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1. Kapitel - Good Bye, Germany

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„Sie haben Krebs!“

Sandra sitzt auf ihrem zerwühlten Bett neben einem geöffneten schäbigen Lederkoffer. Um sie herum liegen Klamotten. Zwei verwaschene Jeans, mehrere graue T-Shirts, Slips, BHs und Socken. In den Händen hält sie ein gerahmtes Foto von sich als 18-Jährige. Das ist nun 12 Jahre her. Es ist das einzige Bild, das sie von sich besitzt. Aber auch, wenn sie es in den Händen hält, schaut sie es nicht an. Ihr Blick richtet sich geistesabwesend zum Fenster.

„Sie haben Krebs!“

„Ja, ich habe Krebs“, erwidert sie leise auf die Stimme im Kopf. Seit sie es erfahren hat, hallt sie immer wieder mal auf. Auch mitten in der Nacht, wenn Sandra meint, zu schlafen.

Das triste Grau da draußen macht dem fiktiven Bild einer Arztpraxis Platz. Vor ihr sitzt an einem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch mit PC ein Arzt wie aus dem Bilderbuch: Um die 60, die vollen Haare graumeliert, mit Stethoskop um den Hals und zwei Kugelschreibern in der Brusttasche des weißen Kittels. Er sitzt ihr gegenüber und dirigiert mit gepflegten Händen per Maus den Cursor über den Monitor. Langsam und lange. Dann schaut er über den Rand seiner Lesebrille Sandra an, und sein Blick bekommt einen Hauch von Mitgefühl, als er sagt: „Frau Pearson, es tut mir unendlich leid, Ihnen sagen zu müssen, dass sie Bauchspeicheldrüsenkrebs haben.“

Sandra hört sich selbst unfassbar gefasst antworten: „Aha. Und wie lange hab ich noch?“

Der Arzt schaut wieder auf den Monitor, als könnte er dort die Antwort ablesen, und antwortet nach einer gefühlten Ewigkeit: „Maximal sechs Monate.“

„Sechs Monate“, wiederholt Sandra. „Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.“

Nun nimmt wieder die lichtlose Suppe ihren Platz in Sandras Realität ein. Sie wird sich auch wieder des Bildes in ihren Händen gewahr, hebt es ein wenig an und senkt ihren Blick darauf. „Da war noch alles in Ordnung“, flüstert sie. „Wo ist mein Leben nur hingegangen?“ Tränen quellen aus den Augen und rollen die blassen Wangen hinab. Sie legt das Bild in den Koffer und wischt sie mit dem Handrücken weg, während in ihrem Bewusstsein wie aus dem Nichts das bärtige Gesicht eines über sie gebeugten Mannes aufpoppt.

„Mama, du weinst?“

Sandra schreit laut auf und reißt die Hände vors Herz. „O mein Gott, Kleines, was hast du mich erschrocken.“

Das Kind ist ganz verdattert. „Was ist denn mit dir?“ Jessica steht im Türrahmen. Ihre kindliche Hand hält krampfhaft drei Finger der anderen umklammert. Zu dem sorgenvollen Gesichtsausdruck, umrahmt von blondem Engelshaar, sieht das herzzerreißend aus. Das Lächeln, das Sandra von ihrer Tochter gewohnt ist, fehlt gänzlich. Sie fingert ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Jeans, schnäuzt sich und tupft sich noch eine Träne ab, bevor sie es wieder einsteckt. Dann klopft sie mit der Hand neben sich aufs Bett und sagt: „Alles gut, meine Kleine. Komm, setz dich.“ Sandra hat Jessicas Schritte nicht gehört. Zu sehr hat der Arztbesuch von letzter Woche wieder von ihr Besitz genommen. Dabei hüpft Jessica doch meistens durch die Wohnung. Sie ist ja auch erst acht.

Jessica lässt sich aufs Bett fallen und schlingt ihre Arme um den Leib der Mutter. Diese zieht das Mädchen an sich und drückt seinen Kopf an ihre Brust. „Bald sind wir bei Oma und Opa“, sagt sie. „Da geht es uns bestimmt besser als hier.“

„Aber ich kenne sie doch gar nicht.“

Sandra versucht, ihre Bedenken zu zerstreuen. „Mach dir keine Sorgen. Die sind ganz lieb und werden dich mögen.“

„Wo liegt denn England?“, fragt Jessica, nun in Englisch. Bisher haben sie sich in Deutsch unterhalten. Jessica berlinert sogar ein wenig. Aber Sandra hat immer darauf geachtet, dass Jessica auch ihre Muttersprache erlernt, damit das Mädchen Englisch kann, sollten sie einmal in die alte Heimat zurückkehren. Und das ist nun der Fall.

Sandra deutet auf das Fenster. „Weißt du noch“, fragt sie in Englisch, „wie da abends die Sonne reinscheint, wenn das Wetter schön ist?“

„Jaaa, wenn du mich ins Bett bringst, dann scheint manchmal die Sonne herein.“ Jessicas Stimme nimmt einen schwärmerischen Tonfall an, den Sandra nur zu gerne wahrnimmt. Offenbar hat sie schon wieder vergessen, dass ihre Mom geweint hat.

Sandra drückt das Mädchen noch fester an sich. „Und manchmal scheint sie auch noch, wenn ich etwas später zu dir ins Bett komme. Dann schläfst du schon und schnarchst leise.“

Jessica erbost sich. „Tu ich nicht. Ich schnarche nicht.“

„Ein bisschen.“

„Gar nicht.“

„Nur manchmal, und nur ein bisschen.“ Als Jessica sich von ihr löst und sie verschämt anschaut, muss Sandra lachen.

Nun lacht auch Jessica und schmiegt sich wieder an ihre Mama. Sie ist froh darüber, dass es nur ein Witz war. Es würde ihr leidtun, die Mama beim Schlafen zu stören. Dazu liebt sie sie zu sehr.

„Nein, du schnarchst nicht“, bestätigt Sandra dann auch. „Und da, wo die Sonne am Abend steht, da ungefähr ist England“, erklärt sie.

Jessica gönnt sich einen tiefen Atemzug, bevor sie fragt: „Ist es schön da?“

Sandra nickt eifrig. „England ist umgeben von Meer, mein Schatz. Es ist eine riesige Insel. Da gibt es große Städte, wie zum Beispiel London, und es gibt ganz-ganz kleine Dörfer, wie Combe Manor, wo Oma und Opa leben. Aber da ist auch eine große schöne Stadt in der Nähe. Das ist Bristol. Und die Dörfer sind mit engen Straßen verbunden, die sich durch wunderschöne Landschaften schlängeln. Combe Manor ist das schönste Dorf der Welt. Dort sieht es noch genauso aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“ Bei jedem ‚ganz‘ sticht Sandra sie mit dem Zeigefinger auf die kurzen Rippen, eine Stelle, wo Jessica besonders kitzelig ist. Sie möchte sich aufbäumen vor Lachen, aber Sandra hat sie fest im Arm, und so lacht das Mädchen hell und schrill.

Als es sich erholt hat, bittet es: „Mach’s noch mal, Mom.“

Sandra lächelt, streckt langsam den Zeigefinger aus, zieht den Start qualvoll in die Länge, während Jessica bereits vor gierigem Verlangen kichert und sich krümmt. Dann endlich kommt die Erlösung: „Da sieht es aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“

Wieder bäumt Jessica sich unter dem Piksen mit dem Finger auf und ist dabei so gut gelaunt, wie lange nicht mehr.

Sandra lacht herzhaft mit. Als die beiden sich erholt haben, fährt sie weiter fort: „Da stehen lauter alte Häuser, eine wuchtige alte Kirche mit Friedhof, und es darf dort nichts verändert werden, damit alles so bleibt, wie es ist.“

Jessica legt einen schwärmerischen Blick auf. „Wie schön.“

„Und weißt du was?“ Sandra hebt die Augenbrauen.

Jessica weiß, wenn Mom so schaut, dann macht sie es spannend. „Nein, was denn? Komm, sag schon.“

„Och, ich sag’s doch nicht. Vielleicht später.“

„Nein, jetzt, Mom. Bitte.“

„Na gut. Aber nur, weil du mein lieber Schatz bist. England ist sehr mystisch!“

„Was bedeutet mystisch?“, will Jessica wissen.

„Das bedeutet ein bisschen so viel wie märchenhaft.“

„Und was gibt es da aus dem Märchen?“, bohrt sie weiter.

Sandra schmunzelt. „Feen, Elfen, Einhörner, Zwerge, Drachen…“

Jessica klatscht in die Hände und hüpft auf dem Bett herum. „Wow wie schön. Werden wir die dort auch sehen?“

„Vielleicht?“

„O jaaa.“ Jessica strahlt über das ganze Gesicht.

„Dann freust du dich, dass wir zu Oma und Opa fahren?“

„Ja, ich freue mich.“

Sandra fällt ein Stein vom Herzen. „Dann lass mich jetzt weiter packen, ja?“

Jessica springt vom Bett auf. „Ja“, ruft sie aus. „Ich decke schon mal den Tisch. Ich habe Hunger.“

„In Ordnung“, sagt Sandra, und während sie sich den Klamotten auf dem Bett widmet, hört sie Jessica fragen: „Warum fahren wir denn eigentlich nach England?“

Die rege Unterhaltung mit dem Mädchen hatte Sandra von ihrer Krankheit abgelenkt, ja, sie hatte sie für ein paar Minuten vollkommen vergessen. Doch nun kracht sie wieder mit voller Wucht in ihr Gedächtnis wie eine Kanonenkugel in eine Kiste. Wie aus dem Nichts treten Magenschmerzen auf. Sandra legt sich ihre zitternden Hände auf den oberen Bauch. Jeder Atemzug, der etwas mehr ist als ein flaches Pumpen, drangsaliert den Magen, als lägen Steine drauf. Sie krümmt sich und liegt wie ein Häufchen Elend auf dem Bett, als Jessica wieder ins Zimmer stürmt.

„Mom! Mama“, ruft sie. „Was ist los? Was ist mit dir? Es ist nicht alles gut. Sag, was ist mit dir?“ Sie beginnt zu weinen. Ihre Lippen zittern. Hilflos steht das Kind im Raum und blickt auf seine Mutter.

Sandra versucht, sich hochzudrücken, schafft es aber nicht. Zu groß ist der Schmerz im mittleren Oberbauch. Sie würde gerne antworten. Stattdessen kann sie nur die Hand heben. Sie tastet nach Jessica und erreicht ihre Wange nur, weil das Kind sich vorbeugt. Plötzlich verspürt sie den Drang, zur Toilette zu eilen. Mit letzter Kraft rafft sie sich auf, verlässt das Bett und stolpert ins Bad, wo sie den Klodeckel hochreißt und sich unter dramatischen Geräuschen übergibt. Immer wieder kommt galliger Magensaft hoch.

Jessica eilt hinzu, kniet sich neben Sandra und legt ihr eine Hand auf den Rücken. „Mama, was muss ich tun?“, fleht sie. „Ich hab solche Angst um dich.“

Sandra reagiert nicht. Zu sehr plagen sie die bitteren Schübe aus dem Körperinneren.

Jessica weint ärger als zuvor. „Ich rufe einen Arzt“, stammelt sie. Planlos läuft sie durch die kleine Wohnung. In der Küche findet sie ihr Handy. Sie ergreift es, erinnert sich aber im gleichen Augenblick, dass sie kein Guthaben mehr hat. Sie sucht Sandras Handy. Als sie es auf dem Nachttisch entdeckt und an sich nimmt, ertönt ein Glockenton. Auf dem Display steht zu lesen: ‚Ladegerät anschließen‘. Sie läuft kreuz und quer durch die Wohnung, sucht das Ladegerät, während sie weiterhin das Leiden ihrer Mama aus dem Bad wahrnimmt. Sie stürzt zurück in die Küche, findet nichts, ins kleine Wohnzimmer, durchwühlt jede Schublade – nichts. Zurück ins Schlafzimmer. Da, die Handtasche auf dem Bett. Jessica reißt sie auf. Ein schwarzes Kabel mit Stecker dran bietet sich ihr an. Sie fingert es heraus – Gott sei Dank: Das Ladegerät. Sie und Mom haben nur dieses eine gemeinsame, so, wie sie sich auch diese Wohnung und das Bett teilen. Hastig fingert sie das Kabel in den schmalen Slot an der Seite des Handys, doch bevor sie den Stecker in eine Steckdose stecken kann, erlischt es. Derweil werden Sandras Würggeräusche intensiver. Es scheint, dass ihre Innereien mit hochkommen, und zwischen zwei Schüben hört es sich an, als ob sie laut weint. Derweil presst Jessica ihren Daumen auf den Schaltknopf. Es dauert lange. Endlos lange. Das Handy reagiert: ‚Geben Sie ihre PIN ein – noch 3 Versuch(e)‘. Die PIN! Jessica eilt ins Bad, wo ihre Mutter schlaff und kraftlos vor der Toilette kniet. „Mom, deine PIN“, schluchzt Jessica.

Sandra ereilt ein Würgreflex nach dem andern, der sich mit krampfhaftem Husten abwechselt.

Jessica erkennt, dass sie keine Antwort erhalten wird und stürzt wieder zurück ans Handy. Sie versucht Moms Geburtstag und erhält die Meldung: Sie haben noch 2 Versuch(e). Ihr eigener Geburtstag – noch 1 Versuch(e). „Was mach ich nur?“ Sie weint bitterlich. „Lieber Schutzengel, bitte hilf mir. Wie lautet Mamas PIN? Bitte, ich muss den Arzt rufen!“ Sie schaut auf das Handy, als erwarte sie dort die Antwort. Es ist kein Smartphone und schon gar nicht ein iPhone. Es ist ein 0815-Klotz. So hat Sandra es einmal genannt. Das ist es! Mama ist so kreativ, dass sie 0815 als PIN genommen haben könnte. Aber was, wenn sie nicht stimmt? Jessica kennt sich nicht so gut aus mit Handys. Ob das Teil kaputt ist, wenn man dreimal eine falsche Nummer eingibt?

Im Bad ist es gerade still. Vielleicht geht es Mom ja besser? Vielleicht braucht sie keinen Arzt? Doch gerade, als Jessica das Handy ablegt und nach ihr schauen will, hört sie ihre Mutter erbärmlich weinen. Sie schnappt sich das Handy und tippt mit zittrigen Fingern 0-8-1-5 ein. Als sie den Daumen auf den OK-Knopf legt, pocht ihr kleines Herz zum Zerbersten. Wie von einer fremden Macht gesteuert, drückt sie den Knopf…

Das Display zeigt eine von einem blechern klingenden Sound begleitete Grafik. Das Handy ist wahrhaftig wieder zum Leben erwacht. Hastig blättert sie das Adressbuch durch. Bei Dr. Schröder erlebt sie einen Freudentaumel. Sie wählt diesen Eintrag aus und drückt auf den grünen Hörer. Doch anstatt einer Verbindung, bekommt sie die Nachricht: Kein Netz!

Jessica schreit verzweifelt auf, als Sandra in der Tür erscheint. Kraftlos lehnt sie am Türrahmen. Ihr Kopf ist rot und aufgedunsen, die langen blonden Haare sind strähnig und verklebt, und sie reibt sich die verquollenen Augen. „Was machst du da, meine Kleine?“, fragt sie.

„Ich will einen Arzt anrufen“, antwortet Jessica. „Aber wir haben kein Netz.“

Sandra drückt sich ein Taschentuch vor den Mund und begegnet damit ihrem nun unkontrollierbaren Speichelfluss. Sie tupft sich den Mund trocken und sagt: „Ich weiß. Sie haben das Handy gesperrt, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Aber morgen fliegen wir ja nach England. Dann brauchen wir das Handy nicht mehr.“

„Aber der Flug kostet doch auch Geld“, antwortet Jessica. „Wie sollen wir den denn bezahlen, wenn wir keines haben?“

Sandra schlurft zum Küchentisch und sinkt auf einen Stuhl nieder. Das Gesicht in die Hände gestützt, murmelt sie: „Unsere Vermieter waren so lieb und haben uns die letzte Miete geschenkt, damit wir nach Hause fliegen können.“

Das ist natürlich eine sehr freie Umschreibung der Tatsachen. Ja, die Vermieter haben ihr die letzte Miete erlassen, mit den Worten: „Die brauchst du nicht mehr zu bezahlen. Verpisst euch einfach und kommt nicht wieder.“ Nicht, dass Sandra nicht hatte bezahlen wollen, nein, sie konnte es nicht, und so war sie in letzter Zeit immer wieder in Rückstand geraten. Als ihre Schmerzen anfingen, wurde das Geld immer knapper. Hatte sie vorher noch in einer Kneipe gejobbt, um sich und Jessica über Wasser halten zu können, so war ihr das immer seltener möglich, sodass sie am Ende fast gar keine Einkünfte mehr erzielte. Zwar könnte sie eine kleine Unterstützung vom Amt erreichen, aber die Bearbeitung des Antrags dauert immer noch an. Bisher kann sie keinen Geldeingang auf dem Konto verzeichnen. Sandra schaut Jessica aus rotgeränderten, wässrigen Augen an. „Wenn wir in England sind, wird alles besser, mein Schatz.“

Jessica stellt sich neben ihre Mutter und streichelt ihr den Rücken. „Ja, in England wird alles besser. Wann geht denn unser Flug?“

„Morgen Nachmittag. Eine Bekannte holt uns um 12 Uhr ab und bringt uns zum Flughafen. Und dann: Good bye, Germany.“ Sandra bringt ein schwaches Lächeln zustande, und Jessica reibt ihr den Rücken etwas schneller. „Geht es dir wieder besser?“, fragt sie.

„Ja, danke. Ich muss mir irgendwie den Magen verdorben haben. Mach dir keine Sorgen, versprochen?“

„Versprochen“, antwortet Jessica. Doch hinter ihrem Rücken kreuzt sie zwei Finger.

Im Strudel des Schicksals

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