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2. Kapitel – Hello England

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Durch eine große, helle, recht leere Halle wird ein Gepäckwagen geschoben, auf dem ein abgenutzter Koffer sich in Gesellschaft von drei Plastiktüten und einer in die Jahre gekommenen Handtasche befindet. Das Bild, das die beiden Damen damit abgeben, lässt absolut nicht vermuten, dass sie gerade einen One-Way-Flug absolviert und nicht die Absicht haben, wieder dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Das ratternde Gepäckband haben sie bereits hinter sich gelassen. Eine schallende Stimme ruft zu zwei Flügen auf, für die die Gates nun geöffnet sind. Hoch über den Eingängen, die in die weite Welt führen, zeigen Tafeln die Ankünfte und Abflüge an. Auf der Abflugtafel findet Sandra einen Flug nach Berlin. Er würde in einer Stunde starten. Ein wohliger Seufzer entfährt ihr bei dem Gedanken, dass sie dieses Gate wohl nie mehr benutzen wird. England hat sie wieder – für immer, wenn vielleicht auch nicht für lange.

Die Gepäckstücke befinden sich erst seit ein paar Minuten auf dem Trolley. Ihn durch die Ankunftshalle des Bristoler Airports zu schieben, hat Jessica sich zur Aufgabe gemacht. Sie hat richtig Spaß daran, bringt den Wagen in Fahrt und hängt sich über die Griffstange, sodass sie mit dem Gepäck mühelos schneller ist, als ihre Mutter, die, obwohl nur mit einer Umhängetasche beschwert, kaum folgen kann. Zu sehr hängt ihr noch der gestrige Anfall in den Knochen. Sie ist heilfroh, wenigstens auf dem Flug vor Attacken verschont geblieben zu sein, für die sie immerhin allen Grund gehabt hätte, saß doch dieser krausbärtige Mann in ihrer Nähe. Er hat horrende Erinnerungen in ihr geweckt und schlimme Ängste geschürt. Er sah ihrem Peiniger nicht nur ähnlich, er war es wirklich, da ist Sandra sich sicher. Beim Aussteigen ist er jedoch ihren umsichtigen Blicken entglitten.

Was will der verdammte Kerl hier in England? Seine vermasselte Tötungsabsicht von vor zehn Jahren endlich zum Abschluss bringen? Unwillkürlich reibt sie sich die Stelle am Bauch, in die damals sein Stilett mehrmals eingetaucht war. Er und seine Kumpels hatten ihr auch den Geldbeutel abgenommen, in dem nicht mehr als 20 Euro drin gewesen waren und sie blutend auf dem schmutzigen Berliner Pflaster zurückgelassen. Sie hatte nie viel Geld besessen, und aktuell ist sie blanker, als jemals zuvor.

Was für ein Glück, dass der Flug wahnwitzig billig gewesen war, so billig, dass Sandra sich nun sogar ein Taxi nach Combe Manor leisten kann. Die Bekannte hatte ihr den Flug über ein Vergleichsportal gebucht. Er war so günstig, dass Sandra sich allen Ernstes fragte, wie da noch jemand was dran verdienen konnte, nach Abzug von Gebühren, Treibstoff- und Personalkosten. Aber natürlich war es ihr recht, fast umsonst – selbst für ihre finanziellen Verhältnisse - in die alte Heimat zurückgefunden zu haben.

Obwohl Sandra sich nicht als Spirituelle bezeichnen würde, liebt sie den Gedanken, das Schicksal habe sie zurück nach England gebracht. Fast ist sie geneigt zu denken: ‚Für ein besseres und glücklicheres Leben‘. Doch dann sieht sie ihre Tochter mit dem Gepäckwagen davoneilen, spürt ihre Schwäche und erinnert sich an ihre Krankheit. Wie eine schlechte Nachricht aus einem versiegelten Umschlag taucht sie plötzlich auf und drosselt ihre Atemluft. „Nicht so schnell“, ruft sie Jessica hinterher, die sich immer weiter von ihrer Mutter entfernt und das gar nicht merkt. Erst jetzt, da Mama sie ruft, bremst sie den Trolley ab, schaut sich um und ist erstaunt, wie weit sie noch zurückliegt. Sie hebt die Hand, so hoch sie kann und winkt ihr zu.

Aber Sandra winkt nicht zurück. Es ist ihr deutlich anzusehen, wie schwer ihr das Laufen fällt, das eigentlich gar kein Laufen ist. Es ist ein Sich-dahinschleppen. Waren ihre langen blonden Haare im Flugzeug noch ordentlich und sogar ein wenig glänzend, so wirken sie nun mit einem Mal fahl und zerzaust, als hätte sie jemand mit einem bösen Zauber belegt. Jetzt, wo Jessica auf sie wartet, verlegt Sandra sich aufs Gehen. Sie möchte sich erholen und zu Atem kommen, damit das Mädchen nicht ihre Schwäche bemerkt, aber es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich, als hätte sie einen Sprint hinter sich gebracht, um einem bissigen Hund zu entkommen. Sandra hat keine andere Wahl, als eine Bank anzusteuern, die nur ein paar Meter von ihr entfernt ist und darauf zu warten scheint, ihr Gewicht aufzunehmen. Dort angekommen, stützt sie sich an der Rückenlehne ab, hält sich die Hand vor die Brust, beginnt zu keuchen und sinkt kraftlos auf die Sitzgelegenheit. Ein Hustenanfall schüttelt sie plötzlich, der, gefolgt von einem Würgen, schnell ihren Hals brennen lässt, als habe sie pure Essigessenz getrunken. ‚Nur nicht übergeben‘, schießt es ihr durch den Kopf. Ihre Augen füllen sich mit Wasser und hindern sie daran, etwas zu sehen. Aber spüren kann sie noch. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt - und hören kann sie, eine Stimme, die „Mama“ sagt. Wie blind, durchwühlt sie ihre Umhängetasche, in der Hoffnung, ein Papiertaschentuch zu ertasten. Und ja, da ist eines. Sie zupft es aus dem Päckchen heraus und wischt sich die Augen frei. Schuldbewusst schaut sie Jessica an. Wie lange kann sie ihr Lügengerüst noch aufrechterhalten, ohne, dass es zusammenbricht und Jessica mit ihr mitleidet? Das Kind ist aufgeweckt und von schneller Auffassungsgabe. Gestern war es der verdorbene Magen, der zur Erklärung herhalten musste, in den drei Tagen davor eine angeblich heranrollende Grippe. Und heute? Soll sie den Anfall auf den Flug schieben? Sie schaut in Jessicas Augen und erkennt darin Offenheit. Nicht für eine weitere Lüge, sondern für die Wahrheit. „Jessi-Schatz, ich…“

In ihrer kindlichen Weisheit unterbricht sie ihre Mom. „Lass uns ein Taxi finden, damit wir schnell zu Oma und Opa kommen und du dich erholen kannst“, sagt sie.

Sandra nickt dankbar.

Diesmal rast Jessica nicht mit dem Trolley davon. Sie bleibt neben ihrer Mutter und hält Ausschau nach einem Zeichen, das ihnen den Weg zu den Taxen zeigt. Enthusiastisch deutet sie darauf. „Da, Mom, schau. Da geht’s zu den Taxis.“

Sandras Anfall ist noch immer nicht vorüber. Sie hält sich das Taschentuch vor den Mund, als könne sie damit das Würgen aufhalten. Das Gesicht ist rot und aufgedunsen, und im Magen scheint wieder dieser Stein zu liegen. Die durch die wässrigen Augen verschwommene Wirklichkeit gibt nur spärlich einen Eindruck von der Umgebung wieder, aber als sie sich erneut die Augen freimacht, erkennt auch Sandra das Zeichen, dem sie folgen müssen.

Als sie endlich in der Droschke sitzen – Sandra hätte sich ein original englisches Taxi gewünscht, doch leider hält das Universum nur eine beige 0815-Karrosse für sie bereit – geht es ihr mit einem Schlag wieder gut. Sie freut sich einfach riesig auf Combe Manor. Ihr plötzliches Wohlgefühl reduziert die Reaktion des Fahrers auf ihre angeschlagene Erscheinung auf ein Stirnrunzeln. Sandra, die mit Jessica im Fond des Wagens sitzt, bekommt das nicht mit.

Der Fahrer schaut in den Rückspiegel. „Soll ich die Autobahn nehmen? Das ist zwar drei Meilen weiter, als über die Landstraße, aber zehn Minuten schneller.“

„Mom, der Mann sitzt ja auf der falschen Seite“, flüstert Jessica.

Sandra legt einen Finger auf die Lippen und macht „Pscht“, bevor sie fragt: „Was ist günstiger?“

„Wir können einen Festpreis vereinbaren. Sagen wir: 50 Pfund?“

Sandra hat mit mehr gerechnet. Und so ist sie sehr zufrieden mit dem Angebot, das der freundliche Fahrer ihr macht. Sie wählen die Landstraße, damit sie sich schon während der Fahrt wunderbar auf ihr Zuhause einstimmen können und genießen das Wetter, das hier um so viel besser ist, als es in Berlin war. So viel besser, dass Jessica fragt: „Gibt es in England keinen Winter?“

Die Fahrt geht über für Berliner Verhältnisse schmale, teilweise von Hecken gesäumte Straßen. Schon, als sie den Airport verlassen, macht Jessica ihre Mutter auf einen Missstand aufmerksam, den diese wohl noch gar nicht bemerkt hat: „Mama, wir fahren auf der falschen Seite. Was, wenn uns einer entgegen kommt?“

Sandra lächelt. „Das ist so hier in England“, erklärt sie. „Deshalb sitzt der Mann ja auch rechts. In England herrscht Linksverkehr. Hier ist alles ein bisschen anders, als in Deutschland.“

Jessica ist begeistert. „Ich find’s cool“, sagt sie. „Linksverkehr ist viel schöner, als anders herum.“

Nach einer entspannten einstündigen Fahrt erreicht das Taxi Combe Manor. Der Fahrer ist im Begriff, in den Ort hineinzufahren, aber Sandra möchte bereits am Ortsrand aussteigen.

„Und Ihr Gepäck?“, gibt der Fahrer zu bedenken.

Sandra und Jessica antworten nicht. Sie öffnen ihre Türen und verlassen das Auto.

Der Fahrer hebt die Schultern, bevor auch er seine Tür öffnet und es ihnen gleichtut. Er gräbt die Taschen aus dem Kofferraum und stellt alles auf die Straße. Derweil stemmt Sandra ihre Hände in den Rücken und streckt sich genüsslich, während Jessica ausgelassen umherhüpft. „Hier ist es schön“, entfährt es ihr.

Sandra kramt eine abgenutzte Geldbörse aus ihrer Umhängetasche und wählt einen von zwei 50-Pfund-Noten aus, die sie herauszieht und dem Fahrer übergibt. „Danke“, sagt sie.

Der Fahrer verbeugt sich ein wenig. „Madam!“

Sandra ist sich nicht so ganz klar darüber, ob er sie gerade hofiert oder verarscht. Sicherheitshalber schenkt sie ihm ein Lächeln, woraufhin der Mann wieder sein Taxi besteigt, auf der engen Straße gekonnt wendet und davonfährt.

Jessica rennt auf ihre Mom zu und schlingt ihr die Arme um die Taille.

Sandra streichelt ihren Kopf. Sie fühlt sich unsagbar wohl. Nach einer Weile löst sie behutsam die Arme des Mädchens, das sie offenbar gar nicht mehr loslassen möchte, und sagt: „Komm!“ Sie beladen sich mit Koffer, Taschen und Tüten wie zwei Packesel und machen sich an einem kleinen, idyllischen Bach entlang auf den Weg zur Dorfmitte. Schon nach wenigen Hundert Metern erreichen sie eine steinerne Brücke, die geradewegs in den Ort hineinmündet. Sandra lässt ihr Gepäck fallen und stemmt sich schwerfällig und unter Aufbieten aller Kräfte auf die Brückenmauer hoch, um sich für ein paar Momente zu setzen. Der Stein ist kälter, als der Sonnenschein vermuten lässt. Immerhin ist es Winter.

Winter!!!

Im November, das war vor drei Monaten, da hatte sie dem Arzt gesagt: ‚Sechs Monate. Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.‘ Nun hat sie die Hälfte bereits rum. Es ist Februar, und wenn der Arzt recht behielte, wäre im Mai ihre Beerdigung. Spätestens! Angesichts dieser Idylle kommt ihr das nun echt wahnwitzig vor. In diesem wunderbaren Moment fühlt sie sich überhaupt nicht so, als müsse sie sterben. Sie blickt zu Jessica, ihrer geliebten Tochter, und schaut ihr zu, wie sie, über die Brückenmauer gebeugt, Kieselsteine in den Bach wirft. ‚Was wird dann wohl aus ihr?‘ Sandra möchte weinen, aber dann verdrängt sie den Gedanken an das nahende Ende wieder und lenkt ihre Wahrnehmung auf diese wunderschöne Umgebung, die sie sehr vermisst hat. Es war ihr gar nicht so bewusst gewesen in all den Jahren in Berlin. Die Sehnsucht tritt erst jetzt heftig zutage, da sie sie gar nicht mehr braucht, weil sie ja wieder zuhause ist.

„Mama, schau mal, ich kann Steine in den Wellenkreis vom anderen Stein werfen!“

Sandra gleitet von der Mauer runter und stützt sich neben Jessica auf die niedrige Brüstung. Sie schaut in das stille Wasser, das gerade mal eine Handbreit tief ist, und schon stürzt ein Kiesel hinab und bildet einen Wellenkreis. Gleich darauf folgt der zweite. „Jaaa!“ Jessica hat getroffen. „Gut gemacht, meine Kleine“, sagt Sandra.

Jessica wirft noch einen weiteren Stein hinterher, aber Sandra sieht es nicht mehr. Ganz plötzlich ist es dunkel geworden. Sie tastet nach dem Grund, die ihr die Sicht nimmt, als sie eine Stimme hört, die zu ein paar wohlig warmen Händen gehört: „Erst raten, wer hier ist.“

Der erste Name, der Sandra einfällt, ist: „Gwynn?“

Die Dunkelheit macht dem Sonnenlicht Platz. „Ja, natürlich Gwynn, deine beste Freundin aus alten Tagen. Wer denn sonst?“

Sandra wirbelt herum und blickt in ein Gesicht, das sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. Es ist immer noch umrahmt von langen, dunkelbraunen Locken, die so wunderbar zu den braunen Augen passen, und auch die Haut ist noch genauso makellos und beneidenswert wie damals, als Sandra zur gleichen Zeit unter grässlicher Akne litt. „Gwynn!“ Sie fällt der Frau um den Hals. „Wieso bist du hier? Wohnst du nicht in Bristol?“

„Das war einmal. Mensch, Sandra, so lange nicht gesehen, und trotzdem noch erkannt. Ich hab dich von meiner Wohnung aus beobachtet.“ Sie deutet auf ein Haus auf der anderen Seite des Bachs. „Ich schaue so durchs Fenster und denke: ‚Das gibt’s doch nicht. Die sieht ja aus wie Sandra.‘ Und stell dir vor: Als ich die Kleine dabei beobachtete, wie sie Steine ins Wasser wirft, da war ich mir sicher, dass du es wirklich bist. Sie sieht genauso aus wie du früher. Deine Tochter, nicht wahr?“

„Ja.“ Sandra winkt das Mädchen herbei. „Komm mal her, Jessica. Das ist Gwynneth, meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit ganz-ganz-ganz-ganz vielen Jahren.“

Jessica reicht Gwynn kichernd die Hand und macht einen Knicks.

„Wie wohlerzogen“, sagt Gwynn. „Respekt. Aber kommt doch mit zu mir, da ist es gemütlicher, als hier auf der Brücke.“

„Mama, ich hab Hunger“, wirft Jessi ein.

„Wir wollen zu meinen Großeltern“, antwortet Sandra auf Gwynns Vorschlag. „Aber lass uns doch heute Nachmittag zusammenkommen.“

„Da muss ich arbeiten“, sagt Gwynn. „Nun los, kommt schon. Ich hab auch was ganz Feines zu Essen da.“

Sandra blickt Jessica an, die vor der Brückenmauer steht und zwischen ihr und Gwynn hin- und herschaut. „Was meinst du, Kleines, gehen wir kurz mit?“

Als Jessica sich unschlüssig zeigt, schiebt Gwynn nach: „Ich hab auch einen Sohn, der ist ungefähr so alt wie du. Der freut sich sicher, wenn du uns besuchst.“

Jessica richtet ihren Blick auf Gwynns Haus und erkennt das Gesicht eines offenbar netten Jungen am Fenster. Sie nickt, und noch bevor sie eine Antwort artikulieren kann, klatscht Gwynn in die Hände und ruft: „Prima!“

Wenig später sitzen sie zu viert an einem altertümlichen Tisch aus dunklem Holz, der genau an jenem Fenster steht, aus dem der Junge geschaut hat. Jessica hockt auf einem herrlich weich gepolsterten Stuhl direkt an diesem Sprossenfenster mit Blick auf den Bach, dem Jungen gegenüber, der zwar George heißt, von Gwynn aber nur „Boy“ genannt wird. Neben ihr sitzt Sandra.

Boy sieht lustig aus, findet Jessica, mit wilden braunen Locken, die ihm in die Stirn fallen und sogar die Ohren bedecken. Mit seinen großen dunklen Augen erinnert er sie an ein Alpaka. Jessica muss unwillkürlich lachen. Boy lacht mit.

Gwynn erhebt sich, als ein Wasserkessel pfeift. Sie geht durch einen Steinbogen in die angrenzende Küche, aus der man sie reden hört: „Ihr werdet staunen, was ich hier habe. Bin schon auf eure Gesichter gespannt.“ Wasser plätschert in eine Kanne. „Boy, komm her und verteil schon mal das Geschirr.“

Der Junge klettert gelenkig aus dem engen Erker heraus, eilt in die Küche und kommt mit in schlichtem Weiß gehaltenen Tellern und Tassen wieder, die er auf die vier Plätze verteilt. Zu jedem Set legt er gespielt ordentlich ein offenbar wertvolles Messer aus Silber und einen Löffel, bevor er sich behände wieder auf seinen Stuhl schwingt und Jessica angrinst.

Gwynn bringt ein Tablett mit Teekanne, Milchkännchen, einer Schüssel voller Gebäck, Erdbeermarmelade, sowie vier kleinen Behältnissen, die eine hellbeige Creme enthalten. Sie stellt es auf dem Tisch ab.

„Sieht lecker aus“, sagt Sandra. „Was ist das?“

„Nun komm aber“, sagt Gwynn, während sie Tee auf die Tassen verteilt. „Du kennst Cream Tea nicht?“

Sandra schaut ein wenig erstaunt drein und schüttelt den Kopf. „Sollte ich?“

Gwynn rollt die Augen und legt mit einer Zange jedem ein Gebäckstück auf den Teller. Mit dem letzten wedelt sie direkt vor Sandras Nase herum. „Das hier ist ein Scone. Mensch, Sandra, wir sind zwar nicht in Cornwall, aber Cream Tea kennt doch jeder. Ich hab damit sogar einen Preis gewonnen. Ich mache den besten Cream Tea der Welt.“ Sie setzt sich und nimmt ihren Scone aus der Zange, um die traditionelle Vorgehensweise beim Verspeisen zu demonstrieren. „Also: Ihr schneidet ihn auf, schmiert erst die Marmelade drauf, und dann die Creme. Sie wird Clotted Cream genannt. Manche machen es auch anders herum, die Creme unten, und oben die Marmelade. Ist eigentlich egal.“ Sie ist so beschäftigt, dass sie Sandras fortschreitende Blässe nicht mitbekommt. Auch die beiden Kinder sehen es nicht.

Jessica hat ordentlich Hunger und widmet sich voller Hingabe ihrem Scone. Sie liebt Süßes. Boy tut es ihr grinsend gleich.

Erst, als Sandra in ihrer Handtasche herumkramt, die neben ihr auf dem Boden steht, blickt Gwynn auf. Sanda fördert eine Schachtel hervor und entnimmt ihr zwei Tabletten. Das Sonnenlicht, das durch das kleine Sprossenfenster fällt, lässt Schweißperlen auf ihrer Stirn glänzen, die sie sich mit einem Papiertaschentuch abtupft.

„Ist was?“, fragt Gwynn. „Hättest du gerne ein Glas Wasser?“

Nun blickt auch Jessica ihre Mama an. Besorgnis macht sich auf ihrem Gesicht breit.

„Wasser, ja bitte“, flüstert Sandra, und Gwynn eilt in die Küche.

Jessica legt ihrer Mama eine Hand aufs Knie, während Sandra bemüht ist, ihre Tochter nicht anschauen zu müssen. Als der Griff fester wird, kann sie es nicht mehr ignorieren. „Alles gut, meine Kleine“, versichert sie mit schwacher Stimme und betätschelt Jessicas Hand.

Gwynn stellt ein großes Glas Wasser vor Sandra ab. „Was sind das für Pillen?“, will sie wissen.

Sandra spürt, dass sie ihrer Freundin nichts vormachen kann. Sicher hat sie die Packung bereits analysiert, auch, wenn sie in Deutsch beschriftet ist. Sie wirft die Medikamente ein, murmelt: „Enzyme“, und spült sie mit mehreren großen Schlucken runter.

„Aha.“ Gwynn hat genug Feingefühl, um nicht weiter nachzuhaken. „Na dann mal ran an den Cream Tea. Wie gesagt, damit hab ich den ersten Preis gewonnen. Vielleicht schmeckt ihr ja den Honig aus den Scones heraus.“

Als die Tafel leergeputzt ist, haben Jessica und Boy sich bereits einander angenähert. Sie flüstern und kichern miteinander. Gwynn nimmt die Gelegenheit wahr. Sie knufft Boy mit dem Ellenbogen und sagt: „Zeig Jessi doch mal dein Zimmer. Ich rufe dich, wenn ihr wieder runterkommen sollt, ja?“

Boy nickt. Mit einer ihm eigenen Geschmeidigkeit gleitet er vom Platz und zwischen Wand und Mamas Stuhl hindurch. Als auch Jessica es aus der Enge des Erkers herausgeschafft hat, nimmt er sie bei der Hand, und weg sind sie.

Gwynn rückt mit dem Stuhl ein wenig näher an den Tisch und streckt sich vor, als wolle sie Sandra ein Geheimnis verraten. „Nun erzähl!“

Sandra ist es immer noch nicht wohl, aber sie ist froh, dass ihr System nicht so rebelliert wie noch gestern in Berlin. „Was willst du wissen?“

„Alles. Was ist los mit dir? Dass es dir nicht gutgeht, sieht doch ein Blinder.“

Sandra hebt die Schultern. „Ich hab momentan eine Schwäche. Geht wieder vorbei.“

„Und die Kapseln, die du einwirfst? Enzyme?“

Sandra nimmt einen tiefen Atemzug und sagt: „Lass uns lieber von was Schönem reden. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Über zehn Jahre nicht.“

„Du hast recht“, erwidert Gwynn. „13 Jahre sind es, was für eine lange Zeit.“

„Irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren, als ich die Lehre in Bristol machte. Trotz der langen Pause fühle ich aber immer noch diese herzliche Verbindung zwischen uns. Wir haben uns nie gestritten, nicht wahr?“

Gwynn nickt. „Nie, selbst nicht, wenn es um Kerls ging. Weißt du noch, wie wir in denselben Jungen verknallt waren? Wie hieß er noch gleich?“

„Vic!“

„Richtig, Vic. Mann, was haben wir den umschwärmt. Aber gewollt hat er uns beide nicht.“

„Na ja, Junge ist eine nette Umschreibung“, sagt Sandra. „Wir waren 15, und er? 30?“

„Kann hinkommen“, bestätigt Gwynn. „Dann wäre er jetzt 45. Eh zu alt für uns.“ Sie winkt ab. „Und außerdem will ich gar keinen mehr. Hab die Schnauze voll. Wenn ich nur an meinen Ex denke, diesen Vollpfosten.“

Sandra lacht. „Wollten wir nicht von was Schönem reden?“

„Wenn du lachst, Sandra, dann muss es doch was Schönes sein. Ich hab dich – entschuldige meine Direktheit – nur selten lachen sehen. Eigentlich gar nicht. Auch damals nicht, als wir Kinder waren.“

„Da haben wir oft drunten im Bach gespielt, weißt du noch?“ Sandra beugt sich zum Sprossenfenster vor und schaut zu dem Gewässer hinüber, das ruhig und gemächlich dahinfließt. Wehmut erfasst sie. „Was bin ich so froh, wieder hier zu sein. Berlin war eine Katastrophe.“

„Warst du eigentlich schon jemals glücklich?“, fragt Gwynn vorsichtig.

Sandra legt die Hände zusammen und schaut zur Decke. Nach einer Weile antwortet sie: „Hättest du mich das gefragt, bevor ich nach Berlin ging, dann hätte ich gesagt: Nein. Heute sage ich: Ja. Es ist wohl immer eine Frage der Perspektive. Hätte ich die Zeit in Berlin nicht erlebt, dann würde ich meine Jugendzeit hier in Combe Manor nicht zu schätzen wissen. Ich bin froh, wieder hier zu sein, auch, wenn meine Großeltern immer nur an mir rumnörgelten. Vielleicht haben sie sich ja inzwischen geändert. Aber weißt du was, Gwynn? Ich habe das sogar vermisst. Das Nörgeln bedeutet im Nachhinein für mich, dass jemand für mich da ist. In Berlin war ich mutterseelenallein mit Jessica.“

„Wie hast du das denn gemacht? Das Baby, und gleichzeitig Geld verdienen?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es ist irgendwie weg, nicht mehr auf dem Schirm. Es war eine verdammt schwere Zeit.“ Sandra treten Tränen in die Augen.

Gwynn umfasst erschrocken die zittrigen Hände ihrer Freundin, die gefaltet auf dem Tisch liegen. „Entschuldige, ich wollte das nicht.“

Sandra nickt und wischt sich mit der Schulter die Tränen weg. „Jessi darf das nicht mitkriegen“, schluchzt sie.

Gwynn stiert ihr in die Augen und nickt ihr aufmunternd zu – nun mach schon, erzähl.

„Ich habe Krebs.“ Sandras Hände zittern mehr, und Gwynns Griff wird fester.

„Bauchspeicheldrüse. Deshalb die Enzyme.“

Gwynn umklammert nun entsetzt Sandras Hände.

„Laut Ärzten hab ich noch drei Monate.“ Sie beginnt, fest zu weinen.

„Das ist ja furchtbar“, sagt Gwynn gerührt. Es gelingt ihr kaum, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. Sie möchte stark sein, um Sandra beizustehen. Doch es ist so verdammt schwer.

„In Berlin hatte ich gestern noch einen ganz schlimmen Anfall. Aber jetzt, wo wir wieder hier sind, habe ich das Gefühl, ich könnte den Krebs besiegen. Ich fühle mich so wohl, trotz auftretender Schmerzen. Endlich wieder zuhause.“

Gwynn schnieft kurz und runzelt die Stirn. „Warum eigentlich Berlin?“

„Ich glaube, ich muss ein wenig weiter ausholen“, sagt Sandra. „Du weißt doch, dass mein Vater Berliner ist und ich dort geboren wurde, bevor er meine Mutter verließ und sie mit mir als Baby wieder zurückkam.“

„Ja, ich glaube, das hast du mir mal erzählt.“

„Ich bin von meinen Großeltern aufgezogen worden, nachdem meine Mutter mich bei ihnen allein ließ und abhaute, als ich vier war. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht mal, ob es sie noch gibt. Bei dem Lebenswandel, den sie hatte, ist es gut möglich, dass sie unter die Räder gekommen ist.“

Gwynn hört nur aufmerksam zu und unterbricht Sandra nicht.

„Ich bin dann nach Bristol gezogen und hab dort eine Lehre in der Gastronomie gemacht. Danach wurde ich aber nicht übernommen, und eine neue Anstellung fand ich nicht. Ich hatte mir damals eingebildet, in Berlin größere Chancen zu haben, aber dann kam alles ganz anders. Ich hab für ein paar Euro in Kneipen und Fast Food Restaurants gejobbt und bin nie so richtig in die Pötte gekommen. Und dann ist das Schlimmste passiert, das sich eine Frau vorstellen kann.“ Sandra treten wieder vermehrt Tränen ins Gesicht. Mit weinerlicher Stimme fährt sie fort: „Als ich eines frühen Morgens von der Arbeit nach Hause ging, bin ich von drei jungen Männern vergewaltigt und niedergestochen worden.“

Jetzt erst lässt Gwynn Sandras Hände los, um sie sich vors Gesicht zu reißen. „Nein“, haucht sie durch die Finger.

Sandra putzt sich kräftig die Nase und wischt erneut die Augen frei. „Ich habe nur überlebt, weil ich schnell gefunden und notoperiert wurde. Das alles ist nun schon fast zehn Jahre her.“

„Oh Gott, und Jessi…?“

„…stammt aus der Vergewaltigung. Aber ich liebe sie über alles, vielleicht auch nur, weil es mir damit einfacher fällt, den Kerlen zu verzeihen und die Geschichte aufzuarbeiten.“

Gwynn entrüstet sich. „Verzeihen? So jemand gehört ge-…“

„Seither plagen mich immer wieder gesundheitliche Probleme“, unterbricht Sandra. „Inzwischen ist Bauchspeicheldrüsenkrebs daraus geworden. Es wurde in letzter Zeit immer schlimmer, bis ich es nicht mehr aushielt. So war ich im November beim Arzt, der mir sagte, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Nun bin ich wieder hier und möchte Jessi zu meinen Großeltern bringen. Ich hoffe, sie sind noch rüstig genug, um sich um sie zu kümmern.“

Gwynn zieht hörbar die Nase hoch. Als Sandra ihr ein Taschentuch reicht, nimmt sie es gerne an. „Sandra-Schatz, das ist ja alles so entsetzlich,“ murmelt sie.

„Gestern hatte ich den bisher schlimmsten Anfall. Mir wird ganz plötzlich übel, es entsteht Druck im Oberbauch, als ob ich einen riesigen Stein drin hätte, ich würge bittere Galle hoch und bekomme hohes Fieber, manchmal all das auf einmal. Auf dem Flug nach Bristol hatte ich minütlich mit neuen Anfällen gerechnet, aber sie blieben erstaunlicherweise aus. Auf der Fahrt hierher ging es mir dann noch besser, und seit wir hier in Combe Manor sind, habe ich sogar das Gefühl, ich könnte echt wieder gesund werden. Ich bin so froh, hier zu sein. Und dann das Treffen mit dir – Wahnsinn!“ Sandra lässt ihren Tränen freien Lauf, diesmal eher aus einer wohligen Erleichterung heraus. Sie erhebt sich und fällt Gwynneth um den Hals. Sie drückt sie fest an sich, und dann noch fester. „Ach Gwynn, meine beste Freundin. Wie schön, dass du auch wieder hier bist. Das tut so gut.“

Gwynneth wurstelt sich umständlich vom Stuhl hoch, damit sie sich besser umarmen können. Dann sagt sie: „Ich war ja auch in Bristol und sogar verheiratet. Aber das war eine Katastrophe. Boy ist das einzige, was mir Schönes geblieben ist aus dieser Ehe. Seither hab ich ein Problem mit Männern, weißt du?“

Sie weinen beide, doch aus dem Weinen wird ein Lachen. Sie fassen sich bei den Schultern und schauen sich in die nassen und geröteten Gesichter.

„Ich habe ein so gutes Gefühl bei dem Gedanken, dass du den Krebs besiegen wirst“, sagt Gwynn lächelnd.

„Du hast Krebs?“

Ihre Köpfe fliegen herum. Gwynn und Sandra haben ihre Kinder gar nicht kommen gehört. Doch nun schauen sie beide in das von Entsetzen gezeichnete Gesicht von Jessica.

„Nein-nein, das hast du falsch verstanden“, beteuert Gwynn. „Es ist alles okay, nicht wahr, Sandra?“

„Ich kann nicht mehr lügen“, antwortet Sandra. „Ich habe Jessica schon zu viel vorgemacht. Ich kann jetzt einfach nicht mehr schwindeln.“ Sie streichelt Jessica über die Wange. „Ja, ich habe Krebs und weiß das seit November. Jetzt weißt du es auch, Schatz. Aber du hast ja Gwynn gehört: Ich werde ihn besiegen. Hilfst du mir dabei?“

„Deshalb sind wir nun in England, ja? Nur, weil du Krebs hast. Du hast mich die ganze Zeit belogen.“ Die letzte Silbe schwingt noch in der Luft, als Jessica versteht, warum ihre Mom sie beschwindelt hat: Nur aus Liebe zu ihr. Es tut ihr auf einmal unendlich leid, was sie gerade gesagt hat. Schnell wie eine Schnappfalle, umschlingt sie Sandras Taille, wie sie es so oft zu tun pflegt, und drückt sich an sie. „Mama, ich helfe dir! Ja, du schaffst das.“

Sandra nickt lächelnd. „Wir müssen jetzt gehen. Zu Oma und Opa.“

„Darf Jessi wiederkommen?“, fragt Boy. Es ist der erste Satz, den er sagt, seit sie hier sind.

„Natürlich“, antworten Gwynn und Sandra wie aus einem Munde. „Also dann, bis später. Gwynn muss bestimmt auch gleich zur Arbeit. Wohin eigentlich?“

Sie schaut auf ihre Armbanduhr. O Gott, ist es schon so spät? Ich muss jetzt rüber zum Golfhotel. Mädchen für alles. Vom Zimmermachen bis zur Bar ist alles drin. Aber die Kohle stimmt. Das ist die Hauptsache. Optimal ist es nicht, weil Boy den ganzen Abend alleine ist und nur am Computer rumhängt, aber was will ich machen? Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“

Es findet eine umfangreiche Umarmung statt, und zum Abschluss heben Sandra und Jessi die Hände. „Bis die Tage. Bye.“

Im Strudel des Schicksals

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