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KAPITEL ZWÖLF

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11:45 Uhr Eastern Daylight Time

Das Lagezentrum

Das Weiße Haus, Washington, D.C.


„Ein Haftbefehl?“, fragte Susan Hopkins. „Ist es das, was sie ausgestellt haben?“

Kurt Kimball drehte die Lautstärke herunter. Sie hatten gerade Jefferson Monroes Rede zum wiederholten Male angeschaut – Luke hatte sie jetzt schon drei Mal gehört.

Auch wenn seine Veranstaltung danach noch weitergegangen war, war der interessante Teil nach der Rede vorbei gewesen. Ein unbekannter Countrymusiker war auf die Bühne gekommen und hatte versucht, die Menge mit einem patriotischen Lied zu unterhalten, aber das Publikum hatte sich bereits nach wenigen Minuten verteilt.

Sie waren nicht für ein Konzert hergekommen – sie waren gekommen, um einer öffentlichen Hinrichtung beizuwohnen und man konnte fast behaupten, dass sie genau das bekommen hatten.

Jetzt schaute sich Luke im Lagezentrum um, um die verschiedenen Reaktionen zu beobachten. Der Raum war voll mit Menschen. Mitarbeiter der Wahlkampagne, der Geheimdienst, Susans eigene Leute, Angestellte der Vizepräsidentin, einige Politiker der Demokraten. Luke konnte nicht viel Kampfeswillen in ihren Augen entdecken. Manche von ihnen überlegten offensichtlich, wann der beste Zeitpunkt wäre, das Schiff zu verlassen, bevor es endgültig am Grund des Ozeans angelangt war.

Diese Art von Umgebung war Luke nicht gewohnt. Er fühlte sich fehl am Platze. Ihm war klar, dass es wichtige Entscheidungen gab, die die Leute hier treffen mussten, aber er hatte nicht die Geduld für diese Art von Arbeit. Sein typischer Prozess war so schnell wie möglich eine praktische Lösung zu finden und dann zu agieren. Kurt Kimball sah verwirrt aus. Kat Lopez wirkte ungläubig. Nur Susan wirkte ruhig.

Luke beobachtete Susan genau und fragte sich, wann sie wohl zusammenbrechen würde. Das war eine alte Gewohnheit, die er in Kriegsgebieten entwickelt hatte, insbesondere in Momenten, in denen sich seine Truppe sammeln musste – er hatte stets genau untersucht, wie viel seine Leute noch aushalten konnten. Stress war nicht zu unterschätzen, und viele Menschen brachen unter ihm zusammen. Manchmal passierte es nur langsam und schleichend, aber manchmal auch von einem Moment auf den nächsten. Egal wie, irgendwann hatte jeder genug, auch der stärkste und erfahrenste Krieger. Irgendwann schaltete jeder ab.

Aber Susan schien diesen Punkt noch nicht erreicht zu haben. Ihre Stimme war ruhig. Ihre Augen waren hart und unnachgiebig. Sie war nicht in der besten Verfassung, aber sie konnte noch kämpfen. Luke war froh darüber. Das würde es einfacher machen, an ihrer Seite zu stehen.

Kurt stand am Ende des Raumes, nahe der großen Leinwand, und schüttelte seinen aalglatten Kopf.

„Nein. Sie sind eine Person von Interesse in diesem Fall, aber keine Verdächtige. Die Polizei von Washington, D.C., genauer gesagt die Mordabteilung, haben lediglich ein Verhör angefragt. Sie hätten gerne, dass Sie in ihrem Hauptquartier erscheinen. Ihre Anwälte wären bei Ihnen. Trotz allem kann es natürlich sein, dass Sie während des Verhörs zu einer Verdächtigen werden. Und an diesem Punkt könnte man Sie verhaften.“

Kurt blickte zu einem der Anwälte des Weißen Hauses, ein adretter Herr in einem dreiteiligen Anzug und sandigem, wüsten Haar. Neben ihm standen zwei Assistenten.

„Stimmt das ungefähr so, Howard?“, fragte Kurt.

Howard nickte. „Ich würde ihnen im Moment kein Verhör gewähren und erst recht keines, bei dem Sie persönlich anwesend sind. Nicht hier und unter keinen Umständen in ihrem Hauptquartier. Wenn Sie auch nur einen Fuß da reinsetzen, werden Sie nur schwer wieder rauskommen, insbesondere so, wie die Dinge momentan stehen. Wenn sie ein Verhör wollen, können sie uns anrufen oder vielleicht eine Videokonferenz machen. Sie haben Besseres zu tun, Susan. Sie sind die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Sie haben eine Verantwortung in diesem Fall, aber Sie haben auch jede Menge andere Dinge zu erledigen.“

„Verstärkt das nicht nur den Verdacht?“, fragte ein junger Mann in einem blauen Anzug und kurz geschorenen Haaren. Er saß direkt gegenüber von Luke. Er sah aus, als wäre er gerade mal 19 – und 19-jährige sahen für Luke heutzutage aus wie zwölf. „Ich meine, wir haben doch nichts zu verstecken. Da bin ich mir jedenfalls ziemlich sicher.“

„Agent Stone“, sagte Susan. „Kennen Sie meinen Wahlkampfleiter, Tim Rutledge?“

Luke schüttelte seinen Kopf. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“

Sie reichten sich über den Tisch hinweg die Hände. Rutledge hatte einen starken Händedruck, vielleicht sogar zu stark, als hätte er in einem Buch gelesen, dass ein starker Händedruck einen guten Eindruck machen würde.

Rutledge sah Luke an. „Und was ist Ihre Rolle hier, Agent Stone?“

Luke blickte ihn ausdruckslos an. Er vermutete, dass es das Beste wäre, ehrlich zu sein.

„Das weiß ich auch nicht so genau.“

„Agent Stone ist Spezialagent. Er hat mein Leben schon mehr als ein Mal gerettet, und das Leben meiner Tochter. Ich würde sagen, er hat das Leben aller Anwesenden schon mal gerettet.“

„Für wen arbeiten Sie?“, fragte Rutledge.

Luke zuckte mit den Achseln. „Ich arbeite für die Präsidentin.“ Er hielt es nicht für nötig, seine Vergangenheit im Special Response Team, bei der Delta Force oder irgendetwas anderes zu erwähnen. Wenn dieser Junge etwas davon wissen wollte, würde er es schon herausfinden. Um ehrlich zu sein fühlte Luke sich seltsam distanziert von der Person, die er einst gewesen war. Er war sich nicht sicher, was er hier überhaupt machte.

„Nun, ich arbeite ebenfalls für die Präsidentin“, sagte Rutledge. „Und ich kann Ihnen sagen, dass diese Anschuldigungen, oder was auch immer das sein soll, nicht wahr sind. Nicht ein Wort. Susan hatte nichts mit dem Mord an diesem Mann zu tun. Die Kampagne und Pierre eben so wenig. Es gibt keine Korruption. Pierres gemeinnützige Organisationen sind lupenrein. Das weiß ich, weil wir von der Kampagne selbst versucht haben herauszufinden, wo unsere potenziellen Schwächen liegen. Finanziell gesehen gibt es quasi keine. Ich weiß, dass es ein paar persönliche Dinge gibt, die uns angreifbar machen, aber auf professioneller Ebene ist Pierres Weste so weiß wie sie nur sein kann.“

„Kannten Sie das Opfer?“, fragte Kurt.

Rutledge zuckte mit den Schultern. „Ob ich ihn kannte? Nein. Ich habe von ihm gehört, aber ich habe ihn nie getroffen oder mit ihm gesprochen. Pierres Sicherheitsdirektor hat unsere Kampagne vor knapp neun Monaten vor ihm gewarnt. Es hatte mehrere Hackversuche auf Datenbanken der Firma gegeben, die sich allesamt zu Normans Detektei haben zurückverfolgen lassen. Ziemlich stümperhaft. Ab dem Zeitpunkt haben Pierres Leute vermutet, dass Norman für Monroe arbeitet, aber niemand hat sich ernsthafte Sorgen darüber gemacht. Und wir wollten ihn garantiert nicht umbringen. Wie ich schon gesagt habe, es gab einfach nichts, was er hätte finden können. Bedenken Sie, dass das alles im Kontext des letzten Sommers stattfand. Niemand hat zu dem Zeitpunkt ernsthaft daran geglaubt, dass ein Verrückter wie Jefferson Monroe tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte.“

Drei Sitze von Rutledge entfernt hob jemand die Hand. Er war ein schwächlich wirkender Mann mittleren Alters mit lichtem Haar. Er hatte eine lange Nase und kein nennenswertes Kinn. Er war dünn und Muskeln suchte man an ihm vergeblich. Er trug einen schlechtsitzenden grauen Anzug, in dem er nahezu unterzugehen schien. Aber er hatte harte, funkelnde Augen. Er war eine der anwesenden Personen, die auf jeden Fall keine Angst hatte.

Komischerweise trug er einen Hallo, mein Name ist Sticker vorne an seinem Anzug. Auf ihm stand in dicken krakeligen Buchstaben Brent Staples.

Luke kannte den Namen. Er war ein Wahlkampfstratege vom alten Schlag, ein Öffentlichkeitsarbeitsexperte. Luke meinte sich zu erinnern, dass er und Susan sich einmal zerstritten hatten, aber scheinbar hatten sie sich für den Wahlkampf wieder vertragen. Nicht, dass es Susan geholfen hätte.

„Ich hasse es, das zuzugeben“, sagte er und Luke konnte ihm ansehen, dass eigentlich genau das Gegenteil der Fall war. „Aber Jefferson Monroe sieht immer weniger verrückt aus, während wir Anwesenden hier zu den Verrückten werden.“

„Was wollen Sie damit sagen, Brent?“, fragte Susan.

„Ich möchte damit sagen, dass Sie sich ziemlich weit aus dem Fenster lehnen, Susan. Sie sind ganz allein und befinden sich in einer schwierigen Situation. Ich möchte sagen, dass Sie sich vom amerikanischen Volk abschotten. Aus der Sicht des Durchschnittsbürgers haben Sie die Wahl verloren, auch wenn es weh tut. Vielleicht hat Ihr Wahlkampfgegner mit gezinkten Karten gespielt. Aber noch weiß niemand, ob das wirklich der Wahrheit entspricht und wenn ja, welchen Einfluss es tatsächlich hatte. In der Zwischenzeit sagen Sie, dass Sie Ihr Amt nicht abtreten werden. Außerdem ist ein Mann ermordet worden, der Sie untersucht hat. Und es scheint, als wollten Sie der Polizei ein Verhör verweigern. Meine Frage an Sie lautet wie folgt: Wer sieht momentan wie der Verbrecher aus? Wer fängt an, wie ein Verrückter auszusehen?“

Kat Lopez stand in der Ecke des Raums. Sie schüttelte ihren Kopf und starrte Brent Staples an. „Brent, Sie gehen zu weit. Sie wissen, dass Susan niemanden ermordet hat. Sie wissen, dass das nur eine Show von Monroe und seinem Attentäter Gerry O’Brien ist.“

„Ich sage Ihnen nur, wie die Dinge wirken“, sagte Staples. „Nicht wie sie tatsächlich sind. Ich kenne die Wahrheit nicht und um ehrlich zu sein, spielt sie auch gar keine große Rolle. Es spielt nur eine Rolle, wie es aussieht.“

Er blickte sich im Raum um und schien jemanden zu suchen, der es wagen würde, ihm zu widersprechen.

Der junge Tim Rutledge nahm die Herausforderung an. „Für mich sieht es so aus, als hätten sie ihren eigenen Detektiv ermordet, um Susan die Sache anzuhängen“, sagte er. „Für mich sieht es so aus, als hätten sie die Wahl durch Stimmenunterdrückung und Betrug gestohlen. So wirkt die ganze Sache auf mich.“

Luke entschied sich endlich, auch etwas dazu zu sagen. Er hatte erkannt, was an dieser Besprechung falsch lief. Vielleicht würde es helfen, wenn er sie darauf hinwies.

„Für mich scheint es“, sagte er langsam, „als müssten Sie die Initiative wiedergewinnen.“

Alle Augen richteten sich langsam auf ihn.

„Denken Sie von der Situation wie von einem Kampf, einer Schlacht. Sie sind auf der Flucht. Sie sind durcheinander. Ihr Feind agiert und Sie reagieren. Bis Sie reagiert haben, macht Ihr Feind bereits etwas anderes. Er ist am Zug und Sie sind durcheinander und rennen wie wild davon. Sie müssen sich einen Gegenangriff überlegen, Ihren Feind auf dem Hinterfuß erwischen und die Initiative zurückgewinnen.“

„Und wie?“, fragte Brent Staples.

Luke zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ist das nicht Ihr Job, das herauszufinden?“

In den letzten paar Minuten hatte sich Kurt Kimball mit zwei seiner Assistenten in eine Ecke zurückgezogen. Etwas hatte ihn offensichtlich abgelenkt. Jetzt wandte er sich zurück an die Anwesenden.

„Ich mag die Idee, Stone. Aber im Moment wird es hart sein, die Initiative zu ergreifen.“

Stone hob eine Augenbraue. „Ach so? Warum das?“

„Wir haben gerade erfahren, dass in diesem Moment 100 Staatspolizisten aus West Virginia, sowie die Wheeling Stadtpolizei auf dem Weg nach Washington sind. Sie wollen hier ins Weiße Haus eindringen, Susan in Gewahrsam nehmen und sie selbst in das Hauptquartier der Polizei von D.C. geleiten.“

„Sie haben hier doch gar keine Zuständigkeit“, sagte der Anwalt des Weißen Hauses, Howard. „Haben sie den Verstand verloren?“

„Mir scheint, als hätte jeder heute den Verstand verloren“, sagte Kurt. „Allerdings haben sie tatsächlich Anspruch auf Befehlsgewalt, auch wenn er verschwindend gering ist.“

„Wie das?“

„Beide Polizeitruppen, sowie ein Dutzend weitere aus benachbarten Staaten, werden regelmäßig als Hilfskräfte nach Washington, D.C. beordert, um zum Beispiel Sicherheitskräfte für den Amtsantritt des Präsidenten alle vier Jahre zu stellen. Sie behaupten, dass sie das zu dauerhaften Abgeordneten macht.“

Howard schüttelte seinen Kopf. „Das wird vor Gericht niemals standhalten. Einfach lächerlich.“

Kurt hob seine Hände, als hätte Howard eine Waffe auf ihn gerichtet. „Ob es standhalten wird oder nicht, sie sind auf dem Weg. Scheinbar glauben sie, dass sie hier einfach reinspazieren, Susan mitnehmen und wieder davonziehen könnten.“

Lange Zeit sagte niemand etwas. Die Stille war ohrenbetäubend, während sie sich gegenseitig ansahen.

„Sie werden in 30 Minuten hier sein“, sagte Kurt.

Der Kandidat

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