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7. Kapitel – Rückblicke

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„Warst du so lange in Stonehenge?“ So hatte Brian ihre Rückkehr am Abend dokumentiert. „Du warst ja Stunden unterwegs! Hat es dir wenigstens geholfen?“ Sandra kam das, was er sagte und die Art, wie er es sagte, provozierend vor. Als sie ihm ruhig erklärte, dass sie auf der Suche nach Job und neuer Bleibe auch noch einen Termin wahrgenommen habe, da hatte er sich, irgendetwas brummelnd, hinter seiner Zeitung verkrochen, und das Gespräch war beendet.

Karen hatte immerhin noch gefragt, wie der Termin denn verlaufen wäre und wo er stattgefunden hätte, aber ansonsten sprachen sie nur über Belanglosigkeiten. Alle Seiten waren darum bemüht, Streit zu vermeiden und sich möglichst sachlich zu geben, was Brian dadurch gelang, dass er seine Beteiligung an der Unterhaltung auf das Nötigste beschränkte.

Die Einzige, die wirklich ungezwungen war, war Jessica, was nicht bedeutet, dass sie sich ihrer bekannten Fröhlichkeit hingegeben hätte. Sie vermisste Boy.

Nun liegen sie wieder zusammen im Bett und kuscheln sich aneinander. Der Kamin wärmt wie schon am Tag zuvor das Zimmer, nur der Mond, der gestern noch durchs Fenster schien und zusammen mit einer Straßenlaterne ein wenig Licht spendete, fehlt. Der Himmel ist bewölkt, die Wolken verdecken den Trabanten.

Jessica ist absolut ruhig und bewegt sich nicht in Sandras Arm. Als sie sich, geschlaucht von den Ereignissen des Tages, von ihr lösen und zum Schlaf umdrehen möchte, sagt sie: „Mama, kennst du Liebe?“

Diese Frage verpasst ihr einen Stich durchs Herz. Sie muss sich eingestehen, dass sie noch niemals so richtig Liebe kennengelernt hat. Was soll sie dem Mädchen antworten? Dass es ohne Liebe auf die Welt gekommen ist? Jessica hat schon hin und wieder nach ihrem Vater gefragt, hat gesagt, dass andere Kinder doch auch Väter hätten, nur sie nicht, und sie wollte wissen, warum das so ist. Neben der Unwahrheit bezüglich ihrer Krankheit war die Aussage über Jessicas Vater die zweite Lüge, die Sandra ihrer Tochter bisher zugemutet hat. Es tut ihr jedes Mal in der Seele weh, wenn sie das Kind anlügt. Sie beruhigt sich aber immer damit, dass es doch Notlügen seien, die nur dazu da sind, größeren Schaden von der geliebten Tochter abzuwenden. Um die Klippe zu umschiffen, fragt sie: „Was meinst du damit?“

„Weißt du, wie das ist, jemanden zu lieben“, fragt Jessica und fügt hinzu: „Ich zum Beispiel liebe Boy.“

Sandra ist froh, eine Chance zu haben, nicht auf die erste Frage antworten zu müssen und meint: „Ihr kennt euch doch noch gar nicht so richtig.“

„Doch, das tun wir. Und wir wollen immer zusammenbleiben.“

Sandras Herz erfährt einen zweiten Stich. Was, wenn sich auf die Anzeige jemand von weiter weg meldet? Aus dem Norden Englands, zum Beispiel. Was, wenn sie Jessica und Boy trennen müsste, womit das Kind zum ersten Mal Trennung erführe, um sie ein paar Monate später noch einmal zu erleben? Unwillkürlich nimmt sie Jessica fester in den Arm. „Du bist doch noch viel zu klein dafür“, sagt sie. „Und jetzt lass uns schlafen, ja? Es war ein anstrengender Tag für mich.“

„Wir lieben uns und werden heiraten“, bestimmt Jessica. „Und du und Gwynn werden auf die Hochzeit eingeladen.“

„Das ist ganz lieb von dir, meine Kleine. Aber erst schlafen wir, okay?“

„Gehen wir morgen wieder zu Gwynn und Boy?“

„Ja.“

„Versprochen?“

„Ja. Aber warum ist er eigentlich zuhause? Sind gerade Schulferien?“

„Das weiß ich nicht.“ Jessica löst sich nun selbst aus dem Arm ihrer Mutter und dreht sich rum. „Mir egal. Ich freu mich auf ihn! Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

Als Sandra gestern spontan bei Gwynn aufgetaucht war, um sich ihr Auto zu leihen, da hatte ihre Freundin erklärt, dass sie spätestens um neun auf den Beinen sei, schon wegen Boy, der dann sein Frühstück erwarte. Tatsächlich finden gerade die Frühlingsferien statt. Doch wenn sie beendet sind, dann fährt Boy wieder täglich früh zu Schule nach Kingsham und kommt abends gegen 17 Uhr zurück. Das würde eine eventuelle Trennung ein wenig einfacher gestalten. Aber zurzeit sind noch Ferien, und irgendwann müsste ja auch Jessica eingeschult werden.

Sie sitzen wieder zu viert in Gwynns so gemütlichem Erker und machen sich über ein original englisches Frühstück her, das Sandra und Jessica bisher nur vom Hören-Sagen kennen. Selbst Brian und Karen hatten es nie serviert. Nun aber erleben sie es mit allen Sinnen. Nachdem Gwynn und Boy gebratenen Speck, Rührei, rote Bohnen und Würstchen auf die Teller, und Tee in die Tassen verteilt haben, greifen alle vier zu knusprig frittierten Toastscheiben und lassen es sich schmecken. Gwynn weiß noch nichts vom Ausgang des Bewerbungsgesprächs. Noch hat Sandra kein Handy, mit dem sie es ihr hätte mitteilen können.

Als der Tisch wieder abgeräumt ist und die Kinder in Boys Zimmer verschwunden sind, fragt Gwynn: „Und, wie ist es gelaufen?“

Sandra nippt an ihrem Tee und winkt ab. „Es war total lieb von dir, mir diesen Termin zu verschaffen, aber da wird nichts draus.“

„Warum nicht?“

„Zuerst war ich ziemlich beleidigt, als Duncan mir einen Putzjob im Spa-Bereich nicht zutraute, aber dann hab ich es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Gwynn, ich hatte wieder einen Anfall. Mein Gott, war das peinlich. Dabei erkannte ich, dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen wäre.“

„Oh, dieser McKell“, schimpft Gwynn. „Der soll sich nicht so anstellen. Du wirst dich erholen, und dann kannst du deine 100% geben. Das wird schon, ich rede mit ihm.“

Sandra schüttelt den Kopf, noch während sie am Tee nippt. „Nein du, lass mal. Es hat keinen Zweck. Es liegt nicht an Duncan, wirklich. Schade ist nur, dass ich nicht wie geplant in eine neue Bleibe umsiedeln kann. Bei meinen Großeltern fühle ich mich überhaupt nicht wohl.“

„Dann kommt ihr halt zu mir“, sagt Gwynn spontan.

„Du hast doch gar keinen Platz für uns“, gibt Sandra zu bedenken.

„Platz ist in der kleinsten Hütte. Wir rücken ein wenig zusammen, ihr zieht zu mir und fertig.“

Sandra kennt Gwynn gut genug, um zu wissen, dass sie von ihren Ideen so leicht nicht abzubringen ist. Trotzdem stichelt sie weiter, vielleicht auch nur, um immer wieder überstimmt zu werden. „Und selbst, wenn wir zusammenrücken: Ich verdiene kein Geld, habe gerade noch 50 Pfund, und du kannst nicht für vier Leute arbeiten gehen. Nein, das will ich nicht. Da bleibe ich lieber bei Oma und Opa. Die können es sich leisten, mich und Jessi durchzufüttern.“

„Mein Gott, wie kann man nur so stur sein. Würden die dich ohne Murren noch ein paar Monate, oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang ertragen? Oder besser: Willst du deine Großeltern noch so lang ertragen müssen? Das geht in die Hose, Sandra. Ihr kriegt euch in die Wolle, weil ihr so verschieden seid. Aber wir verstehen uns, haben uns noch nie gestritten, und wir werden die Einschränkungen aushalten, bis sich was Neues ergibt.“

Sandra gönnt sich einen tiefen Atemzug. Wie gut das tut, mit der besten Freundin auf gleicher Ebene zu sprechen. Wie gut das tut, nicht vergessen worden zu sein in 13 Jahren ohne Kontakt. Das ist echte Freundschaft. Es würde sie mehr auf die Probe stellen, ihr Angebot nicht anzunehmen, als es anzunehmen. Sandra haut leicht auf den Tisch und sagt: „Abgemacht. Unter einer Bedingung!“

„Abgemacht, unter keiner Bedingung. Geh zu deinen Großeltern und hol deine Sachen.“

„Mach ich gleich. Sag mal, ist Duncan eigentlich verheiratet?“

Gwynn schüttelt den Zeigefinger. „Du stellst Fragen.“

Sandra winkt ab. „Nicht, was du denkst“, sagt sie. „Ich habe aber den Eindruck, dass er ein zärtlicher Mann ist. Als ich mit dem Anfall vor der Toilette kniete, da hatte er mir den unteren Rücken gerieben, und das war richtig gut. Irgendwie ist er ein besonderer Mensch.“

„Und verheiratet“, antwortet Gwynn. „Und jetzt geh eure Sachen holen.“

Als Sandra zum Unicorn Lodge zurückgeht, regnet es. Jessica hat sie bewusst bei Boy gelassen. Sollte es zu einem unschönen Gespräch kommen, dann lieber ohne sie. Der Weg von Gwynns Haus zum Lodge ist nicht sehr weit. Sandra wird vom Regen nur leicht besprenkelt. Als sie an die Haustür klopft, sieht sie wieder die Gardine wackeln, so, wie sie schon bei ihrer Ankunft verriet, dass Brian sich einen Überblick darüber zu schaffen pflegt, wer bei ihm Einlass begehrt, oder was sich gerade auf der Straße tut. Kurz darauf sitzen sie zu dritt im Wohnzimmer, Brian mit der Zeitung auf dem Sofa, und Karen mit dem Stock im Sessel. Sandra, die davon ausgeht, ihre Großeltern mit einer freudigen Nachricht zu beglücken, bricht mit der Neuigkeit förmlich heraus. „Stellt euch vor, ich habe eine neue Bleibe. Ich hole meine Sachen ab, und dann seid ihr mich los.“

Karen starrt Sandra an, als sei dieser gerade ein Geweih gewachsen. „So plötzlich? Wie damals, als du einfach so nach Berlin abgehauen bist?“

„Oma, ihr habt gesagt, ich kann nur eine Woche hierbleiben. Was soll das jetzt? Ich werde zu Gwynn ziehen, und alle sind zufrieden.“

„Die Woche ist noch nicht rum“, erklärt Brian. „Es kommt halt einfach sehr plötzlich für deine Oma. Sie hat es noch nicht verkraftet, was damals geschah.“

„Ich kann für mich allein reden“, flickt Karen ein. „Aber dein Opa hat recht.“ Karen ringt mit den Tränen.

„Da siehst du, was du angerichtet hast“, schimpft Brian. „Musstest du auch wieder hier auftauchen? Konntest du nicht bleiben, wo der Pfeffer wächst, nachdem du dich über zehn Jahre lang nicht gemeldet hast?“

Sandra ist wie vor den Kopf gestoßen. „Ihr wisst nichts, gar nichts“, sagt sie leise, um sich unter Kontrolle zu haben. „Ja, ich bin nach Berlin gegangen, und ja, ich habe nichts von mir hören lassen. Das tut mir sehr leid. Aber hört mir bitte zu, ich möchte es erklären, damit diese Sache ein für alle Mal aus der Welt geschafft wird. Darf ich anfangen?“

Brian zuckt mit den Schultern, und Karen sagt: „Von mir aus. Vielleicht bringt es ja wirklich Ruhe ins Haus. Also?“

„Ich hatte den Eindruck, dass ich euch zur Last falle.“

„Also das ist doch…“

„Oma, bitte. Du kannst nicht leugnen, dass ich euch nie etwas recht machen konnte. Immer habt ihr mich gemaßregelt. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, auch nach der Lehre noch. Das tat weh. Leider hatte ich keine Anstellung gefunden und musste hier wohnen bleiben. Ich hatte Angst, dass es zwischen uns eskalieren könnte, wenn wir noch länger unter einem Dach lebten. Deshalb bin ich nach Berlin gegangen. Immerhin konnte ich ja schon ganz gut deutsch.“

„Ja, weil deine Mutter, dieses Flittchen, einfach diesem deutschen Versager nachgelaufen war“, wirft Karen ein.

„Es ist, wie es ist, Oma. Jedenfalls sah ich in Berlin eine Chance. Es hat mich einfach dorthin gezogen. Ich kann es nicht näher beschreiben.“

„Ist ja auch egal“, meint Brian. „Erzähl weiter.“

„Als ich in Berlin ankam, da lag ich erst ein paar Tage unter Obdachlosen, Straßenhuren und Fixern in einem Bahnhof. Ich hatte kein Handy, um mich zu melden, und keine Münzen, um zu telefonieren. Ich brauchte dringend Geld und suchte mir einen Job. Wenn ich spontan bei einer Kneipe oder in einem Schnellrestaurant vorsprechen wollte, ging ich frühmorgens, wenn es noch einigermaßen still war in der Stadt, an einen Brunnen, wusch mich und zog mir ein paar Sachen an, die ich nur für diesen Zweck im Rucksack hatte. Ich hatte geglaubt, Berlin sei die Stadt aller Möglichkeiten, aber: Weit gefehlt. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich endlich eine Stelle in einer Sexbar fand.“

Karen saugt hörbar die Luft ein. „Kind, du hast doch nicht etwa…“

„Nein, hab ich nicht, Oma. Ich war nur hinter der Theke beschäftigt, manchmal bis morgens um Sechs. Sie gaben mir ein bisschen Geld als Vorschuss, damit ich mir was zu essen kaufen konnte, und eine Kollegin nahm mich mit zu sich, damit ich ein Dach über dem Kopf hatte. Nach zwei Wochen gab sie mir bereits einen Schlüssel, weil wir unterschiedliche Schichten fuhren. Und dann…“ Sandras Gesicht wird bleich, die Lippen zittern. Nervös spielt sie mit den Fingern.

„Und dann wolltest du uns wohl anrufen“, flaxt Brian. Seine Ironie trifft Sandra, als sie mit fester Stimme die bittere Wahrheit verkünden möchte. Stattdessen ist sie nun weinerlich geprägt.

„Nein, Opa. Ich wurde von drei Männern vergewaltigt. Das war morgens um Vier. Sie machten sich abwechselnd über mich her, immer und immer wieder, und als sie endlich von mir ließen und ich um Hilfe schreien konnte, da stach einer von ihnen auf mich ein. Das bärtige Gesicht dieses Mannes werde ich niemals vergessen. Die anderen beiden sind allerdings verblasst. Man hat die Kerle wohl niemals geschnappt.“

Brian sitzt wie versteinert auf dem Sofa und rührt sich nicht.

Karen ist nicht minder entsetzt. „Mein Gott, mein Kind“, stößt sie schwach hervor. Sie möchte sich erheben, fällt aber in den Sessel zurück.

„Ja, Oma, so war das. Aber irgendjemand hat mich schreien gehört. Deshalb war schon bald ein Krankenwagen da, der mich ins Hospital brachte. Ich hatte sieben Stiche im Bauch und musste mehrmals operiert werden. Wie durch ein Wunder waren keine tödlichen Verletzungen dabei. Erst nach drei Monaten bin ich wieder entlassen worden. Aber ich war schwanger. Ein halbes Jahr später kam Jessica zur Welt. Das ist jetzt knapp neun Jahre her. Sie hat im Mai Geburtstag.“

Brian erhebt sich, um eine Kanne Tee zu kochen, und Karen ringt nach Fassung. Nach einer Minute fragt sie: „Und wie ging es dann weiter? Ohne Job, ohne Bleibe, aber mit einem Kind? Und das Krankenhaus war sicherlich auch nicht umsonst.“

„Die Krankenhausrechnung hat eine deutsche Hilfsorganisation für Verbrechensopfer übernommen“, erzählt Sandra. „Der Chefarzt selbst hatte sich darum gekümmert, weil er da jemanden gut kannte. Von denen bekam ich auch eine kleine Entschädigung, mit der ich mir für einige Monate ein Zimmer mieten und was zu essen kaufen konnte. Danach fand ich eine Stelle in einem Hotel als Zimmermädchen.“

„Und Jessica?“, fragt Karen. „Wo war denn das Kind, wenn du gearbeitet hast?“

„Ich musste Jessica in einem Heim abgeben und hielt mir die Option frei, sie baldmöglichst wieder dort abzuholen.“ Sandra weint fest, als sie ergänzt: „Das war das Schlimmste, was ich je getan habe. Das arme Kind. Ich sehe heute noch seinen traurigen Blick vor mir, als ich es der Schwester in den Arm legte, mich umdrehte und ging. Es war furchtbar.“

„Und wie lange war sie im Heim?“, fragt Karen. Als Sandra aber vornüber zusammensackt und sich dem Leid hingibt, hört sie auf, weiter zu bohren. Nicht nur, weil auch sie nun keine Stimme mehr herausbringt.

„Ich hatte immer eure Telefonnummer im Geldbeutel“, schluchzt Sandra nach einer Weile. „Ich hätte euch angerufen, ganz bestimmt. Ich dachte nur: Warte noch, bis es dir bessergeht, denn ich hätte es nicht übers Herz gebracht, euch was vorzumachen. Einfach zu sagen, es geht mir gut, das ging nicht. Und die Wahrheit sagen, das hätte ich auch nicht gekonnt. Dann kam die Vergewaltigung. Die Kerle haben mir meinen Geldbeutel abgenommen. Ich hatte eure Telefonnummer nicht mehr. Nach dem Aufenthalt im Krankenhaus hatte ich sie vergessen. Was hätte ich denn tun sollen?“

Nach einigen Minuten kommt Brian mit dem Tee zurück. Er geht in die Küche, verteilt drei Tassen auf dem Tisch am Fenster und ruft die beiden Frauen hinzu. Karen schlurft herbei, in einer Hand den Stock, und auf der anderen Seite von Sandra gestützt. Sie schluchzt noch immer, während sie sich setzt. Sandra hat sich inzwischen wieder gefangen.

Brian füllt die Tassen, während er sagt: „Es tut mir so leid, Sandra. Es tut mir so leid.“ Seine Augen werden ganz klein. Eine Träne tritt hervor und platscht auf den Tisch. Er stellt die Kanne ab und setzt sich. „Ich habe dir die Schuld dafür gegeben, dass Karen immer schwächer wurde. Sie hatte sich solche Sorgen um dich gemacht, und in ihren Gram hat sie ihre ganze Lebenskraft gesteckt. Ich konnte förmlich zusehen, wie sie sich verzehrte.“ Er schnieft, zuppelt ein buntes Stofftuch aus der Hosentasche und putzt sich die Nase. Dann wiederholt er: „Es tut mir so leid.“

„Ist schon gut, Opa“, stammelt Sandra.

„Mir tut es auch leid“, fügt Karen hinzu. „Wir hätten uns nicht so benehmen dürfen, nicht, ohne die Wahrheit zu kennen. Ich möchte mich nicht für unser Benehmen entschuldigen, aber vielleicht verstehst du uns auch ein wenig, nach allem, was wir mit deiner Mutter durchgemacht haben.“

Sandra nickt. „Ich weiß, ihr habt sicher sehr gelitten. Hat man noch mal was von ihr gehört?“

Brian winkt ab, während Karen den Kopf schüttelt. „Sie war ein schwer erziehbares Mädchen“, sagt sie. „Nächtelang wussten wir nicht, wo sie sich gerade aufhielt, und eines Tages verschwand sie für zwei volle Jahre – nach Berlin, wie sie uns später erzählte, weil sie angeblich ihre große Liebe kennengelernt hatte. Aber so groß kann sie nicht gewesen sein, denn sie kehrte ja reumütig zurück und brachte ein Kind mit. Dich. Du weißt das ja schon alles. Sie hatte sich wieder hier eingenistet, als wäre nichts gewesen, aber schon wenige Wochen später ist Ronda erneut abgehauen, diesmal für immer. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört. Dich hatte sie bei uns gelassen, einfach so. Nicht mal einen winzigen Zettel mit Nachricht hatte sie für uns übrig gehabt. Die beiden Alten werden sich schon drum kümmern, und ich bin dann mal weg. So in der Art.“ Während Karen das erzählt, stiert sie in eine andere Welt, in der offenbar gerade dieser Film abläuft.

„Als du plötzlich mit dem Kind aufgetaucht bist, da dachte ich, dieser Horror würde sich wiederholen“, erklärt Brian. „Karen hat aber schon genug Kraft verloren. Eine Wiederholung würde sie mit Sicherheit das Leben kosten, Sandra. Sie würde das nicht schaffen. Deshalb haben wir so reserviert auf deine Ankunft reagiert.“

Sandra nickt. „Ihr habt ja so recht. Das Ganze ist eine verhängnisvolle Verstrickung von Missverständnissen.“

Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Darf ich euch noch was sagen?“

„Ja,“, antwortet Brian. „Lass alles raus, meine Kleine.“

„Ihr seid mir nicht böse, auch, wenn es vielleicht schwer zu begreifen ist, was jetzt kommt?“

„Nein“, beteuert Brian, „ganz bestimmt nicht. Wir haben uns ja jetzt ausgesprochen.“

Sandra ringt nach Worten, um die bittere Wahrheit so sanft wie möglich rüber zu bringen. „Ich wäre sicher niemals auf Dauer in Berlin geblieben“, beginnt sie. „Ich hatte immer den Wunsch, euch wiederzusehen. Dass ich aber gerade jetzt wieder hier bin, hat einen ganz besonderen Grund. Ich hatte tatsächlich gehofft, ihr könntet euch um Jessica kümmern, denn ich muss gehen.“

„Du willst wieder weg?“, fragt Karen.

„Ich muss“, antwortet Sandra. „Ich habe noch drei Monate zu leben.“

Die beiden Alten sagen nichts und schauen drein, als hätten sie es nicht verstanden.

„Ich habe Krebs. Die Ärzte geben mir noch bis Mai. Hoffentlich erlebe ich Jessicas Geburtstag noch.“

Die Großeltern bleiben stumm. Zu tief sitzt der Schock, als dass sie etwas sagen könnten.

„Ich möchte nicht, dass Jessi noch einmal in ein Heim kommt. Dieser Gedanke ist das Schlimmste für mich, schlimmer noch, als der nahende Tod. Dann habe ich gesehen, dass ihr damit überfordert wärt und habe eine Anzeige aufgegeben, mit der ich für sie Pflegeeltern suche.“

Brian erholt sich als erster und sagt: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sandra. Deiner Oma geht es nicht anders. Aber ich bin überzeugt davon, dass du das einzig Richtige getan hast.“ Er wendet sich an Karen. „Hab ich recht?“

Nun ist auch Karen wieder imstande, ein paar Worte zu sagen. „Ja, dein Großvater hat recht. Und dass du sterben musst, kann ich einfach nicht glauben. Ärzte irren sich auch schon mal.“

„Ja“, pflichtet Sandra bei, „aber seit ich in Stonehenge nicht zum Zuge kam, glaube ich nicht mehr an meine Heilung. Mein Schicksal ist besiegelt.“

„Stonehenge ist nicht alles“, sagt Brian. „Gehe mal zu einem guten Arzt und lass dich untersuchen. Konsultiere einen Spezialisten. Wir bezahlen ihn.“ Er hebt seine Tasse an und fügt hinzu: „Euer Tee wird kalt.“

Drei Tassen werden zum Mund geführt und senken sich wieder wie eine.

„Vielleicht werde ich das wirklich tun“, sagt Sandra. „Ihr seid so lieb. Danke.“

„Wir lieben dich“, beteuert Karen. „Wir haben dich immer geliebt.“

„Ich euch auch. Alle beide. Und es ist für euch in Ordnung, wenn ich zunächst einmal bei Gwynn wohne?“

Karen schaut Sandra lange an. Dann nickt sie. „Solange du uns nicht vergisst.“

„Ich komme euch oft besuchen, versprochen.“

„Pass gut auf dich auf. Opa kann dir helfen, euer Gepäck runter ins Dorf zu bringen.“

Brian nickt, leert seine Tasse und erhebt sich. „Dann lass uns gehen, bevor der Regen mehr wird.“

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