Читать книгу Der Totenflüsterer - Dietmar Kottisch - Страница 13

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10.

Er sagte es Klara nicht. Er wollte alles noch für sich behalten. Als sie ihn am Abend ansprach, warum er so bedrückt sei, wiegelte er ab, er habe Kopfschmerzen.

Er rief am nächsten Tag Irmgard Kowalski an, die einen leicht lädierten Eindruck am Telefon machte.

„Darf ich mal vorbeikommen?“ fragte er, und sie war damit einverstanden.

Irmgard wohnte in Bad Homburg in einer Reihenhaussiedlung. Ihr Mann Karl war in einer Spedition als Disponent angestellt. Sie war achtunddreißig Jahre alt, brünett, schlank, zirka Eins fünfundsechzig groß. Sie begrüßten sich herzlich, und Paul sah zum ersten Mal die private Umgebung seiner Kollegin.

„Darf ich dir was anbieten?“ Er spürte eine etwas versteckte Unsicherheit in ihren Gesten, denn Irmgard konnte sich denken, dass Paul bei seinen Nachforschungen herausgefunden hat, dass sie die Schwester der toten Esther Reschke ist.

„Gerne, wenn es kein Teebeutel ist…“ lachte er und hoffte, sie nicht in Verlegenheit mit dieser Bemerkung gebracht zu haben. Sie trug Jeans und einen hellen Kaschmirpullover. Paul schaute auf ihre Rundungen, als sie in die Küche ging. „Dann eben einen Espresso, oder?“

„Klar.“

Er hörte sie in der Küche hantieren, warf einen kurzen Blick hinein und bemerkte leere Weinflaschen auf dem Boden. Dann sah er sich im Wohnzimmer um. Linker Hand auf einem kleinen Regal standen ein paar Bücher, daneben eine rechteckige dunkelblaue Couch mit Sesseln und einem Abstelltisch aus Glas. In einer großen wuchtigen Schale lagen ein paar Bananen und Äpfel, daneben stand ein Zinnaschenbecher, in dem ein paar Kippen waren. Rechter Hand von der Eingangstüre zog sich eine lange Schrankwand von einer Ecke zur anderen, auf der der Fernseher stand.

An der Wand hing ein kleines gerahmtes Foto von einem etwa fünfjährigen Jungen mit blonden Haaren und einem schelmischen Gesichtsausdruck. Er wunderte sich, dass sie im Verein nie etwas von ihrem Sohn erzählt hatte.

In dem Moment kam sie mit dem Espresso zurück, stutzte, als sie sah, dass er das Bild betrachtete.

„Du hast nie erzählt, dass du…..“

„Ich weiß, Paul. Aber ich… möchte ungern darüber sprechen…“ Sie blieb einfach stehen, und er sah plötzlich Trauer in ihren Augen. Aber dann sprach sie trotzdem weiter.

„Tobias war fünf, als es passierte. Ich hatte eine Halbtagsstellung in einer Druckerei in der Buchhaltung. Eine Freundin passte immer vormittags auf meinen – unseren Sohn auf. An diesem Tag….“ Sie schluckte, ein paar Tränen traten aus den Augenwinkeln. „An diesem besagten Tag, es war der zweite Mai, ging sie mit ihm spazieren…und Tobias sah auf der anderen Straßenseite einen kleinen Hund … und weil er sich immer… einen Hund gewünscht hat… riss er sich von der Hand los .. und lief … und der Wagen konnte nicht mehr bremsen…“ Sie konnte nicht mehr weiterreden, begann zu weinen und stellte das Tablett auf den Tisch. Paul half ihr, weil ihre Hände zitterten. Dann nahm er sie spontan in den Arm. „Tut mir Leid, Irmgard.“

Sie standen ein paar Minuten so da. Sie schwiegen. „Setzen wir uns…“ sagte sie dann und Paul nahm Platz. Als sie sich ihm gegenüber setzte, sagte sie: „Ich weiß, warum du hier bist…..Du hast in der Zeitung mein Bild gesehen.“

„Solche familiären Angelegenheiten gehen mich normalerweise nichts an, Irmgard, aber das hier betrifft auch unsere Arbeit. Ich mach dir keinen Vorwurf, ich kann verstehen, dass du dich bedeckt gehalten hast. Und wenn du willst, sage ich den anderen nichts von meinen Recherchen. Der Reporter sagte, du würdest nichts darüber aussagen wollen.“

„Danke. Es ist mir sehr peinlich, was du erfahren hast. Ich leide heute noch darunter, wenn ich daran denke.“

„Was ist mit den Kindern? Es interessiert mich rein menschlich, aber du musst keine Auskunft geben.“

Sie schob ihre Tasse beiseite. „Schlimm. Beide sind in Behandlung, sie haben das nicht verkraftet.“

„In psychiatrischer Behandlung?“

„Ja.“

Paul fielen die frischen Blumen auf dem Grab ein.

„Heiner lebt jetzt in Bremen, hat eine Stelle als Gärtner…. als Friedhofsgärtner…. passt gut, nicht wahr?“ Es war ein mehr sarkastisches Lachen. Sie holte aus der Schublade eine Zigarettenschachtel und steckte sich eine Zigarette an.

„Lore lebt bei ihrer Großmutter väterlicherseits, die alte Dame hatte solche Gewissensbisse.“

„Wir waren auch auf dem Friedhof. Die frischen Blumen sind von dir?“

„Ja.“

Nach einer Weile sah ihr Paul in die Augen. „ Ich kann mir vorstellen, dass du auch Kontakt zu deiner Schwester hast.“

„Ja. Natürlich. Schon seit Jahren, aber du verstehst, dass ich das unserem Verein nicht mitteilen muss.“

Und nach ein paar Sekunden: „Ich bekam Angst, als du uns das erste Mal von deiner Kontaktperson, also von Esther, berichtet hast. Ich hatte Angst, es könnte rauskommen. Jetzt ist es raus.“

„Jeder, der experimentiert, hat ein ganz persönliches Motiv. Es war nicht primär das Interesse an der Wissenschaft, sondern es ist am Anfang der Drang, wissen zu wollen, wie es der Person ergeht, die gestorben ist. Bei mir war es mein Vater, und bei dir vielleicht deine Schwester,“ stellte er einfach fest.

„Natürlich. Ich mache das schon, seit ich die Sendung über Jürgenson im Fernsehen gesehen habe.“

Paul nickte, das war wahrscheinlich der Auslöser aller Experimentatoren. Er wollte gerade die Geschichte auf sich beruhen lassen und sich verabschieden, da merkte er, dass sie ihm noch etwas sagen wollte. Es war eine Geste, eine Bewegung ihrerseits, die einen Abbruch des Gespräches nicht wollte. Paul war dabei sich zu erheben, sie aber blieb sitzen.

„Willst du schon gehen?“ Sie drückte die Zigarette im Ascher aus.

„Eigentlich schon.“

„Willst du noch einen Espresso?“

Jetzt spürte er es, da war noch etwas. „Keinen mehr, aber wenn du einen Schluck Wasser hast?“

Sie stand auf und ging in die Küche, dann kam sie mit einem Glas Wasser zurück. Für sich hatte sie ein Glas Wein eingeschenkt. „Wenn du willst, kannst du auch Wein haben..“

„Danke, aber ich muss noch nach Hause fahren.“

„Mein Mann Karl hält nichts von den Tonbandstimmen. Ich kann mit niemandem darüber reden, außer wenn wir uns treffen. Aber auch da nicht über alles, wenn du verstehst.“ Sie nahm einen großen Schluck Weißwein und stellte das Glas ab. Am Rand hinterließ der Lippenstift seine rote Farbe. Paul fand den Anblick von Lippenstift auf dem Weinglas sehr erotisch. Er nickte und wartete auf eine Fortsetzung.

„Ich wollte dir noch etwas sagen. Ich habe eine interessante Einspielung gemacht. In der Zeit, als ich noch sehr oft mit meiner Schwester übers Tonband Kontakt hatte, brachen Stimmen von meinem Schwager durch. Er hat sie gesucht…“

Paul schaute sie verwundert an. „Er hat Esther gesucht?“

„Ja, Wilhelm suchte sie. Und sie schien ihn zu hören. Sie redeten mit einander, verstehst du? Ich weiß nicht, ob es jemals in der Tonbandstimmenforschung einen Dialog zwischen den Toten gegeben hat, der eingespielt wurde.“

„Du meinst, dass die beiden in der jenseitigen Sphäre miteinander reden? Über ihre Lebenskatastrophe?“

Irmgard nickte. „Unglaublich, nicht wahr?“

„Kann ich das hören?“ fragte er.

„Ja, aber nicht jetzt. Mein Mann kommt gleich. Karl hält nichts davon, wie ich schon gesagt habe. Ich will ihn auch nicht damit konfrontieren. Außerdem will er sein Essen haben, wenn er nach Hause kommt.“

Nach einer Weile machte er ihr den Vorschlag …“ du könntest mit den Bändern zu mir nach Hause kommen. Wir wären ungestört.“

Sie nickte. Sie war froh, endlich mal mit einem Menschen darüber sprechen zu können. Als sie sich zum Abschied die Hand gaben, spürte er, dass sie seine Hand ein paar Sekunden zu lange hielt…

Und als sie loslassen wollte, behielt auch er ihre Hand sehr lange in seiner…

An der Türe drehte er sich noch einmal um. „Ich wüsste gerne, ob du … ich meine … nach dem Tod eures Kindes.. ob du…..“

„Ich habe, Paul, ja ich habe eingespielt und weiß, dass es ihm gut geht.“

Klara war nicht gerade überglücklich, dass Paul am nächsten Tag nicht in sein Büro fahren wollte, weil er sich mit dieser Frau verabredet hatte.

Auch die Tatsache, dass auf diesem Band ein Gespräch zu hören ist, das zwei Verstorbene im Jenseits führten, konnte ihre Laune nicht verbessern. Sie ging heute nicht in die Schule, sondern meldete sich krank, Migräne.

Als Irmgard Kowalski gegen elf Uhr morgens klingelte, öffnete ihr Paul. Sie trug unter dem Mantel wieder enge Jeans, eine hellblaue Bluse, unter der sich ihre Brüste abzeichneten. Sie hatte flache Schuhe an. Klara begrüßte den Gast und warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, den er deuten konnte wie er wollte.

Paul und Irmgard gingen in sein Arbeitszimmer. Dann öffnete sie ihre Tasche und holte einen Kassettenrekorder heraus.

Den kurzen Blick seiner Frau deutete er so, dass er jetzt den Tee selber machen sollte!

„Setz dich, ich komme gleich. Du trinkst doch auch einen Tee mit, oder?“

„Gerne.“ Irmgard setzte sich und schlug ein Bein übers andere. Während Paul in der Küche hantierte, schaute sie sich interessiert um.

Nach zehn Minuten kam er mit dem Tablett wieder und stellte es auf den Tisch.

Irmgard erhob sich, berührte mit ihrer Hüfte seine, nahm die Tassen vom Tablett, füllte sie mit Tee, stellte eine Tasse vor Paul hin und die andere vor ihren Platz.

Klara hatte diese Geste gesehen; sie kam herein und fragte, ob sie helfen könne, und dann an Irmgard gewandt: „Fühlen Sie sich wie zu Hause, meine Liebe!“

„Danke, Frau Klein…..“.

„Können wir anfangen?“ fragte Paul, der die Spannung zwischen den Frauen wahrnahm.

„Welche Methode?“ fragte er.

„Mikrophon.“

Sie drückte auf Play, dann begann die Einspielung mit den typischen Rauschgeräuschen. Nach ein paar Sekunden hörte er eine tiefe Stimme ….

>Willkommen…willkommen…….<

Dann Irmgards Stimme: „ Mittwoch, sechzehnter August, acht Uhr abends. Kann ich meine Schwester Esther sprechen?“

Eine andere Männerstimme: >Esther raus … Esther wird gerufen…<

Rauschen, Stille. Dann Esthers Stimme: >Esther hier….Irmgard…du?<

Irmgard: „Ja, ich bin Irmgard. Esther, ich höre dich…!“

Esther: >Ich traurig.. so traurig .. meine Kinder….<

Paul lief es kalt den Rücken herunter, als er dieselbe Stimme hörte, die auch er eingespielt hatte.

Die Einspielungen waren zusammen geschnitten und auf den Kassettenrekorder übertragen. 1966 war Esther gestorben, 1975 spielte Irmgard ein, das war ein Zeitraum von knapp 9 Jahren. Dann spielte Paul diese Stimme von Esther ein, also hatte sie das Drama 1980 nicht überwunden, insofern man davon ausgehen konnte, dass die Stimmeinspielung im JETZT geschah. Aber was spielte Zeit schon für eine Rolle in dieser Dimension?

Irmgard stoppte ab. „Jetzt kommt es….“ Dann drückte sie wieder auf Play.

>Wilhelm hier…verflucht…diese verfluchte elende Stille…<

„Hier ist Irmgard. Esther, ich habe Wilhelms Stimme gehört.“

>Ich suche Esther.. ich seh dich nicht.. gottverdammt.. ich suche Esther..<

>Ist mein Mann...wo?< Esthers Stimme.

>Mein Gesicht kaputt…< Sie suchte plötzlich seine Hand und hielt sie fest.

Paul lief es wieder kalt den Rücken herunter, als er sich vorstellte, wie sein Sohn Heiner mit dem Hammer auf diesen Mann eingeschlagen und ihn getötet hatte.

„Du bist Wilhelm, der Mann meiner Schwester?“ Irmgard.

>Ja verflucht…Wilhelm …<

Plötzlich bricht Esthers Stimme wieder durch.

> Wilhelm…. mein Mann ist auch hier …<

Eine kurze Pause, dann weiter ihre Stimme.

> Esther … will Frieden und Ruhe hier … viel Leid mit Wilhelm ..<

Wieder eine Pause, Rauschen, dann wieder Esther.

> Muss Irmgard wissen .. .. <

Irmgard atmete tief durch, Paul starrte auf den Rekorder. Das war einmalig. Hier waren die Stimmen von zwei Menschen im Jenseits, die einmal im Diesseits zusammen viel Leid erlebt haben. Er fühlte die Wärme ihrer Hand, ließ sie aber schnell los.

„Darf ich hier rauchen?“ unterbrach Irmgard die Stille und griff in ihre Handtasche.

Paul schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind beide Nichtraucher. Versuche es auszuhalten, oder geh auf die Terrasse.“

Es wirkte befehlend, und sie zog ihre Hand wieder aus der Tasche. Er sah, wie sie rot im Gesicht wurde. Ob es von der Situation her kam oder ob es die Nikotin-Sucht war, wusste er nicht.

> Zehn April abends … Wilhelm immer gebrüllt und betrunken … Esther viel Angst<.

> Esther…schlechtes Weib… < Wilhelms Stimme dazwischen.

> Wilhelm hat mich geschlagen … Tischkante … bewusstseinslos …Wilhelm hat meine Kinder geschlagen… Lore .…<

> Alle Menschen schlecht…ich bin hier Wilhelm…verrecken sollen alle…<

Plötzlich eine andere Männerstimme: > Muss Irmgard wissen…hier Toni<

„Was heißt das?“ fragte Paul, als Irmgard auf die Pausetaste drückte.

„Ich muss jetzt erst eine Zigarette haben, tut mit Leid.“

„Nein. Da musst du auf die Terrasse gehen.“ Auch diese Bemerkung wirkte unerbittlich, und sie zuckte zusammen.

Auf einmal fühlte er eine starke erotische Spannung, als er sie so in ihren engen Jeans sitzen sah und spürte ein gewisses Machtgefühl über sie. Auch, weil sie vorhin seine Hand gesucht hatte. Seine beschützende Hand!

Dann erhob er sich und zeigte ihr die Terrasse. Sie ging hinaus und steckte sich eine Zigarette an. Klara kam herein. „Na, wie ist es?“

Beide sahen aus dem Fenster und beobachteten sie, wie sie da stand und rauchte.

„Ich denke, es ist außergewöhnlich. Esther und ihr Mann sprechen miteinander und wir können es hören. Willst du dich nicht hinsetzen und mithören?“

„Nein. Aber was ist mit ihr? Sie hat rötliche Flecken im Gesicht.“

„Keine Ahnung. Vielleicht schämt sie sich, weil ich ihr verboten habe, hier im Haus zu rauchen.“

Irmgard stand da, schaute auf die Strommasten gegenüber, die rechte Hand in der Jeanstasche, in der linken hielt sie die Zigarette.

„ Hast du es ihr verboten? Oder hast du sie gebeten, nicht zu rauchen?“

Als ob Klara von seiner erotischen Spannung ahnte. Er gab ihr keine Antwort.

Dann kam Irmgard wieder zurück. „Hätten Sie keine Lust dabeizusitzen?“ fragte sie Klara, und ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte sie: „Mein Mann hat kein Interesse an den Stimmen.“

Klara überlegte kurz. Wenn sie jetzt auch nein sagen würde, würde sie sich auf die gleiche interessenlose Stufe stellen wie Irmgards Mann. Also sagte sie kurzerhand „Ja.“

Und holte sich einen Stuhl und setzte sich zwischen Paul und Irmgard.

Paul zuckte mit den Schultern. „Machen wir weiter.“

„Dieses <Muss Irmgard wissen> wirst du gleich erfahren.“

Dann drückte sie wieder auf die Play-Taste.

Die andere Männerstimme, Toni, meldete sich: >Esther nicht bewusstseinslos..<

Esther: > Heiner mein Kind nicht Hammermörder<

Toni: >Muss nicht Irmgard wissen<

Plötzlich eine weitere Stimme: >Schnauze, Toni<

Irmgard: „Was sagt er da, Esther? Du warst nicht bewusstlos?“

Esther: >Ich nicht bewusstseinslos … Esther Hammer genommen ...<

Paul hörte das Zittern in Irmgards Stimme.

Klara riss die Augen weit auf. „Oh Gott…“

„Esther, du hast den Hammer genommen? Bitte sag es mir…“

>Esther Hammer genommen …<

Wilhelm: > … Esther mit Hammer…Wilhelm getötet …Esther Mordweib..<

Esther: >Du mein Mann … viel Leid in Familie … Wilhelm macht kaputt meine Kinder … viel Schnaps .. viel Schläge .. Wilhelm greifen Lore … Lore noch Kind … Wilhelm muss sterben .. . Esther hat Hammer genommen …Meine Kinder Heiner und Lore…traurig…<

Eine sehr lange und aufschlussreiche Passage.

Paul spürte eine ungeheure Anspannung. Irmgard saß da und war ganz ruhig. Aber ihr Gesicht war leichenblass. Klara hielt eine Hand vor den Mund.

Irmgard drückte auf die Pausetaste und nahm einen Schluck Tee.

„Was ich gehört habe, ist, dass nicht der Sohn den Alten erschlagen hat, sondern dass es Esther selbst gewesen ist, hab ich richtig gehört?“ sagte Paul.

„Das, was ich jetzt sage, entnahm ich den Aussagen auf den anderen Bändern. Ich habe meine Schwester ausgefragt, du kannst die Bänder alle hören. Für die Polizei war das damals eindeutig. Der Junge hatte gestanden, beide Elternteile waren tot. Aber es lief anders ab. Wilhelm kam nach Hause, war schon besoffen und wollte Esther das Geld abnehmen. Als er sie schlug, fiel sie zwar gegen die Tischkante, war aber nicht bewusstlos, sondern rannte in die Abstellkammer und holte den Stielhammer und schlug ihn ihm auf den Kopf. Dann hat sie zusammen mit Heiner den Mann ins Schlafzimmer gezerrt und aufs Bett gelegt und nochmals zugeschlagen. Dort im Schlafzimmer hat die Polizei auch das viele Blut gesehen, im Wohnzimmer hat es Lore weggewischt. Dann erst wurde der Notarzt gerufen und Esther wurde ins Krankenhaus gebracht, weil die Schläge und das Stürzen auf die Tischkante innere Blutungen verursacht hatten. Wilhelm lag zwischenzeitlich tot im Schlafzimmer, bis dann Heiner die Polizei anrief und gestand, weil er seine Mutter schützen wollte. Er konnte nicht ahnen, dass sie bald sterben wird.“

„ Und er hat sich an Lore vergangen, seiner eigenen Tochter!“ flüsterte Klara. Dann holte sie eine leere Tasse und schenkte sich Tee ein.

Er stand auf und ging auf die Terrasse, holte tief Luft. Irmgard nutzte diese Pause und kam nach. Sie steckte sich wieder eine Zigarette an. Irmgard fragte, ob sie noch einen Schluck Wein bekommen könnte.

Klara stand auf und ging in die Küche. Sie öffnete eine Weißweinflasche und goss ein Glas ein. Dann ging sie damit auf die Terrasse und reichte es dem Gast mit einer Untertasse, die sie als Aschenbecher benutzen sollte.

„Und dieses Geheimnis haben Sie die ganze Zeit für sich behalten?“ fragte sie.

„Ja. Aber wem würde es was nützen, wenn jetzt die Wahrheit ans Licht käme? Heiner lebt in einer anderen Welt. Zwar ist er Grabpfleger, aber mehr kann er nicht tun. Lore lebt noch immer bei ihrer Oma.“

Paul drehte sich zu den Frauen um. „Ich muss immer an diese Reflektion denken, dass der Mensch sein ganzes Wissen mit hinüber nimmt. Aber was passiert da? Esther hat es nicht überwunden, sonst würde sie es uns nicht sagen.“

Er drehte seinen Kopf zur Seite, als ihm Irmgard den Zigarettenrauch genau ins Gesicht blies und sich sofort entschuldigte.

„Vielleicht stimmt das Dogma der Kirche, dass es eine Art Fegefeuer gibt. Ich will es lieber Reinigungsprozess nennen, das hört sich moderner an,“ sagte Klara.

„Reinigungsprozess für die nächste Bewusstseinsstufe, meinst du wohl?“

Irmgard drückte den Rest der Zigarette auf dem Unterteller aus. Dann gingen sie wieder hinein.

Paul und Klara fühlten eine Traurigkeit; irgendwie hatten sie Mitleid mit Irmgard, weil sie die ganze Zeit über mit keinem Menschen darüber sprechen konnte.

Irmgard trank ihr Glas aus und drückte auf die Play-Taste.

Esthers Stimme: >Wilhelm schlecht Vater und schlecht Mann … Heiner nicht Sohn von Wilhelm<

>Bastard…Esther hat Wilhelm betrogen…<

Später dann bestellte Paul ein Taxi für Irmgard, weil sie noch 2 Gläser Wein getrunken hatte.

Ihren Wagen würde sie morgen abholen.

Am Abend dann spielte er wieder ein. Er musste mit Esther kommunizieren, weil er jetzt um ihr Geheimnis wusste.

>Esther hier … Paul besser Mann für Irmgard…<

Er stemmte seinen Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, als er die Mitteilung hörte. Was sollte das nun heißen? Ich wäre ein besserer Mann für ihre Schwester, weil ich mich für ihre Stimmen interessierte, und ihr Mann nicht? Oder sollte das etwa bedeuten, dass sie über seine sexuelle Spannung Bescheid wusste? Er schüttelte den Kopf und dachte: Lass das nur nicht Klara hören!

Und dann kam noch einmal ihre Stimme > sexy dominus<

Der dominante Paul.

Er starrte das Tonband an.

Er konnte nicht ahnen, dass diese Worte eine Voraussage waren.

Nach einer kurzen Pause, in der er sich immer wieder aufs Neue wunderte, dass die Jenseitigen doch so nah am Geschehen waren, und dass sie sich verschiedener Sprachen bedienten, sagte er: „Esther, ich weiß, was damals passiert ist. Und es tut mir so unendlich Leid für dich und deine Kinder.“

Dann kamen ein paar Worte, die er nicht verstand.

„Ich habe gehört, wie du mit deinem Mann gesprochen hast.“

>Esther hat Wilhelm getötet … ja Paule…<

„Ich habe dein Bild gesehen, Esther. Du bist eine schöne Frau.“

>Paul Charmeur …und…< Der Rest ihrer Worte ging im statischen Rauschen und Knacken unter. Paul schaute sich unwillkürlich um, ob nicht Klara in der Ecke stand!

Der Totenflüsterer

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