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4. Kapitel – Stonehenge

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Die Nacht war erholsam, so erholsam, wie sie in einem engen Raum voller Gerümpel nur sein kann. In dieser Nacht, in der sie vor Anfällen verschont geblieben war, hatte Sandra eine Vision, die sie gleich heute in die Tat umsetzen möchte. Dazu braucht sie das Auto ihrer Großeltern.


Sie sitzen zu viert an einem runden Frühstückstisch. Er steht an jenem Fenster zur Straße hin, an dem Sandra ihren Opa gestern hinter der Gardine sah. Diese trübt zwar ein wenig den Blick auf die Straße, aber das macht gar nichts. Sie trübt absolut nicht das Gefühl an die Kindheit und Jugend, die zwar nicht wirklich glücklich war, aber doch zumindest behütet. So behütet wie jetzt, da sie wieder zusammen frühstücken, wie früher, während die nahe Straße von der Morgensonne erhellt wird.

Die Pearsons können es sich leisten, zwei weitere Mäuler zu füttern. Soweit Sandra denken kann, hat es ihnen nie an Geld gemangelt. Das sieht man auch heute noch an ihrer Kleidung, ihr Alter hin oder her. Sie sprachen nie über Geld und kauften einfach, was sie haben wollten. Zwar ist das Haus, in dem sie wohnen, keine Nobelvilla, aber würde jemand so ein niedliches kleines Lodge mit jahrhundertealter Geschichte und viel Flair hergeben, wenn er sowieso nicht mehr Platz brauchte? Die Einrichtung ist dem gemütlichen Häuschen adäquat, und irgendwie wird es der Mystik seines Namens gerecht: Einhorn-Häuschen.

Brian, wie gestern mit grünkarierter Hose und grünem West bekleidet, ist hinter seiner Zeitung verschwunden. ‚Eigentlich war er noch nie anders angezogen‘, denkt Sandra. Hin und wieder tastet seine mit wenigen Altersflecken verzierte Hand nach der Teetasse, worauf ein Schlürfen zu hören ist, und dann stellt sie sie wieder ab.

Karen, die offenbar wirklich so schwach und zittrig ist, wie sie tut, sitzt neben Brian und beschmiert einen Toast mit Butter und Orangenmarmelade. Es scheint ihr sogar schwer zu fallen, das Messer zu heben und ins Marmeladenglas zu tauchen.

Die Fröhlichste am Tisch ist Jessica. Sie erfreut sich an den knusprig-frischen Toastscheiben – und am Tee, den sie bisher noch nie getrunken hat. In Berlin gab es immer nur Kaffee für Mama, und Kaba für sie.

Sandra, gedankenverloren, mit der dampfenden Teetasse in den Händen, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, schaut ihren Großeltern eine Weile zu. Sie nimmt einen Schluck und sagt: „Opa, würdest du uns heute dein Auto leihen?“

„Nein!“

Sandra muss schlucken. Wie aus heiterem Himmel, braut sich im Oberbauch ein Drama zusammen. Hastig stellt sie die Tasse ab und legt sich beide Hände auf die Stelle, wo der bekannte Basaltstein zu liegen scheint. Sie atmet schwer, kriegt sich aber wieder in den Griff. Langsam ebbt der Schmerz ab. Mit ihm verschwindet aller Appetit, am Essen und am Trinken.

Brian liest immer noch in der Zeitung und hat nicht mitbekommen, wie sehr seine Antwort Sandra zugesetzt hat. Nur Karen hat ihre Enkelin für einen Moment angeschaut, ohne zu wissen, wie sie auf die erneute Übelkeit reagieren sollte. Sandra glaubt, einen Funken Mitgefühl verspürt zu haben. Vielleicht hat dieser Funke es geschafft, einen Anfall zu verhindern. „Wir haben kein Auto mehr“, sagt die Oma dann auch fast freundlich.

Sandra, sehr angetan von dieser wohlgemeinten Erklärung, erhebt sich mit wackligen Knien, geht um den Tisch herum zu Karen und streichelt ihre Schulter. „Danke, Oma. Dann frage ich Gwynn, vielleicht hat sie eins.“ Sie setzt sich wieder neben Jessica.

Nun senkt Brian die Zeitung, trinkt seine Tasse leer und fragt: „Was willst du denn mit dem Auto?“

Der Schmerz im Oberbauch ist fast wieder verschwunden, und Sandra freut sich über Opas Frage. Immerhin scheint er damit ein wenig Interesse an ihr zu zeigen. „Ihr wart doch schon mit mir in Stonehenge“, erklärt sie. „Da möchte ich mal hin. Mir geht es momentan nicht so gut. Vielleicht finde ich dort Linderung.“

„Was ist Stonehenge, Mama?“, fragt Jessica ohne aufzublicken, während sie sich einen weiteren Toast belegt.

„Das ist ein kraftvoller Platz, der mich immer gesund gemacht hat, wenn es mir als Kind nicht gut ging. Dann sind Oma und Opa mit mir dorthin gefahren.“

„Und es hat immer geholfen“, ergänzt Karen. „Ja, fahrt dort mal hin. Das ist eine gute Idee.“

„Wenn Gwynn mir ihr Auto leiht.“

„Du bist doch den Linksverkehr gar nicht gewöhnt“, brummelt Brian, der seine Zeitung wieder aufgenommen hat.

„Ich bin eher den Rechtsverkehr nicht gewöhnt“, erwidert Sandra. „Ich habe noch nie eine einzige Meile mit dem Auto im Rechtsverkehr zurückgelegt.“

„Na, ich bin gespannt“, murmelt Brian. „Hoffentlich geht das gut.“

Sandra erhebt sich vom Stuhl. „Dann machen wir uns mal auf den Weg. Ob Gwynn schon wach ist? Bestimmt hat sie lange gearbeitet. Komm, Jessi.“ Sie winkt den Großeltern zu. „Macht’s gut, bis heute Abend.“


Eine Stunde später ist Sandra in Gwynns Mittelklassewagen auf der A350 nach Süden unterwegs – ohne Jessica. Sie wollte gerne bei Boy bleiben und mit ihm spielen. Boy hatte die Idee begrüßt, und Gwynn, die sich noch zerzaust und im Nachthemd präsentierte, hatte nichts dagegen gehabt. ‚Irgendwie ist es doch ganz gut, dass die Kleine nicht dabei ist‘, denkt Sandra. Sie möchte mit dem Steinkreis energetischen Kontakt herstellen und die uralte Energie darum bitten, ihr zu helfen. Sie erinnert sich noch sehr gut daran, wie Brian und Karen sie damals die heilende Wirkung von Stonehenge spüren ließen. Es war ein wunderbares Gefühl gewesen. Ja, sie hatte es wahrhaftig gespürt. Es war wie ein sanfter Wirbel, der sie umschlungen hatte und durch den Kopf in sie eingedrungen war. Er hatte sie jedes Mal erfüllt mit einem wunderbaren Gefühl und mit der unzerstörbaren Zuversicht, wieder gesund zu werden. Sie war – soweit sie sich erinnern konnte – drei Mal dort gewesen, und immer hatte sie bereits auf dem Rückweg den Einsatz der Linderung gespürt. Am nächsten Tag war sie regelmäßig wieder genesen. Klar, es handelte sich nur um Erkältungen, einmal sogar mit Fieber, aber dennoch: Es hatte gewirkt. Und so würde es nun wieder sein.

Sandra ist mit den Gedanken bereits so in Stonehenge, dass sie das Schild nicht sieht, das auf einen Kreisverkehr hinweist und dazu auffordert, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Weitere Schilder geben die erlaubte Geschwindigkeit vor. Ihr Tacho zeigt 50 Sachen an, und erlaubt sind nur noch 30. Schnell erreicht sie das nächste Schild: 20 Mph.

Als sie durch ein Schlagloch fährt, wird sie wie vom Donner in die Realität zurückgeholt. Sie erkennt, dass sie geradewegs auf einen etwa drei Meter hohen bepflanzten Hügel zurast, der von dem Kreisverkehr umrundet wird. Sie tritt auf die Bremse und rutscht in den Kreisel aus Teer hinein. Sie gerät ins Schleudern. Instinktiv nimmt sie den Fuß vom Pedal. Der Wagen fängt sich, aber die Geschwindigkeit ist immer noch zu hoch. Sandra schliddert in die Kurve. Wie durch ein Wunder, ist kein weiteres Fahrzeug zu sehen. Der stark schlingernde Wagen brettert auf die nächste Ausfahrt zu. Da, die Leitplanke. Sandra sieht sich schon hineinkrachen. Es ist wie eine Vorschau in Zeitlupe.

Aus dem Nichts taucht eine Information auf, von der sie später nicht einmal wird sagen können, von wem sie sie hat: ‚Egal, was passiert. Schaue niemals dorthin, wo du nicht hin willst, sondern dorthin, wo du hin willst.‘

Es gelingt ihr, sich vom Anblick der Leitplanke loszureißen und das Auto quietschend und kreischend in die Ausfahrt zu lenken. Ihre Handtasche fällt zu Boden und der Inhalt verteilt sich, aber dann bringt sie das Auto unter Kontrolle. In letzter Sekunde, bevor sie in den Gegenverkehr geraten wäre!

Langsam, fast schleichend, fährt Sandra weiter. Als sie nach einer Meile eine Gelegenheit zum Halten findet, nimmt sie diese wahr und steigt aus. Ihre Knie zittern, und ihr wird schlecht. Diesmal ist es zwar nicht der üble Schmerz im Oberbauch, aber ihr Gesicht rötet sich, und sie wird von einer Fieberattacke gepackt. Wie aus heiterem Himmel wechseln Hitzewellen und Frösteln sich ab. Sie lässt sich wieder in den Wagen fallen und kramt in den Sachen herum, die auf dem Boden liegen. „Die Enzyme, wo sind die Enzyme! O mein Gott, wenn das doch endlich ein Ende hätte. Bitte lasst mich schnell in Stonehenge sein, damit das bald aufhört.“ Sie findet die Schachtel, schaut sich um, stellt fest, dass sie kein Wasser dabei hat und wirft drei Kapseln ein, die sie trocken hinunterwürgt. Eine Zeitlang hat sie das Gefühl, die Medikamente würden ihr im Hals steckenbleiben, aber kurze Zeit später scheinen sie doch ihren Weg in den Magen gefunden zu haben.


Nach einer halben Stunde weisen Schilder den Weg zum nahen Heritage, dem Jahrtausende alten Vermächtnis einer vergangenen Kultur, von dem nicht viel bekannt ist. Sandra, den Schreck vom Kreisel noch immer in den Knochen, fährt langsam und vorsichtig, ohne dass der nachfolgende Verkehr sie drängen würde. Ihre ‚Follower‘ scheinen alle viel Zeit zu haben.

Sandra meint, sich noch recht gut an einen großen Parkplatz erinnern zu können, von dem aus man durch eine Unterführung auf die andere Straßenseite und zu dem Steinkreis gelangte. Früher, vor Sandras Zeit, war Stonehenge einmal frei zugänglich gewesen, und jährlich am 21. Juni fanden sich viele Neokelten ein, um die Sommersonnenwende zu feiern. Da solche Feste jedoch mit immer mehr Verschmutzung des Kulturerbes einhergingen, wurden diese zunächst verboten, und später bekam Stonehenge einen Zaun mitsamt ständiger Bewachung. Gegen Zahlung eines kleinen Beitrags war es aber immer noch möglich gewesen, den Steinkreis zu betreten und zwischen den Megalithen des Bauwerks umher zu pilgern. Wenn nicht viele Menschen vor Ort waren, konnte man sogar zur Besinnung verweilen und die Kraft spüren. Sandra erinnert sich daran, dass es immer geregnet hatte, wenn sie mit ihren Großeltern nach Stonehenge gefahren war. Das fällt ihr jetzt erst auf, nach mindestens 20 Jahren. Bei Regen hierher zu fahren hatte sicher auch den Grund gehabt, möglichst alleine dort zu sein.


Die Schilder führen Sandra in eine andere Richtung, als sie sich zu erinnern glaubt, und bald stellt sie fest, dass sich hier alles verändert hat. Die alten Parkplätze, auf denen Oma und Opa immer ihr Auto abgestellt hatten, sind verschwunden, wurden wahrscheinlich der Natur zurückgegeben, und die Unterführungen sind zugeschüttet und damit nun Teil des Straßendamms. Sandra wird auf einen anderen großen Parkplatz geleitet, auf dem sie schon aus einiger Entfernung Busse stehen sieht. Sie lenkt das Fahrzeug dorthin, und als sie den Schildern zum Eingang folgt, ist sie erschrocken und entsetzt, wie sehr sich alles verändert hat. Wo ist die Andacht des Monuments geblieben, wo die heilige Atmosphäre? Stonehenge gleicht einem überfüllten Rummelplatz, degradiert zum Touristenmagnet mit Ausstellungshalle zur Geschichte des Monuments. Ein kleines Freilichtmuseum ist ebenso dabei, wie ein paar Ticketschalter und eine Bushaltestelle, von wo aus die Touristen nach Stonehenge gebracht werden. Der Steinkreis ist nur noch in der Ferne zu erahnen.

Sandra begibt sich zu einem der Schalter, vor dem sich bereits eine Schlange gebildet hat. Sie erhascht einen Blick auf die Preistafel, die ihr einen Seufzer der Enttäuschung entlockt. „26 Pfund, die Hälfte von dem, was ich noch habe“, stöhnt sie. „Für den Eintritt zu einem Heiligtum, wo ich garantiert keine Besinnung finde, und schon gar keine Heilung, bei dem Rummel.“ Enttäuscht geht sie zum Auto zurück.

Im Strudel des Schicksals

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