Читать книгу Im Strudel des Schicksals - Dietmar Schenk - Страница 12

10. Kapitel – Post für Sandra

Оглавление

Vom Treffen mit Malcolm aus hat Sandra zuallererst ihre Großeltern aufgesucht. Sie musste ihnen einfach diese Neuigkeit überbringen, wusste sie doch, dass sie sich mit ihr freuen würden. Obwohl sie beim Auszug versprochen hatte, sie oft zu besuchen, war sie nun schon ein paar Tage nicht mehr da gewesen. Das hatte Brian nicht davon abgehalten, ihr 500 Pfund zu überbringen, ohne sie für ihre Unzuverlässigkeit zu tadeln. Wie sehr sie sich doch in ihnen getäuscht hatte, und wie weh das nun tat. Heute war sie endlich wieder einmal bei ihnen gewesen. Es war eine sehr schöne Unterhaltung. Am meisten hat Sandra begeistert, dass es Karen sichtbar besser ging. Ihr kam es so vor, als dass sie sicherer auf den Beinen war. Vielleicht würde sie bald keinen Stock mehr brauchen.

Nun sitzt Sandra wieder bei Gwynn und erzählt ihr von dem erfolgreichen Treffen mit Malcolm. „Er ist ein total lieber und interessanter Mann“, beendet sie den Vortrag.

„Er scheint dir gut zu tun“, flaxt Gwynn. „Du schwärmst ja richtig von ihm.“

„Nicht von ihm als Mann, sondern als Mensch, als Person, verstehst du?“

Gwynn grinst breit. „Na klar, als Person.“

„Jetzt hör auf damit“, schimpft Sandra. „Zwischen uns liegen mehr als 40 Jahre.“

„Ist das ein Hindernis? Er sieht doch locker 20 Jahre jünger aus, oder meinst du nicht?“

„Du bist unmöglich, Gwynn. Wir wollen keine Männer mehr, oder täusche ich mich?“

Sie hebt beide Hände und schüttelt den Kopf. „No way. Mir reicht’s.“

Vielsagendes Schweigen.

Nach einigen Minuten, die sie sich dem Blick auf den Bach hingeben, fragt Sandra: „Wo sind eigentlich die Kinder?“

Gwynn deutet mit dem Arm in Richtung Straße und unterstützt die Geste mit den Worten: „Boy veranstaltet für Jessica eine Sightseeingtour durchs Dorf.“ Nach einigen weiteren Momenten des Schweigens fügt sie hinzu: „Du möchtest also den Job bei ihm annehmen?“

„Unbedingt“, bestätigt Sandra mit unübersehbarem Schwärmen. „Was könnte mir Besseres passieren, als das?“

„Recht haste“, lobt Gwynn. „Du siehst ja auch großartig aus. Ganz anders als gestern Morgen. Das ist gut so, denn wenn du auf dem Weg zur Besserung bist, brauchst du ja den Brief nicht, der heute im Postkasten lag.“

„Welchen Brief?“

Gwynn erhebt sich schwerfällig, geht in die Küche und kommt mit einem Umschlag zurück in den Erker. „Den hier.“ Sie legt ihn auf den Tisch. Dann setzt sie sich und schiebt ihn noch ein wenig näher zu Sandra hin.

Zögerlich nimmt sie ihn auf. Er ist zwar an Gwynn adressiert, da der Absender aber die regionale Zeitung ist, in der sie die Anzeige aufgaben, ist er sicherlich für Sandra gekommen. Ihr zittern die Hände, als sie den Umschlag aufreißt und ein Schreiben herausnimmt, das mit einer Chiffre versehen ist.

„Eine Bewerbung auf deine Anzeige?“, fragt Gwynn.

„Ja“, antwortet Sandra.

„Nun mach schon, lies vor.“

Als ob Sandra die Aufforderung nicht gehört hätte, schaut sie sich den Brief von allen Seiten an. Die Rückseite ist unbeschriftet. Oben ist eine Notiz drangeknipst, die den Tag des Eingangs bei der Zeitung, die Chiffrenummer, den Absendetag an Gwynn, sowie Gwynns Adresse enthält.

„Was ist denn nun?“ Gwynn wird langsam zappelig.

Anstatt vorzulesen, fragt Sandra: „Wo um alles in der Welt liegt denn Pwllheli. Mein Gott, was für ein Zungenbrecher. Wie spricht man das denn aus?“

„Wie? Nochmal.“

Sandra buchstabiert: „P W L L H E L I.“

„Hört sich nach Wales an. Wenn es walisisch ist, dann heißt das wohl Pusshälli oder so ähnlich.“ Sie nimmt ihr Handy und googelt danach. Schnell hat sie es gefunden. Sie zeigt Sandra die Karte von Wales. „Da, direkt am Strand der Irischen See.“

„Weit weg“, meint Sandra.

„Ist auf jeden Fall nicht gleich um die Ecke“, bestätigt Gwynn.

„Wie kommt denn jemand aus Wales an die Anzeige?“, fragt Sandra.

„Nun lies doch endlich mal vor, dann wissen wir mehr.“

Sandra schüttelt den Brief ein wenig und holt tief Luft, als die Haustür aufgestoßen wird und die beiden Ausflügler in die Wohnung stürmen.

Jessica läuft auf ihre Mama zu und umschlingt sie in altbekannter Weise. „Schön, dass du wieder da bist. Hast du die Stelle bekommen?“

Sandra ist es gerade noch so gelungen, Gwynn das Schreiben zuzuschieben. Sie streichelt Jessica und antwortet: „Ja, meine Kleine, hab ich.“

Sie lässt Sandra wieder los und berichtet voller Enthusiasmus: „Stell dir vor, Boy hat mir ein Haus gezeigt, das hat gar kein richtiges Dach. Da liegt lauter Stroh drauf.“

„Das ist Riet“, antwortet Sandra. „Ich weiß, welches Haus du meinst. Wunderschön. Wir sollten mal einen Spaziergang dorthin machen. Was meint ihr?“

„Ja, kommt mit, ich zeig euch das Haus“, schlägt Boy vor.

Gwynn blickt auffällig unauffällig auf das Schreiben von der Zeitung, das sie in Eile zusammengefaltet und wieder in den Umschlag gesteckt hat. Sie ist neugieriger als Sandra auf den Inhalt.

Sandra nickt kurz. „Hast du noch ein paar Scones da?“, fragt sie.

„Nicht mehr viele, warum?“

„Meine Großeltern haben bestimmt noch nie deinen prämierten Cream Tea genossen. Boy und Jessi könnten ihnen was vorbeibringen, und wir holen sie später für einen Spaziergang dort ab.“

Gwynn befreit den Stuhl von ihrem Gewicht, schneller, als man es von ihr gewohnt ist, und eilt in die Küche. Wenig später kommt sie mit einer Papiertüte zurück, die sie Jessica in die Hand drückt. „Hier, das ist für Karen und Brian. Tee haben sie?“

„Immer“, weiß Sandra, „und Erdbeermarmelade auch.“

„Fehlt nur noch Clotted Cream.“ Gwynn holt sie in der Küche und gibt sie Boy. „Hier, pass gut drauf auf.“ Mit einem Klaps auf den Hintern, fügt sie hinzu: „Und nun, ab mit euch. Wir sehen uns nachher.“

Als die Kinder aus dem Haus sind, können die beiden Frauen sich endlich wieder dem Schreiben widmen. Sandra faltet es erneut auseinander und beginnt:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

gute Freunde aus Bristol haben uns ihre Anzeige zugeschickt, die Sie im Herold veröffentlichten. Sie suchen liebevolle Pflegeeltern für Ihr achtjähriges Kind und stellen auch die spätere Adoption in Aussicht. Ihre Anzeige spricht uns sehr an. Wir sind sehr dankbar und wären Ihnen überaus verbunden, wenn Sie sich bei uns melden würden.

Wir sind ein Ehepaar um die 45. Trotz dieses noch recht jungen Alters, haben wir bereits viel erlebt. Wir sind seit nunmehr 20 Jahren verheiratet und lieben uns immer noch wie am ersten Tag. Zwei entsetzliche Schicksalsschläge haben uns allerdings sehr zugesetzt. Wir waren einmal Eltern und hatten zwei wunderbare Kinder. Eines davon, unser Sohn Peter, ist vor drei Jahren mit 15 tödlich verunglückt, und unsere Tochter Julie ist im letzten Jahr einer schweren Krankheit erlegen. Da war sie gerade mal zwölf. Wir möchten wieder ein Kind haben, finden uns aber zu alt dafür, noch mal ein eigenes in die Welt zu setzen. Ihre Anzeige gibt zwar nicht viel preis, lässt aber vermuten, dass Ihnen eine große Last von den Schultern genommen wird, wenn Sie die gewünschten Pflegeeltern finden. Lassen Sie uns bitte drüber reden. Wir sind sehr liebevoll. Herzlichst, Perdita und Geoff.“

Sandra lässt das Schreiben sinken.

„Puh“, entfährt es Gwynn. „Was wirst du jetzt tun? Pusshälli ist locker mal fünf Stunden von hier entfernt. Mit dem Auto, das du nicht hast, wohlgemerkt. Mit dem Zug dauert es vielleicht den ganzen Tag. Wenn du dich da einnisten willst, dann brauchst du bei Malcolm nicht mehr anzutreten.“

„O Gwynn, was soll ich denn jetzt machen? Diese Leute berühren mein Herz. Sie haben Schlimmes erlebt und wären sicher für Jessi da, wie man es sich nur wünschen kann. Andererseits ist Malcolm so ein Lieber, dem ich mit meiner Gesellschaft seinen Herzenswunsch erfüllen könnte. Warum muss immer alles so schwer sein?“

„Weil du es dir selbst schwermachst.“

„Wieso ich? Das ist jetzt nicht nett von dir.“

Bisher haben sich die beiden Frauen am Fenster gegenübergesessen. Nun kommt Gwynn um den Tisch herum und hockt sich neben Sandra. Sie legt ihr einen Arm um die Schultern. „Ich will dich nicht beleidigen, Süße. Aber schau doch mal: Dir sind andere wichtiger als du selbst. Du willst, dass es diesen Leuten aus Wales, die du überhaupt nicht kennst, gutgeht. Dass sie ein Kind bekommen, das ihnen selbst nicht vergönnt war. Im Grunde denkst du daran, Fremden mit deinem Kind einen Herzenswunsch zu erfüllen. Gleichzeitig ist es dir wichtig, dass Malcolm sich wohlfühlt. Und wo bleibst du in deinen Überlegungen? - Sag mir doch mal, wie es dir geht? Was machen die Anfälle? Sind sie noch wie vor zwei Wochen, als du hier ankamst? Oder hat sich was gebessert?“

Sandra beginnt zu weinen und sucht nach einem Taschentuch.

Gwynn ist schneller und tupft ihr die Tränen ab.

Schnell wie eine Sprungfeder, wirbelt Sandra zu Gwynn herum und klammert sich an sie. An ihrer Schulter lässt sie den Tränen freien Lauf. „Du hast ja so recht“, schluchzt sie. „Im Moment geht es mir etwas besser. Die Anfälle werden weniger, aber gut ist es noch lange nicht. Ich denke halt viel an Jessica, was mit ihr wohl sein wird, wenn ich nicht mehr bin…“

„Glaubst du denn immer noch daran, dass du sterben musst?“

Sandra weint nun ganz fest und nickt dabei.

„Wir sollten uns Gewissheit verschaffen“, schlägt Gwynn vor. „Lass uns zu einem Spezialisten gehen. Lass dich untersuchen und hole dir eine zweite Meinung.“

Sandra schüttelt energisch den Kopf. Sie erholt sich langsam. Wesentlich gefasster antwortet sie: „Das packe ich nicht, Gwynn. Was, wenn der Arzt die Diagnose bestätigt?“

„Und was, wenn er sie dementiert?“

„Das ist mir zu viel Risiko. Wenn ich keine zweite Meinung höre, mag die erste stimmen, oder auch nicht. In dem Fall kann ich mich auf mein Gefühl verlassen. Wenn ich spüre, dass es mir immer besser geht, dann kann ich glauben, dass ich gesund werde, verstehst du? Stell dir aber mal vor, der Spezialist sagt was von zwei Monaten, die ich noch zu leben habe. Das sind acht Wochen, Gwynn. Damit wäre mein Schicksal dann vollends besiegelt. Es würde mir das Lebenslicht ausblasen.“

„Weißt du was, Liebes? Vorhin hast du noch gesagt, dass du mit deinem Leben abgeschlossen hast. Dass du immer noch daran festhältst, dass du sterben musst. Und jetzt sagst du genau das Gegenteil. Du hältst dir die Option offen, gesund zu werden. Ist das nicht toll?“

Sandra befreit Gwynn aus ihrer Umklammerung. „Du bist wunderbar, meine beste Freundin.“

„Dann lass uns jetzt zu deinen Großeltern gehen, und morgen schlägst du bei Malcolm auf. Los geht’s. Auf ins Leben!“

Im Strudel des Schicksals

Подняться наверх