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1.

Oktober 1980

Klara war am Abend in der Küche und kochte eines von Pauls Lieblingsgerichten: Irish Stew. Sie hatte zu lange an der Türschwelle zum Arbeitszimmer gestanden, in dem sich ihr Mann Paul befand. Mit ängstlichem Herzklopfen und einer widerwilligen Miene verfolgte sie, was da vor sich ging.

Sie hörte kratzende Geräusche und Stimmfetzen und dann die konzentrierte Stimme ihres Mannes.

Sie bekam jedes Mal Zustände, wenn er sich zurückzog.

Sie hatte panische Angst, denn da passierte etwas, was sie mit ihrem Verstand nicht mehr fassen konnte.

Der redet mit Toten!

Und Paul hatte keine Angst. Für ihn war die Entdeckung erst eine Sensation, die sich im Laufe der Zeit quasi zu einer Besessenheit steigerte. Seine damalige Verlobte Anne meinte eines Tages, ..“es wäre Leichenschändung, sich mit dir zu beschäftigen..“ – und gab ihm den Laufpass.

Paul war Einen Meter siebzig groß, schlank, hatte ein ovales Gesicht mit hoher Stirne. Seine brünetten Haare waren leicht zerzaust, die blaugrauen Augen strahlten so etwas wie Optimismus und Aufmerksamkeit aus.

Sie verteilte das dampfende Gericht mit dem Lammfleisch und den Kartoffeln auf 2 Teller und ging in sein Arbeitszimmer, das sich vom Eingang her auf der linken Seite hinter der Garderobe und dem Gäste-WC befand.

Er saß wie immer vor seinem Schreibtisch. Die beiden großen Kopfhörer verdeckten seine Ohren, er schaute konzentriert auf das Tonband und die beiden sich drehenden Spulen. Als sie ihm auf die Schulter tippte, zuckte er leicht zusammen und nahm die Kopfhörer ab. „Das Essen ist fertig!“

Er verließ sein Arbeitszimmer und ging über den kleinen Flur nach rechts ins Esszimmer.

Als er das Gesicht seiner Frau sah, legte er seine Gabel hin: „Klara, du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich weiß, was ich seit vielen Jahren mache.“

Klara mit ihrer Einen Meter achtundsechzig großen Statur war etwas füllig um die Hüften. Ihr Gesicht, umrahmt von ihren blonden, wuscheligen, schulterlangen Haaren, zeigte eine versteckte Ängstlichkeit, ihre blauen Augen wanderten unstet hin und her.

Ihre vollen Lippen über dem etwas vorspringen Kinn harmonierten mit ihrer schönen, geraden Nase. Die zwei Grübchen an den Wangen links und rechts wirkten sehr sympathisch.

Sie schaute ihn mit großen Augen an: „Aber ich habe Angst. Und ich weiß nicht, ob dir klar ist, was du da machst. Du sitzt in deinem Zimmer und redest mit den Toten! Das muss man sich mal vor Augen halten, Paul. Egal, was dieser Schwede entdeckt hat.“

Sie musste sich beherrschen, dass sie nicht wieder wütend wurde. Er legte seine Hand um ihre Schulter. „Mich fasziniert das. Es ist ein Beweis, dass der Mensch nach seinem körperlichen Tod in irgendeiner Form oder Sphäre oder Dimension weiterlebt; und zwar irgendwie bewusst. Die Erlebnisse in seinem Leben sind gespeichert und er kann sie uns mitteilen. Das ist eine Sensation, Klara, es verändert unser gesamtes Denkschema.“

Es hörte sich an wie der Vortrag eines Wissenschaftlers, denn Paul war es todernst damit.

„Alles schön und gut, aber das hier…..nein danke, mit den Toten reden, oh Gott!“

Sie spießte mit der Gabel ein Stück Lammfleisch auf, aß es aber nicht. „Ich habe Angst, Paul, wirklich Angst. Das Schlimme ist, dass ich weiß, dass du nicht bescheuert bist; andrerseits hab ich Angst, es könnte stimmen, dass die Toten gar nicht so tot sind.“

Er nahm seine Gabel wieder auf und hielt sie in der Hand. „Ich kann dir jetzt was beweisen.“

Sie hatte noch keinen Bissen gegessen, trank nur einen Schluck Wasser und schaute ihn entgeistert an. „Beweisen? Was willst du mir beweisen, Paul?“

Er überlegte eine Weile, ob er es ihr sagen sollte. Er fragte sich nicht, ob es wie ein Schock wirken wird, vielmehr, wie groß der Schock sein wird. Wie wird sie über das, was ich ihr jetzt sage, hinwegkommen? Wird sie ihm dann glauben?

Sie blickte ihn aus schmalen Augen an, er konnte nicht mehr zurück.

„Gestern kam sie herein, die Stimme von Sarah.“

Ihr lief es kalt den Rücken herunter. Sie schüttelte den Kopf. „ Paul, bitte nicht…“ Dann stand sie auf und ging aus dem Esszimmer. Er hörte sie schluchzend die Treppen hoch laufen. Schon bereute er es.

Sarah war ihre ein Jahr ältere Schwester, die mit vierzehn in einem See ertrank. Ihr Vater starb kurz danach vor Schmerz, die Mutter erholte sich kaum von diesem Unglück, auch sie folgte ihrem Mann zwei Jahre später ins Grab, weil der Krebs durch dieses Unglück beschleunigt wurde. Noch heute fiel es Klara schwer, darüber zu reden, denn die beiden Schwestern waren ein Herz und eine Seele. Als sie später das Elternhaus verkaufte, stellte sie fest, dass Sarahs Zimmer seit damals nicht mehr verändert wurde, das Bett blieb so, wie es Sarah an dem Morgen verlassen hatte, die Bettdecke aufgeschlagen, das geblümte Nachthemd hing über der Bettkante, der Stuhl, über dem ihre Kleider hingen, stand immer noch vor dem Tisch, der Schrank war immer noch offen, und drinnen hingen ihre anderen Sachen und standen ihre Schuhe. Das Buch, das sie 1961 gelesen hatte, irgendein „Silvia-Roman“, lag aufgeschlagen am Tischrand. Keiner der beiden Eltern konnte sich mit der Tatsache abfinden, dass ihre ältere Tochter nie mehr wiederkommen wird. Es war so, als wäre die Zeit an diesem Tag stehen geblieben.

Er folgte ihr nach oben und fand sie auf dem Bett liegend vor. Er setzte sich an den Rand und legte seine Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. „ Schatz, es tut mir Leid.“ Die nächste Viertelstunde verbrachten sie beide schweigend, und sie begann sich wieder zu beruhigen.

„Lass uns morgen darüber reden.“ flüsterte sie.

„In Ordnung.“

Das Essen war natürlich kalt, keiner von beiden hatte jetzt noch Hunger.

Sie setzte sich unten ins Wohnzimmer und nahm ihren Roman zur Hand, nachdem sie das Essen in den Topf zurückgegeben hatte.

Er ging wieder in sein Arbeitszimmer.

Sie konnte sich nicht auf ihren Roman konzentrieren. Diese Botschaft ging ihr nicht aus dem Kopf. Natürlich hatte auch sie sich seit einiger Zeit Gedanken gemacht. Sie wusste, dass Paul einen Interessenverein der Tonbandstimmen gegründet hatte. Die Männer und Frauen diskutierten über das Thema, sie hatten alle ein Tonbandgerät und nahmen Stimmen auf, die aus dem Jenseits kamen, wie sie ernsthaft behaupteten. Dieser Schwede, dieser Jürgenson, wollte sogar Hitlers Stimme eingespielt haben. Entweder waren sie alle bescheuert inklusive ihres Mannes, oder…..? Das war das große Fragezeichen, mit dem sie sich in letzter Zeit gedanklich herumschlug, denn Paul war trotzt der Stimmeneinspielungen kein Spinner. Sie nahm Shakespeare als „Vehikel“, der in seinem Hamlet sagte > es gibt mehr Ding` im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumen lässt<. Und das mit der wissenschaftlichen Schulweisheit kennt man ja: es darf nicht sein, was nicht ins Raster passt.

Im tiefsten Winkel ihres Herzens jedoch reifte der Wunsch, mit Sarah in Verbindung zu treten, weil diese Stimmen vielleicht doch die Brücke dazu wären. Aber schnell verbannte sie ihre Absicht wieder.

Paul hatte oft gesagt, dass er versuchen wird, mit der toten Sarah Kontakt aufzunehmen.

Ihre Freundinnen und Verwandten würden denken, sie habe den Verstand verloren. Sie würden sie vielleicht mitleidig belächeln. Letztendlich könnte die Schulbehörde davon erfahren und ihre Reputation wäre im Eimer.

Sie hatten sich geliebt, die beiden Schwestern. Sie waren viel auf sich alleine gestellt, denn ihr Vater wollte ein gut gehendes Hotel aufbauen. Und ihre Mutter hatte wenig Zeit, sich um ihre Töchter zu kümmern, weil sie beim Aufbau mithelfen musste.

Klara konnte sich nicht konzentrieren, weil sie dauernd zur Türe des Arbeitszimmers schaute. Was würde passieren, wenn sie jetzt den Mut aufbrächte hineinzugehen, um ihren Mann aufzufordern, die Stimme abzuspielen? Die Stimme ihrer toten Schwester! Er hatte ein Kapitel aufgeschlagen, das sie eigentlich nie wieder lebendig werden lassen wollte, aber plötzlich trieb sie wieder die ungeheure Neugierde an; und die Vorstellung, ihre Schwester zu hören, raubte ihr schier den Verstand. Dann klappte sie das Buch zu, stand auf und ging hinüber in sein Arbeitszimmer.

Er saß wie üblich wieder konzentriert an seinem Tisch, die beiden großen Kopfhörer an den Ohren und schaute auf die zwei Spulen am Tonbandgerät. Vor ihm lag ein Notizheft, in der Hand hielt er einen Kugelschreiber. Leise klopfte sie ihm auf die Schulter. Er drehte sich um und nahm die Kopfhörer ab.

„Weißt du, ich hab mich doch entschlossen……“ brachte sie heraus und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.

„Bist du dir ganz sicher?“

„Ich denke, ja.“ Das wäre das erste Mal seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren, dass sie so etwas hören würde.

Er nickte wieder, blickte sie an. „Gut, Klara. Du wirst hören, dass die Stimmen nicht immer klar und deutlich sind. Manchmal kommen sie sehr schnell herein, manchmal singend oder sogar polyglott.“

„Polyglott? In mehreren Sprachen?“

„Ja.“

Sie faltete die Hände auf ihrem Schoß zusammen. Aber die Angst wich nicht von ihr.

„Ich spiele manchmal Stimmen ein, mit denen ich nichts anfangen kann. Vielleicht ist es jemand, der seine lebenden Verwandten anruft, die aber wissen nichts davon, weil sie keine Ahnung haben von den Tonbandstimmen. Zum Beispiel eine Kinderstimme: >was wär` ich geworden, wenn du mich geboren hättest?<“

„Du meinst, eine Kinderstimme? Ein totes Kind spricht da?“ fragte sie und bekam eine Gänsehaut. „Ein Kind, das gar nicht erst geboren wurde? Oh Gott.“

„Vermutlich ist es so. Die Mutter war schwanger und starb.“

Sie rieb sich die Arme. „Und du weißt nicht, wer das Kind ist?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, ich hab nur die Stimme eingespielt.“

Er trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse wieder ab.

„ Ich hab oft versucht, mit diesem Raudive Kontakt zu kriegen. Er ist neben Jürgenson der andere, der Tausende Stimmen katalogisiert und wissenschaftlich behandelt hat. Er sagte in einer Einspielung auf meine Frage, ob es nach dem Tode unsere Zeitbegriffe gibt, folgenden Satz: <Es ist vieles anders<.“

Sie atmete tief durch, und hatte das Gefühl, in ihrem Kopf wirbelt alles durcheinander.

„Oder manchmal eine junge Frauenstimme: < Ich will dir deinen Vater zeigen, Josua, hab Vertrauen>“.

Sie nickte leicht, aber schaute ihn trotzdem fragend an.

„Ich spiele dir erst mal ein paar andere Stimmen vor, damit du ein Gefühl dafür bekommst, nachher hörst du dann deine Schwester, o.k.?“

„O.k.“ sagte sie etwas bange.

Paul drehte an ein paar Knöpfen: „Du sagst mir, was du gehört hast.“

„Sag du es mir vor….“

„Nein, nein, das geht nicht, du selbst musst es hören. Die Hintergrundgeräusche sind sehr laut, sie müssen es sein, weil ich den Eingang auf die höchste Stufe stellen muss, lass dich nicht davon stören. Achtung!“

Sie hörte ein Rauschen wie in einem Kino mit dem Dolby-surround-System.

Dann plötzlich brach eine dunkle Männerstimme durch, und Klara hörte die Worte: >Such Welle – such Welle< wobei die Worte abgehackt und schnell klangen. Die Stimme war sehr gut hörbar, wirkte aber auf sie unheimlich. Sie zuckte erst einmal heftig zusammen.

Er lächelte: „Und?“

Sie atmete tief durch, dann sagte sie: „Such ..Welle.. such.. Welle, was heißt das?“

„Meine Frage war, auf welcher Radiowelle die besten Einspielungen gemacht werden können. Raudive meint damit, dass es vielleicht für jeden Experimentator eine andere Radiowelle gibt, die ich noch suchen müsste. Aber ich habe meine Welle noch nicht gefunden und arbeite noch mit dem Mikrophon.“

„ Und wer ist das jetzt gewesen? Wie heißt der Mann?“

„Ich weiß es noch nicht. Jetzt hör bitte zu, die nächste Stimme.“

Sie hörte ein dumpfes und nicht erklärbares Pfeifen im Hintergrund, dann plötzlich eine helle und singende Stimme: >Hier Esther.…..Paul will gute Tee.<

Ihr Herz klopfte heftig. Diese weibliche Stimme klang so intensiv, als ob die Person im Raum wäre. „Esther…..“ sagte Klara und schaute Paul an, „und gute Tee. Wer ist das?“

„Jeder kriegt eine Art Begleitperson von „drüben“ , die ihm behilflich ist. Ich hab dann auch mal nach so einer Kontaktperson gefragt, und es hat sich diese Esther sehr oft gemeldet. Vor zirka vier Jahren brach immer wieder diese schöne Frauenstimme durch. >Esther zeigt dir den Weg< sagte sie, oder sie nannte nur meinen Namen >Paul< >Paule< oder >Guten Abend Paule<. Mittlerweile kenne ich ihre Stimme genau. Ich hab dann gefragt, wo sie vor ihrem Tod einmal gewohnt hat.“

„Und?“

„Sie sagte: in Eltville am Rhein, Deutschland.“

“Das gibt es nicht!…und Paul will gute Tee …., das ist ja so, als… schwebe sie über uns.“

Sie umschlang ihre Arme. „Mir wird richtig kalt, mir läuft es den Rücken herunter, Paul.“

Er legte den Zeigefinger erneut auf die Wiedergabetaste. „Was du jetzt hörst, ist fast typisch für alle Einspielungen, es hört sich an wie ein Männerchor, höre!“

Erst kam das Rauschen, dann laute singende Bariton-Stimmen: >Wir sind daaaaaaaaaaa….< Die letzten Vokale klangen lang gezogen aus.

„…wir sind da!“ sagte sie. Er legte seine Hand auf ihren Arm, über den sich eine Gänsehaut zog und streichelte ihn. Ihre Miene drückte jedoch noch immer Skepsis aus.

„Wann kommt die Stimme von Sarah?“

„Gleich.“

Er drückte wieder auf Play. Eine schnelle, laute Stimme. >Mutter redet hier – e`Telefon<.

„Wer war das?“

„Meine Mutter…“ sagte er. Klara erstarrte.

„Und jetzt wieder eine junge, helle Stimme. Hör bitte!“

Aus dem Lautsprecher kamen schnelle, helle Worte: >Tobi …mir geht… .sehr gut<

Paul sagte, dass er auch mit dieser Stimme nichts anfangen kann. Aber es ist eine paranormale Stimme wie die anderen auch.

Und dann kam es unerwartet. Die Stimme klang so, als rufe jemand am Ende eines Tunnels, es war eine Jungmädchenstimme, und Klara hatte das Gefühl, jeden Augenblick zusammenzuklappen. Das lähmende und entsetzliche Gefühl kam von ganz unten und wurde immer größer.

Sie hörte ringsherum nichts mehr.

Sie schloss die Augen und sah ihre kleine Schwester vor sich.

>Sarahhhhhhhhhhhh<, der Konsonant klang wie ein hin gehauchter Atem. Sie schüttelte den Kopf…“Nein, nein Paul, das ist … das kann nicht meine Schwester sein…“ Sie wehrte sich mit allen Kräften gegen das Gehörte, wollte es leugnen. Es mag Millionen Menschen mit dem Namen Sarah geben, dachte sie abwehrend! Paul sagte nichts, denn dann kam dieselbe Stimme noch einmal, und beide hörten anschließend das Wort >Äppli<. Er stellte das Gerät ab.

„Wer oder was ist Äppli?“ fragte er und sah in ihr blasses Gesicht. Sie setzte sich ganz nah an ihn heran, verkrampfte ihre Hände im Schoß und starrte das Tonbandgerät an. Ihr Herz stolperte vor Erregung. Dann nahm sie seine linke Hand in ihre und drückte sie so fest zu, dass die Knöchel weiß wurden. Es war totenstill im Zimmer. Sie presste die Lippen zusammen, als wolle sie das nicht sagen, was sie sagen musste. Es war wie der stumme Schrei vor neunzehn Jahren, als sie erfuhr, dass Sarah ertrunken war. Mit einem Schlag traf sie die Erkenntnis, dass diese Stimmen real waren. Und dass diese wie aus weiter Ferne hin gehauchte Jungmädchenstimme die ihrer toten Schwester ist. Minuten des Schweigens vergingen.

Er fragte noch einmal behutsam: „Liebling, was oder wer ist Äppli?“

Dann drehte sie langsam den Kopf zu ihm. „Äppli war Sarahs erste zarte Liebe – mit dreizehn.“

Das war genug an diesem Abend. Mehr konnte und wollte sie nicht hören, sie musste jetzt plötzlich alles, was sie bezweifelt hatte, in einem anderen Licht sehen. Die ganze Nacht hatte sie Schwierigkeiten einzuschlafen.

Paul hatte versucht, sie in die Arme zu nehmen, aber sie hatte sich zurückgezogen, sie wollte mit diesem seltsamen Gefühl alleine sein.

Immer wieder hörte sie diese hin gehauchte Stimme, diese Frage oder Mitteilung, dieses stille, hauchende Rufen aus weiter Ferne. Gegen vier Uhr fielen ihr die Augen zu, und sie begann in einen Dämmerzustand hinüberzugehen, einer Phase zwischen Wachen und Halbschlaf. Und auch da hörte sie ihre Schwester in immer wieder anderen Stimmlagen „Sarahhhhhh“ und „Äppli“ rufen. Gerne hätte sie ihren Mann geweckt, aber er musste früh aufstehen. Gegen halb fünf schlief sie ein.

Am anderen Morgen spürte sie Pauls Mund an ihrer Wange. Er küsste sie und verließ die Wohnung, um in einen seiner drei Teeläden zu fahren.

Gegen acht Uhr stand sie auf. Sofort waren ihre Gedanken wieder bei ihrer Schwester und der Stimme von gestern Abend. Sie fühlte sich wie gerädert, dann kamen Kopfschmerzen hinzu. Und in einer irren Phase dieses Morgens hatte sie das Gefühl, sie wäre nicht alleine in der Wohnung, Sarah wäre bei ihr. Sie kochte sich einen Tee, Hunger hatte sie keinen, die ganze Sache war ihr auf den Magen geschlagen. Während sie nach ihrer Teedose griff und einen Löffel Darjeeling für ihre Tasse herausschöpfte, dachte sie unwillkürlich daran, dass Sarah jetzt dreiunddreißig Jahre alt wäre, vielleicht wäre sie verheiratet oder wieder geschieden, vielleicht hätte sie Kinder, vielleicht wäre sie glücklich oder auch nicht. Es war wie ein Zwang, an Sarahs nicht-lang-gelebtes-Leben zu denken. Sie erinnerte sich an Bertolt Brecht aus dem Lesebuch für Städtebewohner „Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe“.

Der Totenflüsterer

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