

„Ich werde sie fragen. Man müsste recherchieren. Dürfte nicht einfach sein nach neunzehn Jahren.“

„Es wäre wichtig.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Paul war sich der Aufgabe bewusst. Er würde Klara fragen, wo genau sie damals in der Schweiz Urlaub gemacht hatten.

„ Sarah war ja nicht in einem Schweizer See ertrunken, sondern in einem der Kahler Seen hier in der Nähe. Die Familie war damals aus dem Urlaub zurückgekehrt und dann war es passiert. Vielleicht existieren Briefe, die Sarah an ihren jungen Geliebten geschrieben hatte oder umgekehrt.“

Dieter brachte einen berechtigten Einwand. „Selbst wenn ihr ihn ausfindig machen solltet, wisst ihr noch nicht, was ihr ihm sagen könntet. He, deine junge Liebe vor neunzehn Jahren lässt dich grüßen – aus dem Jenseits! Ich hab mit ihr gesprochen!“

„ Er könnte uns für bescheuert halten,“ lachte Irmgard.

„Es muss also noch einen anderen Beweis für diesen Äppli geben als die Erinnerung deiner Frau, einen objektiveren Beweis.“

„Woher kommt eigentlich dieses mehrsprachige Phänomen im Phänomen Tonbandstimmen?“ fragte Franziska, das Thema wechselnd.

Paul zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es noch nicht, aber es ist Fakt. Jürgenson und Raudive und andere hatten es auch. Aber ich vermute, dass sie sich durch diese ungewöhnlichen Antworten oder Botschaften als die zu erkennen geben, die sie sind, nämlich unsere jenseitigen Freunde. Wer redet denn im normalen Leben so? “

Er trank einen Schluck Tee.

„Wir müssen das alles streng objektiv-wissenschaftlich betrachten. Nur wenn wir alle Möglichkeiten der äußeren Beeinflussung ausschließen können, hat unsere These Gewicht,“ warf Reinhard ein.

„Das ist gar nicht so einfach, wenn es Stimmen von unseren Verwandten sind, da spielen die Emotionen eine gewaltige Rolle,“ setzte die Sekretärin ihren Kommentar fort.

„Deswegen ist Objektivität ungeheuer wichtig.“

„Das Wertvolle an unserer Forschung ist, dass wir sie jederzeit vorführen können. Es gibt eine Menge von Fragen, aber eines steht fest: dass es Stimmen sind, dass sie von verstorbenen Menschen stammen und teilweise von unseren Verwandten, die sich bemühen, zu uns durchzudringen.“ Paul schaute in die Runde. Dann setzte er fort: „ Weil ich davon ausgehe, dass unsere Freunde drüben den Kontakt wollen.“

Einige schauten ihn fragend an.

„Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, alte Tonbänder genau abzuhören. Ich hatte damals in meinem Mansardenzimmer die Absicht, Geräusche aufzunehmen, weil ich ein Hörspiel machen wollte. Dabei klingelte das Telefon und meine damalige Verlobte Anne rief mich an. Ich vergaß, das Tonband abzustellen. So hatte ich ungewollt das ganze Gespräch aufgenommen. Wir lachten später darüber, weil ich meiner Verlobten mit einem Glas Wein zuprostete und sie in ihrer Wohnung ebenfalls eine Flasche Wein öffnete und mir zuprostete. Später holte ich das Band hervor und hörte es jetzt mit meinen geübten Ohren und dem paranormalen Verständnis erneut ab – und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn zwischen den einzelnen Stimmen und Geräuschen hörte ich eine Männerstimme, die auf einmal „prost Anne“ sagte – und dann „Suffkopp“.“

Es folgte ein kollektives Grinsen.

„Suffkopp – jetzt kommt`s raus,“ lachte Irmgard Kowalski Paul an.

Paul spürte ein seltsames Gefühl, als er ihren Blick sah.

„Das ist unglaublich…“ warf Dieter ein.

Jochen setzte das Thema fort: „Wenn also die Verstorbenen seit je her den Kontakt zu den Lebenden suchten, so frage ich mich, was haben sie denn früher getan, als es noch kein Tonband gab und die Radiowellen noch nicht gefunden wurden, sondern erst achtzehnhundertfünfundachtzig bis achtzehnhundertneunundachtzig durch Heinrich Hertz?“

„Ich denke, dass sie ein Medium benutzt haben,“ mutmaßte Paul.

Nach einer Weile des Schweigens und Nachdenkens: „Sie warnen uns auch,“ sagte Franziska. „Vor drei Jahren hatte ich ein Erlebnis, dass ich jetzt noch eine Gänsehaut kriege, wenn ich daran denke. Ich hatte einen Mann aus Amsterdam kennen gelernt. Ich verliebte mich und dachte, der wäre es fürs Leben. Wir verbrachten erst ein paar herrliche Tage am Rhein, dann flog er zurück nach Amsterdam. Wir schrieben uns Briefe, telefonierten fast jeden Tag. Ich schwebte im siebten Himmel. Auch Jan sagte mir, dass er auf dem besten Weg sei, sich in mich zu verlieben. Es schien alles zum Besten.

Natürlich „konsultierte“ ich auch meine Kontaktperson >Elli< . Und seltsamerweise erhielt ich nie eine Reaktion. In einigen Alltagsdingen helfen sie uns manchmal, beraten uns. Aber wenn ich den Namen Jan und Amsterdam erwähnte, kam nichts. Ich fand das seltsam, machte mir aber keine Gedanken mehr, weil ich mit meinen Gefühlen ganz oben schwebte und vielleicht auch nichts Negatives hören wollte.

Dann verabredeten wir, dass ich im Juni siebenundsiebzig für einen Kurzurlaub nach Amsterdam kommen sollte. Ich buchte für den zweiten Juni einen Platz im ICE von Frankfurt nach Amsterdam-Centraal. Am einunddreißigsten Mai spielte ich auf das Tonband ein. Was ich hörte, gefiel mir gar nicht. Ich sagte zu >Elli<, dass ich nach Amsterdam fahren werde, und dann kam die Stimme > Zug nicht bitte Venlo <. Ich reagierte so, wie ich im Normalfall nie reagiert hätte: ich wollte die Stimme nicht wahrhaben. Ich dachte, das wäre jemand von >drüben<, der mich nicht meinen konnte; ich dachte, dass es nicht <Ellis> Stimme sein kann, vielleicht ist <Elli> noch für jemand anderen eine Kontaktperson und diese Botschaft bezog sich auf den anderen.

Einen Tag vor meiner Abreise, es war der erste Juni, spielte ich wieder ein. Und ohne dass ich den Namen Jan oder Amsterdam aussprach, brach <Elli> sofort durch: > Zug nicht für Franzi.. Venlo <. Und da wusste ich, dass sämtliche Verdrängungen für mich gefährlich sein konnten. Ich erstarrte innerlich, ich war am Boden zerstört, weil ich es nicht fassen konnte. Ich wollte zu meinem Liebsten. Morgen früh um zehn Uhr sollte ich abfahren. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Es war aber eindeutig: meine Kontaktperson wollte, dass ich nicht in den Zug stieg! Ich war auch nicht in der Lage, Jan anzurufen. Was hätte ich ihm sagen sollen? Dass mich ein Geist gewarnt hat, in den Zug zu steigen? Er hätte mich ausgelacht. Über meine Tonbandstimmen haben wir nie gesprochen.“

Franziska nahm einen Schluck Kaffee. Die anderen konnten schon ahnen, was passiert war, aber sie hörten mit Spannung zu. Solche Dinge sind im Laufe der Zeit nichts Außergewöhnliches mehr. Warnungen kommen manchmal von der anderen Seite.

„Ich war wie gelähmt, saß am zweiten Juni in meinem Wohnzimmer, starrte auf das Telefon und hoffte, dass er nicht anrief, um mir eine gute Reise zu wünschen und sich freue, mich am Nachmittag in die Arme nehmen zu können. Mein Körper spielte verrückt. Magenschmerzen, Herzrasen, Zittern. Warum hat mich <Elli> gewarnt? Die Antwort war für mich eindeutig: ich sollte ihn aus irgendwelchen Gründen nicht treffen. Dann sah ich in meinen Gedanken: Unglück, der Mann taugt nichts, es sollte nicht sein, ich bin für einen anderen bestimmt, Vorbestimmung, Schicksal, Fatalismus, Kismet. Was man sich so alles einbildet. Ich wurde noch nervöser, als es zehn Uhr war. Ich hielt es in meiner Wohnung nicht mehr aus, also setzte ich mich ins Auto und fuhr in die Stadt, wollte mich ablenken, einkaufen, essen gehen, eine Freundin besuchen. Nur nicht an ihn und an die Bahnfahrt denken.

Und dann sah ich gegen Mittag die Schlagzeile der Bild-Zeitung auf der Zeil:

„Zugunglück bei Venlo. Der ICE 690 von Frankfurt nach Amsterdam sprang gegen 14 Uhr aus den Gleisen. Bisher wurden 10 Tote geborgen.“

„ Mir wurde schwarz vor den Augen, und ich musste mich an einer Litfasssäule festhalten. Die Leute scharten sich um den Zeitungsstand. Ich fuhr sofort nach Hause, schaltete den Fernseher an und sah die Bilder am Unglücksort. Die vorderen Wagen lagen neben den Gleisen. Ich hatte einen Platz in der Mitte gebucht. Den ganzen Nachmittag war ich wie gelähmt. Gegen sechs Uhr abends rief meine Mutter an. Ich konnte an ihrer Stimme erkennen, wie ihr ein Stein vom Herzen geflogen ist, weil ich mich gemeldet habe. Sie hatte befürchtet, dass ich im Zug wäre. Ich sagte ihr, etwas wäre dazwischen gekommen.

Erst am späten Abend war ich in der Lage, meinen Freund in Amsterdam anzurufen. Ob er von der Katastrophe gehört hatte? Ob er vielleicht dachte, ich wäre tot? Ob er sich nach meinem Namen erkundigt hat bei der Katastrophenleitung der Bahn? Ich zitterte am ganzen Körper, als ich das Freizeichen hörte. Und dann wurde abgenommen, und eine weibliche Stimme meldete sich: „ Hallo, wer ist da?“ Es war die Stimme einer älteren Frau, seine Mutter, vermutete ich. Ich stellte mich vor und bat sie, mir Jan zu geben, aber sie sagte nur, er sei im Krankenhaus; sie sagte mir nicht, weshalb. Ich rief nach ein paar Tagen nochmals an und erfuhr, dass Jan an einer Krankheit litt, die Immunschwäche zur Folge hatte.“

Sie legte ihr Band ein. „Und jetzt diese zwei Stimmen. Die erste Warnung.“

Im Raum hörten sie ein lautes Rauschen, untermalt von Brausetönen, dann eine schnelle schreiende Frauenstimme >Zug nicht bitte Venlo<. Einigen lief es kalt den Rücken herunter. Franziska spulte ein paar Zentimeter vor. „Jetzt die zweite Warnung. Dieselbe schreiende Frauenstimme im Gewirr des Rauschens und der Brausetöne <Zug nicht für Franzi…Venlo..>

„Die schreit ja richtig. Die hat das alles kommen sehen,“ sagte Irmgard.

Es war schon erstaunlich, vor welcher menschlichen Katastrophe Franziska bewahrt wurde.

„Nicht jede Stimme gehört zu unseren Verwandten, wie ihr wisst. Es kommen Stimmen herein, die uns was sagen wollen. Ich habe manchmal den Eindruck, als würden die da drüben Schlange stehen, um uns was mitzuteilen.“

Paul stellte seine Teetasse zur Seite und holte ein anderes Band aus der Aktentasche. „Ich habe hier ein Beispiel einer kleinen Präkognition. Aufgenommen am siebten August um siebzehn Uhr zehn. Ich sitze an meinem Schreibtisch und mache Einspielungen. Plötzlich ruft meine kleine vierjährige Nichte Sybille laut meinen Namen und rennt von der Küche weg in mein Arbeitszimmer. Ich schalte deswegen das Band ab und unterbreche meine Einspielungen. Die Kleine wollte nur einmal nach mir sehen. Nachdem sie wieder draußen war, spule ich das Band zurück – und höre. Und staune. Eine Frauenstimme, Esther, sagt sofort am Anfang meiner Aufnahme ganz deutlich: „Sybill ruft dich!“ Und dann höre ich sie, wie sie „Pauuuul“ ruft und höre ihre Schritte.“

„Das heißt, dass diese Esther ihre Aussage gemacht hat, bevor deine Nichte in Aktion trat! Diese Esther wusste, dass deine Nichte dich gleich rufen wird.“

„Ja. Und jetzt hört euch das an.“ Paul drückte auf den Startknopf, die beiden Spulen drehten sich, und dann kam Pauls Ansage und dann jene Stimme dieser Esther: „Sybill ruft dich!“ Und dann hört man die kleinen tapsenden Schritte und eine rufende Kinderstimme: „Pauuuul!“.

Für ein paar Minuten war es wieder still im Raum, jeder dachte über diese so genannte Präkognition nach.

„Wir mit unserem Zeitgefühl interpretieren dies so, aber wir haben auch schon festgestellt, dass es da „drüben“ ein anderes Zeitgefühl gibt. Vielleicht ist es ein Zustand zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein erhöhter Standpunkt sozusagen.“

Jochen, der Arzt meldete sich zu Wort.

„Es ist verdammt erschütternd, wenn ich als Arzt von der Polizei gerufen werde, um die Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens zu untersuchen, das bestialisch ermordet wurde; und ich andererseits nach drei Tagen ihre Stimme auf Tonband höre.“

Er machte eine Pause, sah in die Gesichter der Freunde und fuhr fort. „Im Sommer vor drei Jahren wurde Susanne, ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft und auch noch meine Patientin, von einem psychopathischen Killer mit achtzehn Messerstichen ermordet, sie wurde mehrfach vergewaltigt und so weiter und so weiter, mehr Details will ich nicht mehr nennen. Ich wurde zur Fundstelle gerufen und musste sie untersuchen. Ihr könnt euch vorstellen, welches Grauen mich überkam, als ich sie so im Wald liegen sah und sie als Susanne Dembrecht erkannte. Von ihren Freunden wurde sie Susi gerufen. Ich konnte die nächsten zwei Tage weder essen noch schlafen. Am dritten Tag aber habe ich mein Tonbandgerät eingeschaltet und bat um Kontakt mit Susanne. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich ihre süße, etwas langsame Stimme hörte: <hier Susi> . Ich fragte, wie es ihr geht und ob sie mir den Namen ihres Mörders nennen kann. >Susi geht gut hier< und nach ein paar Sekunden dann…<Goddi….>.

Gotthard Dimmer, also dieser Goddi war ein Polizei bekannter Spanner, der im Verdacht stand, mehrere junge Mädchen vergewaltigt zu haben, dem man es aber nicht nachweisen konnte. Ich habe lange überlegt, ob ich dem Kommissar meine Einspielung mitteilen sollte oder nicht. Ich habe es nicht getan, ich hatte nicht den Mut. Nach vier Wochen aber wurde dieser Gotthard Dimmer festgenommen und später als Mörder verurteilt.“

„Ich kann mich so schwach an den Fall erinnern…,“ sagte Dieter Schelling, „..wieder ein Beweis für die Faktizität der Stimmen…“

„Das muss man sich nur mal vorstellen. Liegt der tote Körper da ...und ein paar Tage später dann ihre lebendige Stimme,“ wiederholte sich Jochen.

Gegen halb elf brachen sie auf, jeder fuhr mit einer neuen kleinen Erkenntnis und neuem Wissen wieder nach Hause.

Fünfundvierzig Minuten später war er in Nidderau. Klara schlief schon. Er ging leise in sein Büro, machte eine Flasche Rotwein auf und trank ein Glas. Dann legte er ein Kassette ein und während er genüsslich den Wein trank, hörte er sich Carl Orff`s Carmina Burana an.

In der Zwischenzeit hatten sich viele Interessenvereine manifestiert. Überall auf der Welt versammelten sich Menschen, die ebenfalls die Wiederholung der damaligen Sendung über Jürgenson in Schweden gesehen hatten. Sie experimentierten und diskutierten über dieses Phänomen. In Düsseldorf war der größte Verein für dieses Tonbandstimmenphänomen.

Einige Monate später brachte Paul die erste Ausgabe eines Mitteilungsblattes heraus. In diesem internen Blatt konnte jeder seine Einspielungen und Erlebnisse beschreiben. Schon nach wenigen Monaten wurde dieses Blatt in Englisch herausgegeben.

*

Es ist schon eine ungeheuere Behauptung, mittels eines Tonbandgerätes beweisen zu können, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.

Und dass es jederzeit jedem vorgespielt werden kann.

Und dass es keiner besonderen Begabung bedarf.

Manch einer, der das Leben satt hat, weil er zu viele Schicksalsschläge bekam und meint, immer nur zu den Verlieren zu gehören, könnte in Versuchung geraten, einen Strick oder 50 Tabletten zu nehmen, weil es angeblich „da drüben“ wunderschön ist.

Und ein anderer könnte mit Ruhe und Gelassenheit seinem Tod entgegensehen bei dem Gedanken, dass sein Leben so weitergeht; zwar in anderer Form und in einer anderen Dimension.

Aber beide hätten denen, die das alles nicht interessiert, eines voraus: das Gefühl, dem Geheimnis des Lebens auf der Spur zu sein.

Und deshalb sage ich aus eigener Erfahrung:

Es ist ein Phänomen, dass sich Verstorbene aus dem Jenseits melden, wenn Lebende daran interessiert sind, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Angefangen hat das alles so:

Im Jahre 1959 nahm der schwedische Maler, Archäologe und Sänger Friedrich Jürgenson (1903 – 1987) in seinem Garten Vogelstimmen auf ein Tonbandgerät auf. Als er das Band abspielte, hörte er seltsamerweise Stimmen von Verstorbenen. Er begann der Sache nachzugehen und experimentierte fortan mit seinem Tonbandgerät, machte weitere Aufnahmen und stellte fest, dass es wirklich die Stimmen seiner verstorbenen Verwandten und anderer Verstorbener waren.

1967 erschien sein Buch „Sprechfunk mit Verstorbenen“.

Dieselben Experimente machte der Lette Konstantin Raudive (1909 – 1974) Psychologieprofessor und Student von C.G. Jung. Auch er nahm ab 1965 die Stimmen von verstorbenen Menschen auf Tonband auf.

Dr. Raudive war ein Sprachgenie, er sprach lettisch, russisch, französisch, spanisch, deutsch, schwedisch und lateinisch. 1969 erschien sein Buch „Unhörbares wird hörbar“ auf der Frankfurter Buchmesse. Seine Einspielungen wurden von 2 wissenschaftlichen englischen Gremien untersucht und für paranormal erklärt: Angesichts der Ergebnisse der Tests findet etwas statt, was wir mit unseren normalen physikalischen Begriffen nicht erklären können. Die Stimmen waren Fakten, die Interpretationen blieben offen, waren nicht erklärbar. Betrug wurde durch die Tests ausgeschlossen.

In der Zwischenzeit hatte sich dieses Phänomen in alle Welt verbreitet, es gab Vereine und Interessengemeinschaften.

Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: man nehme ein Tonbandgerät, steuere die Aufnahme sehr hoch aus, setze das Mikrophon einen Meter vom Gerät entfernt und drücke auf den Aufnahmeknopf. In den meisten Fällen wird so ein Experiment mit Fragen eingeleitet, und es dauert nicht lange, da kann man nach dem Zurückspulen und Abhören Stimmen hören, die sich auf die Fragen beziehen.

Die Stimmen kommen teilweise leise oder laut, schnell oder langsam, singend oder sprechend, von metallischen Geräuschen begleitet oder in polyglotter Sprache durch. Sie bringen auch Emotionen zum Ausdruck: Hass, Zorn oder Liebe. Als damals in den 70er Jahren die Deutsche Bundespost in Schweden war und über die Einspielungen im Fernsehen berichtete, trat ein weiteres Phänomen zu Tage. Wenn Jürgenson das Bandgerät rückwärts laufen ließ, enthielt es vollkommen andere Nachrichten als beim Vorlauf. Und wenn er das Band mit einer anderen Geschwindigkeit abspielte, kamen wiederum ganz andere Nachrichten. Die Stimmen sagen: Gedanken bedeuten Sprechen, das heißt, dass der Gedanke als elektromagnetischer Impuls bereits „drüben“ ankommt, bevor der Inhalt ins Mikrophon gesprochen wird. Insofern erhalten einige Experimentatoren schon die Antworten, bevor sie die Fragen gestellt haben.

Der Totenflüsterer

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