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5. Kapitel – Der Entschluss

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Es ist recht früher Nachmittag, als Sandra wieder bei Gwynn eintrifft und ihr den Schlüssel zurückbringt. Früh genug, dass Gwynn noch nicht wieder zur Arbeit gegangen ist. Sie hätte schon eine Stunde früher wieder zurück sein können, wenn sie nicht in einer einsamen Bucht am Straßenrand gehalten und sich der Verzweiflung hingegeben hätte. Das schöne Wetter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht die ersehnte Heilung bekommen hat. ‚Noch drei Monate!‘, schießt es ihr durch den Kopf. Es ist gerade so, wie andere über den nächsten Urlaub nachdenken. ‚Noch drei Monate, dann fliegen wir in den Süden!‘ Mit dem Unterschied, dass Sandras Süden wo ganz anders ist. Seltsamerweise waren bei dem Stopp keine Schmerzen aufgetreten, keine Fieberattacken oder andere Anfälle. Sie hatte sich nur dem Schicksal ergeben – und ihren Tränen. Sie hatte so sehr geweint, dass sie Durst bekommen hatte. Dieses Signal des Körpers – he, ich brauche Wasser – konnte sie jedoch nicht befriedigen, weil sie vergessen hatte, welches mitzunehmen. Aber für Sandra war der Durst sowieso nur ein Zeichen dafür gewesen, dass sie ‚Unmengen von Tränen‘ vergossen hatte. So kam es ihr jedenfalls vor.

Als sie sich beruhigt hatte und der Kopf wieder klarer wurde, da wusste sie, dass sie einen Entschluss fassen musste. Es gab nichts mehr drum herum zu reden, denn die Fakten waren klar: Sie würde sterben, und zwar schon bald. Sandra hatte in diesem Moment der Verzweiflung nicht in Erwägung gezogen, dass der Arzt sich geirrt haben könnte. Dass sie kein Vierteljahr, sondern vielleicht noch 12 Monate hatte. Oder gar noch mehr? Jetzt ging es nur noch darum, eine Lösung für Jessica zu finden und sich irgendwie über Wasser zu halten, bis der Tod sie erlöste.

Sandra hält den Autoschlüssel mit Daumen und Zeigefinger am Schlüsselring und lässt ihn in Gwynns offene Hand fallen. „Ich danke dir, meine beste Freundin.“ Diese Worte begleiten das Herabfallen des Schlüssels. „Wann musst du weg?“

„In zwei Stunden. Wir können uns gerne noch ein wenig unterhalten.“ Gwynn lächelt. „Cream Tea?“

„Lieber Wasser“, entgegnet Sandra. „Ich hab solch einen Durst.“ ‚Wie gut, dass ich mich bereits ausgeweint und mit dem nahenden Ende abgefunden habe‘, fügt sie in Gedanken hinzu.

„Kriegst du, meine Liebe. Setz dich schon mal in den Erker. Bin gleich bei dir.“

Augenblicke später sitzen sie an dem Tisch mit Blick auf den Bach. Sandra leert ihr Glas in einem Zug, und Gwynn schenkt aus einer Kanne nach, die sie mitgebracht hat. „Und, wie war Stonehenge?“, fragt sie.

Sandra wischt sich den Mund trocken und winkt ab. „Total anders, als ich es in Erinnerung hatte. Ich habe mein Ziel nicht erreicht.“ Sie beugt sich zu Gwynn über den Tisch vor und flüstert: „Wo ist Jessi?“

Gwynn deutet zur Decke. „Oben, mit Boy. Warum?“

„Gwynn, du musst mir helfen“, sagt Sandra.

„Natürlich, immer. Was kann ich für dich tun?“

„Hast du einen PC?“

„Ja“, antwortet Gwynn, „aber…“

„Hör zu“, unterbricht Sandra. „Zwei Dinge. Erstens: Ich muss eine Anzeige aufgeben. Am besten online. Und zweitens: Ich brauche einen Job, denn bei meinen Großeltern kann ich nicht wohnen. Meinst du, ich könnte ein paar Wochen im Golfclub arbeiten? Könntest du mir helfen, dort eine Anstellung zu bekommen?“

„Ich denke, das ist kein Problem“, sagt Gwynn. „Aber was soll das heißen, ein paar Wochen? Und was soll das für eine Anzeige werden? Für einen neuen Job? Willst du nicht erst mal gesund werden und dann nach einer passenden Stelle schauen?“

„Ich werde nicht mehr gesund“, antwortet Sandra. „Und die Anzeige ist für Jessi.“

Gwynn hebt die Hände hoch. „Nun red doch nicht solch einen Blödsinn. Natürlich wirst du gesund.“ Das war geradezu herausposaunt, viel lauter, als Gwynn eigentlich wollte. Erschrocken über sich selbst, schaut sie über die Schulter zur Treppe, aber es bleibt still. Sie beugt sich zu Sandra vor und flüstert: „Was soll das? Klar wirst du gesund.“

Sandra schüttelt energisch den Kopf. „Ich hab keine Kraft mehr, zu kämpfen. Deshalb suche ich nun per Anzeige Pflegeeltern für Jessi.“

Gwynn wird es ganz seltsam zumute. „Aber Sandra!“

„Ich will nicht, dass sie in ein Heim kommt. Meine Großeltern werden sich nicht um sie kümmern, dir will ich sie nicht aufbürden, und in ein Heim soll sie auf gar keinen Fall. Also suche ich gute Pflegeeltern für sie, solange ich noch kann, und dann gehe ich.“

Gwynn, sonst nicht auf den Mund gefallen, weiß nicht, was sie sagen soll.

„Meinst du, es wäre möglich, auch eine Unterkunft im Golfclub zu bekommen?“, fährt Sandra fort. „Oder einfach gegen freie Kost und Logis dort zu arbeiten?“

„Du scheinst es wirklich ernst zu meinen“, entgegnet Gwynn. „Das tut so weh, Sandra. Kann ich denn nichts für dich tun? Dich auf andere Gedanken bringen? Oder zu einem guten englischen Arzt? Ich habe keine Ahnung, was deutsche Ärzte so draufhaben, aber eine zweite Meinung wäre sicher nicht schlecht, oder? Warte, ich suche dir mal einen in Bristol raus.“ Gwynn nimmt ihr iPhone zur Hand und will mit der Suche beginnen.

Sandra drückt Gwynns Hand nieder. „Lass gut sein, Süße, es hat keinen Zweck. Lass uns bitte jetzt die Anzeige aufgeben, und dann gehe ich mit dir in den Club, okay?“

„Dir scheint es wahrhaftig todernst zu sein – o, entschuldige, das wollte ich nicht sagen.“

„Du hast aber so recht, Gwynn. Es ist mir todernst.“

„Gut, dann hole ich mal den PC. So viel Zeit habe ich sicher noch.“

Nachdem sie zusammen eine Zeitlang an den wenigen Sätzen gefeilt haben, ist die Anzeige fertig. Sandra ist sehr dankbar dafür, dass Jessica und Boy sich nicht haben blicken lassen. Nun ist das Schriftwerk im Kasten und wird sofort landesweit online gestellt, sobald Gwynn den Bestätigungsbutton klickt. Am Wochenende wird es zudem in den regionalen Printausgaben erscheinen. Gwynn hat sich bereiterklärt, die Kosten dafür zu übernehmen, was Sandra dankbar angenommen hat.

„Ich lese dann noch mal vor, also: Aufgeweckte Achtjährige sucht liebevolle Pflegeeltern ab sofort. Spätere Adoption in Aussicht gestellt. Bitte nur ernstgemeinte Anfragen unter blablabla. – Und? Gut so? Oder fehlt noch was?“

Sandra schaut überlegend zur Decke. „Meinst du, wir sollten noch etwas mehr über Jessi sagen?“

Schon sind Schritte zweier Kinder auf der Treppe zu hören.

„Das ist wohl ein Zeichen“, flüstert Sandra. „Schick’s ab.“

Im gleichen Augenblick, da Gwynn den Button drückt, spritzen die beiden ins Zimmer und bleiben vor dem Tisch stehen. Jessica strahlt übers ganze Gesicht. „Mom, du bist wieder da!“ Sie wurstelt sich an Tisch und Stuhl vorbei zu Sandra hin und umarmt sie, während Boy grinsend am Kopf des Tisches stehenbleibt. „Weißt du was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fügt sie hinzu. „Boy ist jetzt mein Freund. Ist das nicht toll? Wir wollen uns jeden Tag sehen.“ Was Jessica gefällt, das möchte sie jeden Tag haben. Dabei macht sie keinen Unterschied, ob es sich um Fish and Chips, oder um einen Freund handelt.

Sandra schießen tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. So, wie sie dreinschaut, ist sie verlegen, oder betrübt. Oder beides. Sie biegt ein Lächeln zurecht und streicht Jessica übers Haar. ‚Hoffentlich sind deine Pflegeeltern aus der Nähe‘, denkt sie. „Es ist schön, dass ihr euch so gut vertragt“, sagt sie zu Jessica. Und mit einem Blick auf ihre ebenso bedrückt schauende Freundin: „Nicht wahr, Gwynn?“

Diese nickt. „Ja, das ist wunderbar. Aber jetzt muss ich mich fertigmachen und zur Arbeit gehen.“ Sie blickt Jessica an und fügt hinzu: „Deine Mom geht mit mir. Vielleicht kann sie auch dort arbeiten, so wie ich. Möchtest du noch eine Stunde bei Boy bleiben?“

Jessicas Strahlen sagt mehr als tausend Worte.

Im Strudel des Schicksals

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