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KAPITEL SECHS

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17:48 Uhr Eastern Standard Time

34. Stock

Das Willard Intercontinental Hotel, Washington, D.C.


„Sind wir kein Rechtsstaat?“, schrie der Mann in den Telefonhörer.

Seine Füße lagen auf dem großen polierten Eichenschreibtisch und er blickte durch die deckenhohen Fenster seines Büros auf die Lichter des Kapitols. Draußen war es bereits dunkel – zu dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter.

„Das möchte ich mal gerne wissen. Denn wenn wir doch ein Rechtsstaat sind, hat diese Frau, diese Besetzerin im Weißen Haus, schleunigst ihre Koffer zu packen. Sie hat verloren und Jefferson Monroe hat gewonnen. Jefferson Monroe ist der gewählte Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Und wenn sie bis zum Tag der Amtsübergabe nicht draußen ist, werden wir sie einfach rausschmeißen, wie ein Gerichtsvollzieher einen Mietnomaden rausschmeißt.“

Der Mann schwieg ein paar Sekunden und hörte dem Reporter am anderen Ende der Leitung zu.

„Natürlich können Sie mich zitieren. Drucken Sie jedes Wort von dem, was ich gesagt habe.“

Er beendete das Gespräch und legte den Hörer zurück auf den Schreibtisch. Er warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. Seit fast einer Stunde hatte er mit verschiedenen Reportern gesprochen, seit Susan Hopkins von der Bühne und aus dem Raum verschwunden war, in dem sie ihre lächerliche Pressekonferenz abgehalten hatte.

Sein Name war Gerry O’Brien. Mit seinen 50 Jahren war er sehr groß und so dünn wie ein Stock. Sein Haar lichtete sich und sein Gesicht war scharfkantig. Er wog immer noch genau so viel wie an dem Tag, an dem er die Universität abgeschlossen hatte. Er lief Marathons, war ein Triathlet und hatte in den letzten Jahren an Mud und Survival Runs teilgenommen. Alles, was hart war, was einen so richtig forderte, Extremsport, bei dem Teilnehmer bewusstlos am Wegesrand zurückblieben, sich die Eingeweide auskotzten, oder den Hügel herunterfielen und sich ihre Knie aufschlugen – das war genau das Richtige für ihn.

Als Sohn irischer Einwanderer war er auf den Straßen von Woodside, Queens groß geworden. Sein Vater war Gefängniswärter, seine Mutter Haushaltshilfe. Harte Menschen, die ihn dazu erzogen hatten ebenso hart zu sein. Wenn man in Woodside überleben wollte, musste man kämpfen. Das hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Er legte sich mit jedem an. Er war so kämpferisch, so erbarmungslos, dass die Kinder in seiner Nachbarschaft angefangen hatten, ihn den Hai zu nennen.

Er war der erste aus seiner Familie, der studiert hatte und anschließend – unerforschtes Gebiet – war er an die juristische Fakultät gegangen. Er hatte seine erste Million verdient, bevor er dreißig geworden war, indem er sich auf Körperverletzungen spezialisiert hatte. Er hatte ein Foto von sich machen lassen, auf dem er wütend aussah (und kaum jemand konnte so wütend aussehen wie er) und für ein paar kleine Werbeanzeigen bezahlt, die in der U-Bahn aufgehängt wurden.

Unfallverletzung? Sie brauchen jemanden, der für Ihre Rechte eintritt. Einen echten Anwalt. Einen echten New Yorker. Sie brauchen Gerry O’Brien. Sie brauchen den Hai.

Fast sofort wurde er als Gerry der Hai bekannt. Jeder, der in den fünf Bezirken New Yorks schon mal U-Bahn gefahren war, kannte seinen Namen. Manchmal setzte er sich selbst in die U-Bahn, nur um seine eigene Werbung ansehen zu können – und er hasste die U-Bahn.

Je mehr er verdiente, desto mehr Werbungen konnte er sich leisten. Und je mehr Werbungen er in Auftrag gab, desto mehr verdiente er. Schon bald schaltete er Anzeigen im Late-Night Fernsehen, später sogar im Tagesprogramm. Es war ein einziger Jackpot. Erst arbeiteten drei Anwälte für ihn, dann fünf, dann zehn. Dann 20. Als er vor zehn Jahren seine Kanzlei verkauft hatte, hatte er 33 Anwälte und mehr als 100 Hilfskräfte gehabt.

Ein paar Jahre lang hatte er sich zur Ruhe gesetzt. War umhergewandert. Hatte die Welt erkundet. Hatte zu viele Drogen eingenommen. Hatte zu viel getrunken. Sich in die Rechtsaußenpolitik zu verirren hatte vermutlich sein Leben gerettet. All seine schlechten Angewohnheiten hatte er gegen Selbstdisziplin und eine Zukunftsvision für Amerika eingetauscht, die er mit seinen Gleichgesinnten teilte – eine Rückkehr zu einer früheren, einfacheren Zeit.

Zu einer Zeit, in der die Überlegenheit der Weißen Rasse noch nicht in Frage gestellt wurde. Zu einer Zeit, in der die Ehe zwischen Mann und Frau noch heilig gewesen war. Zu einer Zeit, in der ein junger Mann aus der Schule kam und in eine Fabrik gehen konnte, um dort den Rest seines Lebens zu arbeiten und genug Geld zu verdienen, um sich und seine Familie unterstützen zu können.

Natürlich war es nicht immer so einfach. Es gab Dinge, die dazugehörten, für die man nicht zimperlich sein durfte. Dinge, die die breite Öffentlichkeit niemals einsehen würde. Er hatte große Pläne. Sie würden dieses Land bereinigen, ein für alle Mal. Aber das war nichts, was man groß herausposaunen sollte. Jedenfalls noch nicht.

Gerry der Hai stand von seinem Schreibtisch auf und ging an seinen Büros vorbei. Ein paar Sekretärinnen waren noch hier, doch die meisten Angestellten arbeiteten von anderen Orten aus. Gerry war nicht nur hier, weil er der leitende Stratege hier war, sondern auch, weil er seinen Chef nur ungern aus den Augen ließ.

Sie waren heute Nachmittag aus Louisville hergeflogen. Seinem Boss gehörte diese… was war die richtige Bezeichnung? Wohnung? Wenn man etwas mit zehn Schlafzimmern, zwölf Badezimmern, einem halben Dutzend Büros, einem Konferenzraum und einer kleinen Kantine noch Wohnung nennen konnte. Sie nahm das gesamte Stockwerk eines der bekanntesten und teuersten Hotels auf der ganzen Welt ein. In diesem Hotel wurde amerikanische Geschichte geschrieben. Hier hatte John F. Kennedy zahlreiche Schäferstündchen verbracht.

Hier würden sie die Nacht verbringen. Am nächsten Tag hatten sie früh morgens wichtige Geschäfte in D.C. zu erledigen.

Gerry rauschte durch die Gänge, klatschte seine Schlüsselkarte gegen einen Sensor und betrat die Wohnräume. Der vordere Bereich war üppig ausgestattet und wirkte wie ein Gemälde in einem Haus aus der viktorianischen Zeit.

Ein Mann mit weißem Haar stand vor einem riesigen Fenster, dessen Vorhänge offenstanden. Er starrte in die Nacht hinaus. Der Mann trug einen dreiteiligen Anzug, obwohl er zu Hause war und keine Absichten hatte, heute noch auszugehen. Die Hemden mit offenstehendem Kragen waren natürlich nur Show. Er mochte wie jeder andere auch, sich herauszuputzen.

Er hatte einen Martini in der Hand. Das Martiniglas sah im Vergleich winzig aus. Trotz des protzigen Anzugs und seines offensichtlichen Reichtums hatte er die rauen Hände von jemandem, der damit aufgewachsen war, sich mit harter Arbeit Geld zu verdienen. Die Hände schrien geradezu: Was stimmt an diesem Bild nicht?

Es war eine unangenehme Nacht in der Hauptstadt und der Wind heulte draußen. Der alte Mann blickte über die Stadtlandschaft und ihre Lichter. Gerry wusste, dass der Dorfjunge in ihm selbst nach all den Jahrzehnten immer noch von den glänzenden Lichtern der Stadt bezaubert wurde.

„Wie läuft der Krieg?“, fragte Jefferson Monroe, gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten mit einer sanften Satzmelodie, die auf seine Herkunft aus dem Süden schließen ließ.

„Wunderschön“, sagte Gerry ernst. „Sie sitzt in der Ecke fest und weiß nicht, was sie machen soll. Ihre Erklärung heute hat das offenbart. Sie will ihr Amt nicht abtreten? Das kommt uns nur zugute. Sie schottet sich ab – die Öffentlichkeit wird auf unserer Seite sein. Wenn wir alles richtig machen, können wir sie sogar früher als geplant da rausholen. Ich denke, wir sollten den Druck erhöhen – sie dazu bringen, das Amt bereits früher abzutreten, lange bevor sie die Wahlbetrugsuntersuchungen abschließen können. Dann können wir sie einfach selbst einstellen.“

Der alte Mann drehte sich um. „Gibt es einen Präzedenzfall für einen Präsidenten, der sein Amt schon einmal verfrüht abgetreten hätte?“

Gerry der Hai schüttelte seinen Kopf. „Nein.“

„Wie sollen wir das dann schaffen?“

Jetzt lächelte Gerry. „Ich hätte da ein paar Ideen.“

Der Kandidat

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