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KAPITEL DREI
Оглавление08:03 Uhr Eastern Standard Time
Das Oval Office
Das Weiße Haus, Washington, D.C.
„Dieser Bastard“, sagte jemand im Zimmer. „Er hat sie gestohlen, ganz einfach.“
Susan Hopkins stand in der Mitte des Oval Office und starrte auf den großen Flachbildschirm an der Wand. Sie war wie betäubt, als hätte sie einen Schock erlitten. Auch wenn sie konzentriert zuschaute, hatte sie Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen. Es war einfach zu viel, um es verarbeiten zu können.
Sie war sich ihrer Kleidung nur zu bewusst. Ein dunkelblauer Anzug und eine weiße Bluse. Sie fühlte sich unwohl. Vor langer Zeit hatte er ihr wie angegossen gepasst – es war ein Maßanzug – aber heute war ihr klar, dass sich ihr Körper verändert hatte. Der Anzug saß nicht mehr. Die Schultern des Jacketts waren zu lose, die Hose zu eng. Ihre BH-Träger schnitten unangenehm in ihren Rücken.
Zu viele Mitternachtssnacks. Zu wenig Schlaf. Zu wenig Sport.
Sie seufzte tief. Ihre Arbeit würde sie noch ins Grab bringen.
Zur gleichen Zeit gestern, kurz nachdem die Wahlbüros geöffnet hatten, war sie eine der ersten Personen in den Vereinigten Staaten gewesen, die ihre Stimme abgegeben hatten. Sie war mit einem breiten Lächeln auf den Lippen aus der Kabine gekommen und hatte ihre Faust gen Himmel gereckt – ein Bild, das zahlreiche TV-Kameras und Fotografen eingefangen hatten. Sie war voller Optimismus auf den Wahltag zugegangen und die Umfragen hatten mehr als 60 Prozent für sie vorhergesagt – ein überwältigender Sieg.
Und jetzt das.
Während sie zuschaute, erklomm ihr Gegner, Jefferson Monroe, das Podium in seinem Hauptquartier in Wheeling, West Virginia. Auch wenn es erst acht Uhr morgens war, war eine Menge Mitarbeiter und Förderer noch da. Überall wo die Kameras hinzeigten, waren große rot-blau-weiße Abraham Lincoln-Hüte zu sehen – sie waren zu so etwas wie einem Markenzeichen für Monroes Kampagne geworden. Sie und die aggressiven Schilder, auf denen der Kriegsschrei seiner Kampagne stand: AMERIKA GEHÖRT UNS!
Uns? Was sollte das überhaupt bedeuten? Im Gegensatz zu wem? Wem sonst sollte es gehören?
Aus dem Zusammenhang schien es klar: Den Minderheiten, nicht-Christen, Homosexuellen… was einem nur einfiel. Außerdem war es klar, an wen es insbesondere gerichtet war – an chinesische Einwanderer und chinesisch-stämmige Amerikaner. Erst vor ein paar Wochen hatte die chinesische Regierung damit gedroht, amerikanische Schulden zurückzufordern und damit einen Staatsbankrott auszulösen. Diese Tatsache hatte es Monroe ermöglicht, die Angst vor den Chinesen in den letzten Tagen vor der Wahl besonders zu schüren. Monroe kam diese Angst zugute. Laut ihm war jeder Einwanderer ein Geheimagent für die imperialistischen Absichten der Regierung in Peking, oder für chinesische Oligarchen, die amerikanische Immobilien und Unternehmen aufkauften. Laut ihm musste man mit eiserner Faust handeln, damit die Chinesen Amerika nicht übernahmen.
Und seine Anhänger glaubten ihm nur zu gern.
Jefferson Monroes Erzfeinde, und damit die Erzfeinde seiner Anhänger, waren die Chinesen. Die Chinesen waren Amerikas große Nemesis und das blauäugige ehemalige Model im Weißen Haus war entweder zu dumm, das zu erkennen, oder sie war selbst von den Chinesen eingekauft worden.
Monroe blickte mit seinen tiefliegenden stahlblauen Augen über die Menge. Er war 74 Jahre alt, hatte weiße Haare und ein Gesicht, das von tiefen Linien gezeichnet war – ein Gesicht, das viel älter schien als es war. Wenn man allein nach dem Gesicht ging, könnte man ihn auf 100 schätzen, oder auf 1000. Aber er war groß und stand aufrecht da. Er schlief nur drei bis vier Stunden pro Nacht und schien auch nicht mehr zu brauchen.
Er trug ein frisch gebügeltes Anzughemd ohne Krawatte, dessen Kragen weit offenstand – eines seiner Markenzeichen. Er war ein Milliardär, oder zumindest fast, aber natürlich war er ein Mann des einfachen Volkes. Ein Mann, der sich aus dem Nichts hochgearbeitet hatte. Er kam aus armen Verhältnissen aus den Bergen von West Virginia. Ein Mann, der, trotz seines neuen Reichtums, sein ganzes Leben lang die Reichen und Schönen verabscheut hatte. Ein Mann, der nichts mehr verabscheute als die Liberalen, insbesondere aus dem Nordosten, insbesondere aus New York. Er würde es sich nicht bieten lassen, für die Jungs aus Washington, D.C. in einen extravaganten Anzug mit Krawatte gesteckt zu werden. Praktischerweise überspielte er die Tatsache, dass er selbst zu Washington, D.C. gehörte. Seit 24 Jahren war er bereits im Senat tätig.
Susan schätzte, dass zumindest ein Kern an Wahrheit in seinem öffentlichen Bild steckte. Er kam tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen in Appalachia – so viel war bekannt. Und er hatte sich von dort aus hochgearbeitet. Aber er war alles andere als ein Mann des Volkes. Um dorthin zu kommen, wo er heute war, hatte er sich schon früh mit zwielichtigen Gestalten angefreundet. Als junger Mann war er ein Schläger für die Pinkerton-Agentur gewesen und hatte Kohlearbeiter mit Schlagstöcken eingeschüchtert. Er hatte seine gesamte frühe Karriere damit verbracht, die Interessen der Kohleindustrie zu vertreten und für weniger Regulierungen gekämpft, weniger Sicherheit am Arbeitsplatz und weniger Arbeiterrechte. Und er war reich für seine Bemühungen belohnt worden.
„Ich habe es euch gesagt“, sagte er ins Mikrofon.
Die Menge explodierte vor lautem Jubel.
Monroe beruhigte sie mit nur einer Handbewegung. „Ich habe euch gesagt, dass wir Amerika zurückerobern werden.“ Der Jubel ging erneut los. „Ihr und ich!“, rief Monroe. „Wir haben es geschafft!“
Die Jubelrufe veränderten sich und verwandelten sich langsam in einen Chor, den Susan nur zu oft gehört hatte. Die Rufe hatten eine seltsame Rhythmik an sich, wie ein Walzer oder eine Art Ruf-und-Antwort Gesang.
„AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS! AMERIKA! GEHÖRT UNS!“
Es ging weiter und weiter. Susan wurde ganz schlecht. Aber wenigstens sangen sie nicht mehr „Schmeißt sie raus!“ – das war eine Zeit lang ebenfalls beliebt gewesen. Das erste Mal, als sie das gehört hatte, hatte sie fast geweint. Sie wusste, dass viele von ihnen wahrscheinlich nur mitgerissen wurden. Aber wenigstens ein paar dieser Verrückten wollten sie vermutlich wirklich hängen sehen, weil sie angeblich eine Verräterin war und mit den Chinesen unter einer Decke steckte. Dieser Gedanke machte ihr schwer zu schaffen.
„Genug mit leeren Fabriken!“, rief Monroe. Er streckte eine Faust triumphant gen Himmel. „Genug mit den unkontrollierten Verbrechen in unseren Städten! Genug mit dem menschlichen Abschaum! Genug mit den chinesischen Verrätern!“
„GENUG!“, antwortete die Menge vereint, ein weiterer ihrer Lieblingsschreie. „GENUG! GENUG! GENUG!“
Kurt Kimball, ausgeruht, aufmerksam, groß und stark wie immer, mit seinem glatt rasierten Kopf, stellte sich vor den Bildschirm und schaltete mit der Fernbedienung den Ton aus.
Es war, als wäre ein Zauberspruch von Susan abgefallen. Plötzlich war sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Sie war zusammen mit Kurt, seiner Beraterin Amy, Kat Lopez, dem Verteidigungsminister Haley Lawrence und ein paar weiteren Personen hier in der Sitzecke des Oval Office. Die Anwesenden waren Susans engste Vertraute.
Marybeth Horning, Susans Vizepräsidentin, war ebenfalls per Videokonferenz zugeschaltet. Nach dem Vorfall am Mount Weather hatten sie die Sicherheitsprotokolle verändert. Marybeth und Susan sollten zu keiner Zeit am selben Ort sein. Was eine Schande war.
Marybeth war Susans Heldin. Die ultraliberale ehemalige Senatorin aus Rhode Island hatte mehr als zwei Jahrzehnte an der Brown University gelehrt. Sie wirkte schüchtern und zerbrechlich mit ihrem grauhaarigen Bob und der runden Großmütterchen-Brille.
Aber in diesem Fall täuschte das Aussehen. Sie war jemand, der sich eifrig für Arbeiter-, Frauenrechte sowie Rechte für Homosexuelle und die Umwelt einsetzte. Aus ihrer Feder stammte die Gesundheitssysteminitiative, die Susans Regierung ins Leben gerufen hatte. Marybeth war gleichzeitig ein bescheidenes Genie, eine Geschichtsgelehrte, sowie eine würdige politische Gegnerin, die sich zu wehren wusste.
Ein weiterer trauriger Fakt war, dass Marybeth in Susans altem Haus, dem Marineobservatorium, lebte. Das Haus war einer von Susans liebsten Orten auf der ganzen Welt. Es wäre schön, wenn sie ab und zu dort vorbeischauen könnte.
„Das ist ein Problem“, sagte Kurt Kimball, während er auf den stummen Fernseher zeigte.
Susan lachte fast laut auf. „Kurt, ich habe schon immer Ihr Talent für Untertreibungen bewundert.“
Jefferson Monroe hatte ein Wahlversprechen abgegeben – ein Versprechen! – dass er an seinem ersten Amtstag den Kongress um eine Kriegserklärung gegen China ersuchen würde. Tatsächlich, und die meisten nahmen ihn nicht ernst, wenn er das sagte, hatte er impliziert, dass der erste Zug des amerikanischen Militärs ein taktischer Nuklearschlag gegen Chinas künstliche Inseln im Südchinesischen Meer sein würde. Er hatte außerdem versprochen, dass er Sicherheitsmauern um die Chinatowns in New York, Boston, San Francisco und Los Angeles errichten würde. Er hatte behauptet, dass er das gleiche von den Kanadiern in Vancouver und Calgary verlangen würde.
Die Kanadier hatten diese Idee natürlich verworfen.
„Das Land ist verrückt geworden“, sagte Kurt. „Und wir erwarten, dass Monroe Sie erneut dazu auffordern wird, eine Abdankungsrede zu halten, Susan.“
Kat Lopez schüttelte ihren Kopf. Als Susans Stabschefin war Kat in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht gewachsen. Sie war außerdem um ungefähr zehn Jahre gealtert. Als sie ihre Arbeit angetreten war, war sie unverhältnismäßig schön und jugendhaft für ihre 37 Jahre gewesen – jetzt sah man ihr ihre 39 Jahre deutlich an. Falten waren auf ihrem Gesicht aufgetaucht, grau hatte sich unter das schwarz ihrer Haare gemischt.
„Damit sollten Sie noch warten, Susan“, sagte sie. „Wir haben Hinweise auf massenweise Wahlunterdrückung in fünf südlichen Staaten. Außerdem gibt es Hinweise auf Manipulierung der Wahlmaschinen in Ohio, Pennsylvania und Michigan. Die Ergebnisse sind noch zu eng, als dass man sie als definitiv betrachten kann – nur weil die Nachrichtensender ihn in vielen Staaten zum Sieger erklärt haben, heißt das nicht, dass wir das auch tun müssen. Wir können dafür sorgen, dass sich diese Sache noch Wochen, wenn nicht Monate, hinzieht.“
„Und damit eine Präsidentschaftskrise auslösen“, sagte Kurt.
„Das können wir durchstehen“, sagte Kat. „Wir haben schon schlimmeres überlebt. Die Amtseinführung ist erst am 20. Januar. Wenn es so lange dauert, dann ist es halt so. Wir haben Zeit. Wenn es tatsächlich Betrug gab, werden unsere Analysten ihn entdecken. Wenn es Wahlunterdrückung gibt, wie wir vermuten, werden wir klagen. In der Zwischenzeit sind wir immer noch die Regierung.“
„Ich stimme Kat zu“, schaltete sich Marybeth per Monitor ein. „Ich sage wir kämpfen bis zum Schluss.“
Susan blickte zu Haley Lawrence. Er war groß und schwer und hatte ungepflegte blonde Haare. Sein Anzug war so voller Falten, als hätte er in ihm geschlafen. Er sah aus, als wäre er erst vor zehn Minuten aus einem Alptraum erwacht. Abgesehen von ihrer ähnlichen Größe war er das genaue Gegenteil von Kurt Kimball.
„Haley, Sie sind der einzige Republikaner in diesem Raum“, sagte Susan. „Monroe gehört zu Ihrer Partei. Ich möchte hören, was Sie denken, bevor ich eine Entscheidung treffe.“
Lawrence nahm sich Zeit, bevor er antwortete. „Ich würde nicht sagen, dass Jefferson Monroe wirklich ein Republikaner ist. Seine Ideen sind viel radikaler als konservativ. Er umgibt sich mit wütenden und nachtragenden Menschen. Er ist eine Gefahr für den Weltfrieden, unsere soziale Ordnung und die Ideale, auf denen unser Land basiert.“
Haley atmete tief ein. „Ich würde es hassen mit ansehen zu müssen, wie er und seine Leute das Oval Office und diese Gebäude besetzen, selbst wenn es sich herausstellt, dass er tatsächlich gewonnen hat. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich ihm so lange es geht in den Weg stellen.“
Susan nickte. Das war, was sie hören wollte. Es war Zeit, in den Kampf zu ziehen. „Okay. Ich werde nicht abdanken. Wir gehen nirgendwo hin.“
Kurt Kimball hob seine Hand. „Susan, ich mache bei allem mit, was Sie für richtig halten, so lange Sie sich der Konsequenzen bewusst sind.“
„Die da wären?“
Er begann sie an seiner Hand abzuzählen, in keiner bestimmten Reihenfolge.
„Indem Sie nicht freiwillig abdanken, brechen Sie mit einer zweihundert Jahre alten Tradition. Man wird Sie eine Verräterin nennen, eine Thronräuberin, eine Möchtegern-Diktatorin und vielleicht Schlimmeres. Sie werden das Gesetz brechen und könnten angeklagt werden. Wenn sich herausstellt, dass die Wahl nicht manipuliert wurde, werden Sie eitel und töricht erscheinen. Sie könnten Ihren Eintrag in den Geschichtsbüchern der Zukunft ruinieren – im Moment noch ist Ihr Vermächtnis lupenrein.“
Jetzt hob Susan ihre Hand.
„Kurt, mir sind die Konsequenzen klar“, sagte sie und seufzte ausgiebig.
„Und ich sage, wir machen weiter.“