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3. Kapitel – Bei den Großeltern
ОглавлениеCombe Manor ist ein kleiner Ort mit nur wenigen Hundert Einwohnern. Er wird vor allem geprägt von einer schmalen Hauptstraße, die von der Brücke aus leicht ansteigt und beidseitig von kleinen beigen Sandsteinhäusern gesäumt wird. In der Sonne wirken sie, als ob sie leuchten. Jessicas Augen verlieben sich gerade in das Bild, das sich ihr bietet. „Das ist ein sehr schönes Dorf“, sprudelt es aus ihr heraus. Kindliche Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie brauchen nicht weit zu gehen, denn Sandras Elternhaus, das eigentlich nie ihr Elternhaus war, ist nur 50 Meter von der Brücke entfernt. Nach wenigen Minuten stehen sie bereits davor, stellen ihr Gepäck ab, und Sandra zeigt mit dem Finger drauf. „Das ist es. Da wohnen deine Urgroßeltern.“
Jessica fasst Sandra am Rock und zieht daran, während sie auf ein gusseisernes Gebilde über der Haustür deutet. Die Figur zeigt ein liegendes Einhorn. An der Wand gibt ein Schild in Form eines Wappens Auskunft über den Namen des Hauses. „Mama, schau doch. Das Haus heißt Unicorn Lodge. Weißt du, dass ich nachts ab und zu mit einem Einhorn wegfliege? Das ist so schön. Und da wohnen wir nun?“ Das Mädchen fühlt sich gerade wie im Märchen.
„Ja“, antwortet Sandra mit einem befreienden Seufzer. „Ja, da werden wir wohnen.“
„Was bedeutet denn ‚Lodge‘?“
Noch bevor Sandra erklären kann, dass damit ein kleines Haus gemeint ist, wackelt eine Gardine an dem nur kniehoch über der Straße gelegenen Fenster neben der Tür. Schemenhaft ist dahinter das Gesicht eines älteren Mannes zu erkennen. Es verschwindet wieder. Kurz darauf wird zaghaft die schwere hölzerne Haustür geöffnet. Der ältere Herr zeigt sich. Es ist Brian Pearson, Sandras Opa. Verwundert schiebt er seine buschigen, dunklen Augenbrauen hoch. „Sandra? Bist du das?“, fragt er. Dabei bewegt er sich nicht von der Stelle. An der Haustür harrt er der Dinge, die da kommen mögen.
„Ja, ich bin das, Opa. Wie geht es dir?“
Ohne auf die Frage einzugehen, deutet er mit seinem klobigen Zeigefinger auf Jessica. „Und wer ist das?“
Sandra dreht sich zu dem Mädchen um, winkt es herbei und legt ihr, als sie neben ihr steht, voller Stolz eine Hand auf die Schulter. „Das ist Jessica, deine Urenkelin.“
„So-so, Urenkelin.“ Endlich macht er einen Schritt zur Seite und sagt, begleitet von einer eindeutigen, wenn auch nur flüchtigen Handbewegung: „Nun kommt schon rein.“
Die beiden schnappen sich ihr spärliches Gepäck und drängen sich an Brians ausgeprägtem Leibumfang vorbei in einen engen, dunklen Flur. Unschlüssig, was sie den Taschen machen sollen, wartet Sandra auf weitere Anweisungen. Endlich wird die Tür geschlossen. Das sorgt für eine gewisse Dunkelheit, an die sich die Augen erst gewöhnen müssen.
„Geht weiter“, sagt Brian und bedient sich dabei einer Geste, als wolle er ein paar Gänse vor sich hertreiben. „Du kennst dich ja hier aus, auch wenn’s lange her ist…“
Sie gehen durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses, wo rechts eine nach Bohnerwachs riechende steile Treppe unters Dach führt und sich links zwei Zimmer befinden. Das Fenster zur Straße gehört zur Küche. Dahinter liegt ein kleines Wohnzimmer. Eine große gläserne Terrassentür gestattet einen Blick auf den kleinen, auch zu dieser Jahreszeit üppig bewachsenen Garten. Selbst der Turm der mittelalterlichen Kirche ist von hier aus zu sehen.
„Geht ins Wohnzimmer“, befiehlt Brian. „Das Gepäck stellt ihr am besten unter die Treppe, damit man nicht drüber stolpert.“
Während die beiden wie geheißen ihre Sachen verstauen, fragt Sandra: „Ist Oma auch da?“
Brian geht derweil ins Wohnzimmer und setzt sich auf eine alte, aber gut erhaltene dunkelbraune Ledercouch. Er nimmt eine Zeitung vom Tisch und antwortet. „Sie schläft.“ Dann schiebt er seine Brille auf die Nasenspitze und schaut über deren Rand zu, wie Sandra und Jessica sich müde in die ebenso alten, gepflegten Sessel fallen lassen. „Was wollt ihr eigentlich hier?“
Sandra beugt sich vor und legt die Fingerspitzen aneinander. Sie wagt den Versuch einer Erklärung, als Schritte auf der knarrenden Treppe zu vernehmen sind, die sich vorsichtig nach unten bewegen. Sie werden vom Klacken eines Stocks begleitet. Als die letzte Stufe genommen ist, erscheint Oma Karen im Türrahmen. Sandra erschrickt. Sie hat sie zuletzt gesehen, als sie nach Berlin ging, und seither ist sie um Jahrzehnte gealtert. Dabei ist sie erst 70, sieht aber 20 Jahre älter aus als ihr Mann mit 73. Es ist ihr anzusehen, dass auch sie einmal eine ausgeprägte Leibesfülle hatte. Jetzt aber wirkt sie ausgezehrt. Nur das schlohweiße Haar, kurz und ordentlich frisiert, scheint vom Kräfteverfall verschont geblieben zu sein. Sandra erhebt sich und geht auf Karen zu. Sie erfasst deren freie Hand und führt sie für einen Kuss an den Mund. „Guten Tag, Oma.“
Die Frau zieht ihre Hand weg. „Schön, dass man dich auch wieder mal sieht.“ Auf schwachen Beinen bahnt sie sich ihren Weg zum Sofa und setzt sich neben Brian, der die Zeitung inzwischen aufgenommen hat. Sandra sieht von ihm nur die Finger. Der Rest der fülligen Gestalt ist hinter bedrucktem Papier verschwunden.
„Oma, es tut mir leid“, beteuert Sandra und setzt sich wieder hin. „Ich weiß, ich hätte mich mal melden sollen. Aber ich konnte nichts dafür, das musst du mir glauben.“
„Telefonieren kann man immer mal. Wenigstens einmal in zehn Jahren hätte doch drin sein müssen, selbst für dich. Hast du eine Ahnung, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“ Karens Stimme klingt zittrig und schwach. Sandra kann nicht einordnen, ob es ihre Gebrechlichkeit ist, oder ob sie dem Weinen nahe ist.
Jessica weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ihr ist schrecklich zumute. Am liebsten würde sie aus dem Haus flüchten und zu Gwynn laufen. Aber Gwynn ist ja zur Arbeit gegangen. Sie reißt sich zusammen und schaut zur Decke, die mit einem Blümchenmuster tapeziert ist. Sie beginnt, die Blüten zu zählen und lenkt sich so von dem Gespräch ab. Ein Einhorn-Lodge hat sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Ob Uroma in Wirklichkeit eine Hexe ist? Fast scheint es so.
„Oma!“ Nun weint auch Sandra. Sie macht Anstalten, sich zu erheben und zu Karen zu gehen.
Die aber vereitelt das Vorhaben schon im Entstehen. „Bleib sitzen.“ Für diese beiden Worte muss Karen all ihre Kraft aufgewendet haben. Sie klingen herrisch und befehlerisch, ohne die Spur von Schwäche, und Sandra gehorcht erschrocken. ‚Ob sie nur die Schwache spielt?‘, schießt es ihr durch den Kopf. Aber dann verliert die Stimme wieder an Kraft und klingt zittrig und leise. „Wie ich sehe, hast du Gepäck dabei. Willst du nun in England bleiben?“
‚In England – irgendwo in England, aber bitte nicht hier bei uns.‘ So hört es sich an.
Brian lässt erwartungsvoll die Zeitung sinken und schaut gespannt über den Rand seiner Brille.
Eigentlich wollte Sandra von ihrer Krankheit erzählen, davon, dass sie bald sterben wird, was ihr nun wahrhaftig wieder möglich erscheint, und davon, dass sich jemand ihrer lieben Kleinen annehmen muss, wenn sie nicht mehr ist, aber angesichts dieses kühlen Empfangs und der kraftlosen Oma gelingt es ihr nicht, den Einstieg dafür zu finden. Sandra druckst herum, schüttelt den Kopf, und dann nickt sie. „Ja, irgendwie schon. Wir sind heute erst angekommen und haben uns gleich auf den Weg zu euch gemacht.“
„Immerhin hast du uns nicht ganz vergessen“, sagt Brian, der bereits wieder in die Zeitung vertieft ist.
„Und was willst du hier?“, fragt Karen. Beide Hände ruhen auf dem Stock, der quer über ihrem Schoß liegt, während sie schwer atmend auf eine Antwort wartet.
„Wir haben kein Zuhause“, gibt Sandra zu Bedenken. „Ich dachte, ihr hättet - vielleicht – mein altes Zimmer – oben unterm Dach…“
Karen nimmt noch einmal einen tiefen Atemzug. „Dein altes Zimmer ist voller Gerümpel.“
Sandra glaubt, ein Signal der Annäherung zu spüren und antwortet: „Das macht nichts, Oma. Wirklich. Ist denn mein Bett noch drin?“
Nun mischt sich Brian wieder ein. „Du hast vielleicht Nerven“, sagt er, ohne die Zeitung herab zu nehmen. Es klingt eher so, als hätte er es mehr zu sich selbst gesagt, als zu Sandra.
„Wie stellst du dir das denn vor?“, fragt Karen. „Wie lange willst du denn bleiben?“
Sandra spielt mit einer ihrer matten Strähnen, die kraftlos auf die Schulter fallen. Sie spürt, welche Ablehnung in der Frage mitschwingt. Urplötzlich wird ihr Gesicht aschfahl und sie hält sich den Oberbauch. „Mir wird schlecht“, stöhnt sie.
Jessica springt auf, kniet sich neben Sandras Sessel, streichelt ihr Bein. „Mama“, ruft sie erschrocken und angstvoll zugleich.
„Nun tu doch nicht so“, krächzt Karen. „Mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Das hat deine Mutter lange genug versucht. Genauso ein Flittchen wie du, das auch schon seit einer Ewigkeit verschwunden ist.“
Sandras fahles Gesicht wird knallrot, und ihre Backen blähen sich auf. Sie drückt sich aus dem Sessel hoch, zeigt auf ihre zusammengepressten Lippen – ich muss mich übergeben – und eilt zur Toilette, so schnell es ihr Zustand zulässt. Die Tür wird zugeschmissen, und dann ist zu hören, was Jessica schon so oft miterleben musste.
Jessica läuft zur Toilettentür, will sie öffnen, stößt aber auf Widerstand, weil ihre Mama drinnen davor kniet. Entsetzt und planlos läuft sie zwischen Wohnzimmer und Klo hin und her, schaut auf die ratlosen Gesichter der Urgroßeltern, bis sie sich wieder in ihren Sessel fallen lässt und zu weinen beginnt.
Würgen und Husten gehen noch eine Zeitlang weiter. Es scheint gar nicht mehr enden zu wollen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit kommt Sandra wieder ins Wohnzimmer. Noch immer ist ihr schlecht. Kraftlos lässt sie sich in den Sessel sinken.
Karen und Brian sitzen fast entspannt auf dem Sofa, als sei nichts geschehen. Die Zeitung liegt inzwischen wieder auf dem Tisch, und die Lesebrille ebenfalls. Karens Augen sind geschlossen, aber die Lider zucken.
„Hast du den Flug nicht vertragen?“, fragt Brian.
Sandra hebt die Schultern. Als sie spürt, dass Jessica sie anschaut, begegnet sie ihrem Blick, der überdeutlich darum bittet, die Großeltern in ihre Krankheit einzuweihen. Da Sandra glaubt, dass es dazu noch zu früh ist, bittet sie Jessica stumm um Schweigen und sagt: „Dürfen wir hier wohnen, Opa? Bitte. Ich weiß sonst nicht, wohin.“
Brian blickt zur Decke, als zähle er jetzt die Blüten. „Von mir aus“, sagt er.
„Für eine Woche“, fügt Karen hinzu. „Nicht länger. Das ist Zeit genug, eine neue Bleibe zu finden.“
„Wo soll ich denn hin? Ich habe doch auch kein Geld.“
„Eine Woche“, wiederholt Karen. „Es ist für uns alle das Beste.“ Karen möchte mit ihrer Ablehnung noch ausführlicher werden, lässt es aber dann doch bleiben, weil Sandra erneut zur Toilette flieht.
In einem kleinen Zimmer von nur zehn Quadratmetern, mit schrägen gelben Wänden und voller Gerümpel, liegt Sandra mit ihrer Kleinen in einem muffig riechenden Bett, das sich irgendwie feucht anfühlt, obwohl es trocken ist. Aber die dicke Decke, unter der sich die beiden verkrochen haben, hält ungewöhnlich warm. Ein Teil des Zimmers geht an einen wuchtigen Kamin verloren, der ein wenig den Raum wärmt, weil das Erdgeschoss mit Holz beheizt wird. Sandra möchte ihn umarmen. Sie fühlt sich fast ein wenig wohl, wohler zumindest, als in Berlin. Die erste Nacht in England, in ihrem Elternhaus, bei Oma und Opa. Es scheint, als hätte Opa nur für sie den Kamin erwärmt, als Wiedergutmachung für den frostigen Empfang am Nachmittag.
Neben dem Kamin lässt ein Sprossenfenster etwas Licht von draußen herein. In der fahlen Helligkeit fällt das Gerümpel fast nicht auf, und gegenseitig spenden die beiden Damen sich ein wenig Behaglichkeit.
„Geht es dir wieder gut?“, fragt Jessica.
„Ja, mein Schatz.“
„Wirklich gut? So richtig-richtig gut?“
Sandra streckt ihren Zeigefinger aus und hält ihn so in Richtung Fenster, dass Jessica ihn im fahlen Licht erkennen muss, so sie denn die Augen offen hat. Sie windet sich und kichert. Ja, sie hat sie auf. Sandra lässt den Finger unter der Decke verschwinden, hält Jessica fester in ihrem Arm und piekst sie mehrmals auf die kurzen Rippen. „Ja, so richtig-richtig-richtig-richtig gut, mein Schatz.“
Das Kind bäumt sich laut lachend auf, entspannt sich aber wieder, als Sandra die Hand auf die Decke legt. „Ich freu mich, Mama“, sagt sie. „Du schaffst das. Du wirst wieder ganz gesund.“
„Natürlich, mein Schatz!“
Sie schweigen, und Sandra ist schon fast eingeschlafen, als Jessica fragt: „Mama?“
„Ja, Kleines?“
„Sind Einhörner böse?“
Sandra streichelt Jessicas Kopf. „Unsinn, wie kommst du denn darauf?“
„Wir sind doch hier in Unicorn Lodge. Wenn Einhörner liebt wären, dann müssten doch auch Oma und Opa lieb sein.“
„Sie haben mich lange nicht gesehen“, erklärt Sandra. „Das wird schon, sei beruhigt. Sie müssen sich erst wieder an mich gewöhnen. - Bist du eigentlich satt geworden?“
„O ja“, sagt Jessica. „Das war lecker. Fish and Chips ist Englisch, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigt Sandra, „so Englisch wie Cream Tea.“
„Dann werde ich das jetzt jeden Tag essen. Darf ich?“
„Wann immer wir die Möglichkeit dazu haben, werden wir Fish and Chips essen“, antwortet Sandra. „Aber jetzt schlafen wir erst mal, okay?“ Sandra spürt, wie Jessica in ihrem Arm nickt. Sekunden später ist sie eingeschlafen. Sie schiebt die Kleine vom Arm runter, dreht sich um und schläft ebenfalls schnell ein.