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KAPITEL NEUN
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Ocean City, Maryland
„Wie sehe ich denn aus…“, sagte Luke laut zu sich selbst.
Er stand in einem Aufzug, der mit Teppich ausgekleidet und von Glaswänden umgeben war. Eine lange Doppelreihe an Knöpfen befand sich auf der Metallverkleidung an der Wand. Er blickte sein Spiegelbild in dem gewölbten Sicherheitsspiegel in der oberen Ecke an. Es war verzerrt und merkwürdig, wie in einem Spiegelkabinett, ganz anders als die Reflektion auf der Glaswand. Der normale Spiegel zeigte einen großen Mann Anfang 50, sehr durchtrainiert, mit Krähenfüßen, die sich langsam um seine Augen bildeten und Spuren von Grau, die sich durch seine blonden Haare zogen. Seine Augen sahen uralt aus.
Während er sich betrachtete, konnte er plötzlich eine Vision von sich selbst als alter Mann sehen, einsam und verängstigt. Er war ganz allein auf dieser Welt – einsamer, als er jemals zuvor gewesen war. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Seine Frau war tot. Seine Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr da. Sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Es gab niemanden in seinem Leben.
Vor kurzem, im Auto, kurz bevor er in den Aufzug getreten war, hatte er Gunners alte Telefonnummer herausgesucht. Er war sich sicher, dass er immer noch die gleiche Nummer hatte. Der Junge hätte sie selbst behalten, nachdem er zu seinen Großeltern gezogen und ein neues Handy bekommen hätte. Luke war sich sicher – Gunner hätte sie behalten, weil er wollte, dass sein Vater ihn kontaktieren konnte.
Luke hatte eine kurze Nachricht an die alte Nummer geschickt.
Gunner, ich hab‘ dich lieb.
Dann hatte er gewartet. Und gewartet. Nichts. Die Nachricht war in den Äther geschickt worden und er hatte keine Antwort erhalten. Luke wusste nicht einmal, ob es tatsächlich die richtige Nummer gewesen war.
Wie konnte es nur so weit kommen?
Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufzugtüren öffneten sich und er stand im Foyer des Apartments. Es gab keinen Flur. Keine anderen Türen außer der Doppeltür, die sich vor ihm befand, waren zu sehen.
Die Tür öffnete sich und Mark Swann stand vor ihm.
Luke sah ihn an. Groß und dünn, langes, sandfarbenes Haar und eine runde John Lennon Brille. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er war in den letzten zwei Jahren ganz schön gealtert. Er sah schwerer aus als vorher. Sein Bauch, sein Gesicht und sein Hals sahen dicker aus. Sein T-Shirt trug den Schriftzug SEX PISTOLS in Buchstaben, die aussahen, als hätte jemand einen Erpresserbrief mit ihnen geschrieben. Er trug blaue Jeans und gelb-schwarz karierte Sneakers.
Swann lächelte, aber Luke konnte leicht sehen, dass es ein erzwungenes Lächeln war. Swann war nicht besonders froh, ihn zu sehen. Er sah aus, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen.
„Luke Stone“, sagte er. „Komm rein.“
Luke erinnerte sich an die Wohnung. Sie war groß und hypermodern. Sie war zweistöckig und offen, die Decke hing sechs Meter über ihnen. Eine Wendeltreppe führte in den zweiten Stock, wo sich ein Wohnzimmer mit einer großen weißen Couch befand. Beim letzten Mal, als er hier gewesen war, hing ein abstraktes Gemälde hinter dieser Couch – verrückte, wütende rote und schwarze Farbflecken, die auf einer 1,50 Meter großen Leinwand verteilt waren – Luke konnte sich nicht ganz erinnern, wie genau es ausgesehen hatte. Wie dem auch sei, es war jetzt verschwunden.
Die beiden Männer gaben sich die Hand und umarmten sich ein wenig unbeholfen.
„Albert Helu?“, sagte Luke und verwendete Swanns Decknamen, auf den er das Apartment ausgestellt hatte.
Swann zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst. Du kannst mich Al nennen. Jeder hier nennt mich so. Möchtest du ein Bier?“
„Gerne. Danke.“
Swann verschwand durch die Tür in die Küche.
Rechts von Luke war Swanns Kommandozentrale. Dort hatte sich nur wenig verändert. Eine Glaspartition trennte sie vom Rest der Wohnung ab. Ein großer schwarzer Ledersessel stand an einem Schreibtisch, unter dem ein Haufen Festplatten zu sehen war. Drei Flachbildschirme standen auf ihm und Kabel wanden sich auf dem Boden wie Schlangen.
An der Wand am anderen Ende, gegenüber vom Sofa, hing ein großer Fernseher, der vielleicht halb so groß wie eine Kinoleinwand war. Er war stummgeschaltet. Auf dem Bildschirm waren etwa ein Dutzend Polizeiwagen zu sehen, die in einer Straße standen und dessen Sirenen wild am blinken waren. 50 Polizisten standen in einer Reihe. Gelbes Polizeiband war an verschiedensten Orten zu sehen. Eine riesige Menschenmenge stand hinter dem Band.
LIVE war als Schriftzug am unteren Rand zu sehen. CHINATOWN, NEW YORK CITY
Swann kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Auf einmal wusste Luke instinktiv, warum Swann zugenommen hatte. Er verbrachte viel Zeit damit, Bier zu trinken.
Swann zeigte auf den Fernseher. „Hast du davon gehört?“, fragte er.
Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist passiert?“
„Vor vielleicht 45 Minuten haben ein paar Neonazis sowas wie einen Marsch quer durch Chinatown in New York City veranstaltet. Gathering Storm, schon mal von ihnen gehört?“
„Swann, ich habe die letzten zwei Jahre fast ausschließlich in Zelten verbracht.“
„Dann wohl nicht. Naja, sie sind jedenfalls offiziell eine gemeinnützige Einrichtung, die sich dem Erhalt und der Verbreitung kultureller… wie soll ich es sagen? Weißheit gewidmet haben, schätze ich. Amerikanischer Europa-ismus? Du weißt schon. Sie wollen Amerika sicherer für die Weißen machen. Jefferson Monroe ist ihr Hauptunterstützer – sie sind quasi seine moderne Version der Braunhemden. Es gibt wahrscheinlich ein halbes Dutzend Gruppen wie sie, aber ich glaube sie sind die größten.“
„Was ist passiert?“
Swann zuckte mit den Achseln. „Na was schon? Sie haben angefangen, Leute auf der Straße zusammenzuschlagen. Du solltest sie mal sehen. Sie sind ein einziger Schlägertrupp. Große Typen. Sie haben die Leute nur so durch die Gegend geworfen. Ein paar Einwohner haben sich das nicht gefallen lassen. Sie haben auf die Nazis gefeuert. Ein paar von ihnen wurden erschossen, fünf Tote heißt es aktuell. Die Schützen sind noch nicht gefasst. Die Situation entwickelt sich noch, sagen sie.“
„Die Opfer waren alles Nazis?“, fragte Luke.
„Sieht so aus.“
Luke zuckte mit den Achseln. „Naja…“
„Ja. Kein großer Verlust.“
Luke blickte vom Fernseher weg. Er hatte Schwierigkeiten, zu fassen, was gerade vor sich ging. Susan Hopkins glaubte, dass die Wahl gestohlen worden war. Ihr Gegner, der neue Präsident, unterstützte Neonazigruppierungen, die gerade einen Mini-Rassenkrieg in New York City ausgelöst hatten. War es so, wie es in Amerika jetzt aussah? Wann hatte sich alles so verändert? Scheinbar war Luke tatsächlich eine lange Zeit weggewesen.
„Was hast du so in der Zwischenzeit getrieben, Swann?“
Swann saß auf der großen weißen Couch. Er zeigte auf einen Stuhl, der gegenüber von ihm stand. Luke setzte sich. Das hatte gleichzeitig den glorreichen Vorteil, dass er nicht mehr auf den Fernseher blicken musste. Von hier aus konnte er die verdunkelten Glastüren sehen, die auf Swanns Balkon führten. Vom Whirlpool aus strahlte ein blassblaues Neonlicht hinein. Ansonsten war es draußen fast stockdunkel. Vor langer Zeit einmal hatte Luke auf diesem Balkon geschlafen. Er wusste, dass man tagsüber eine herrliche Aussicht auf den Atlantik hatte.
„Nicht viel“, sagte Swann. „Eigentlich nichts, um ehrlich zu sein.“
„Nichts?“
Swann schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Schau dich um. Ich bin dauerhaft krankgeschrieben. Als wir aus Syrien zurückgekommen sind, konnte ich… einfach nicht mehr zur Arbeit. Ich habe es ein paar Mal versucht. Aber im Geheimdienst ist es ganz schön hart. Mir hatte es nie etwas ausgemacht, wenn andere Menschen verletzt wurden. Aber nach Syrien? Ich hatte Panikattacken. Die abgetrennten Köpfe, weißt du? Eine Zeit lang habe ich sie ständig vor mir gesehen. Es war schlimm. Es war zu viel.“
„Das tut mir leid“, sagte Luke.
„Mir auch. Glaub mir. Und es ist noch nicht vorbei. Ich bin jetzt sowas wie ein Einsiedler. Ich habe meine alte Wohnung in D.C. noch, aber ich lebe hauptsächlich hier. Hier ist es sicher. Hier kann niemand rein, wenn ich es nicht zulasse.“
Stone dachte einen Augenblick darüber nach, sagte aber nichts. Swann hatte wohl größtenteils recht. Die meisten Menschen könnten hier nicht eindringen. Ehrliche Kleinverbrecher. Nette Menschen. Aber die Profis? Auftragsmörder? Spezialeinheiten? Die hätten kein Problem, hier einzusteigen.
„Ich gehe kaum raus“, sagte Swann. „Ich bestelle mein Essen im Internet. Ich lasse den Lieferjungen von hier aus rein und schaue per Kamera zu, wie er aus dem Aufzug kommt. Ich lasse ihm Trinkgeld im Flur, er stellt die Lieferung ab und ich schaue zu, wie er wieder runterfährt. Dann gehe ich raus und hole mein Essen. Ich weiß, dass es ein bisschen lächerlich ist.“
Luke sagte nichts. Es war traurig, was aus Swann geworden war, aber er würde es nicht lächerlich nennen. So etwas passierte nun mal. Vielleicht konnte er Swann dabei helfen, zurück in die echte Welt zu kommen, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, es würde eine Menge Arbeit bedeuten und eine Menge Zeit. Und Swann müsste es selbst wollen. Manchmal verheilten psychologische Traumata wie das, was er durchgemacht hatte, niemals wirklich. Swann war ein Gefangener von ISIS gewesen. Wenn Luke und Ed Newsam nicht gewesen wären, hätte man ihn geköpft. Er war geschlagen worden und man hatte ihm vorgegaukelt, dass seine Hinrichtung bevorstand.
Stille machte sich zwischen ihnen breit, aber es fühlte sich nicht unangenehm an.
„Für eine Zeit lang habe ich dir die Schuld dafür gegeben, was mir passiert ist.“
„Okay“, sagte Luke. Wenn das Swanns Meinung war, wollte er ihm sie nicht absprechen. Aber Swann hatte sich freiwillig für die Mission gemeldet und Luke und Ed hatten ihr Leben riskiert, um ihn zu retten.
„Ich weiß, dass es keinen Sinn macht und ich glaube das auch nicht mehr, aber es hat monatelange Therapie gebraucht, bis ich das eingesehen habe. Du und Ed, ihr habt diese merkwürdige Aura. Als wärt ihr Superhelden. Selbst wenn ihr verletzt werdet, wirkt es nicht so, als wenn es euch wehtut. Wenn man euch zu nahesteht, fängt man selbst an zu glauben, dass man unbesiegbar ist. Aber das stimmt nicht. Normale Menschen werden verletzt und sterben manchmal.“
„Gehst du immer noch zur Therapie?“
Swann nickte. „Zwei Mal die Woche. Ich habe jemanden gefunden, der per Videokonferenz mit mir spricht. Er ist in seinem Büro, ich bin hier. Ist ziemlich gut.“
„Was sagt er dir so?“
Swann lächelte. „Er hat gesagt: ‚Was auch immer Sie tun, kaufen Sie keine Waffe.‘ Ich habe ihm gesagt, dass ich im 28. Stock lebe und einen Balkon habe. Ich brauche keine Waffe. Ich kann jederzeit sterben, wenn ich wollte.“
Luke entschied sich, das Thema zu wechseln. Darüber zu reden, auf welche Arten Swann Selbstmord begehen konnte… war nicht besonders angenehm.
„Triffst du dich manchmal mit Ed?“
Swann zuckte mit den Schultern. „Schon länger nicht. Er ist mit seiner Arbeit beschäftigt. Er ist Kommandant eines Geiselrettungsteams. Er ist viel im Ausland. Es gab eine Zeit, in der wir uns öfter getroffen haben. Er ist immer noch der Alte.“
„Wie stehst du zu einem neuen Job?“, fragte Luke.
„Ich weiß nicht“, sagte Swann. „Ich schätze das kommt darauf an, worum es sich handelt. Was ihr braucht, was ich tun müsste. Außerdem will ich das Geld nicht riskieren, das ich vom meiner Arbeitsunfähigkeitsversicherung bekomme. Bezahlt ihr unter der Hand?“
„Ich arbeite für die Präsidentin“, sagte Luke. „Susan Hopkins.“
„Wie niedlich. Wofür braucht sie dich?“
„Sie glaubt, dass die Wahl gestohlen wurde.“
Swann nickte. „Das habe ich auch schon gehört. Die Nachrichten überschlagen sich momentan, aber an der Sache könnte was dran sein. Sie will ihr Amt nicht abtreten. Also, wie passt du in das Bild? Und noch wichtiger, wie würde ich da reinpassen?“
„Naja, sie wird wahrscheinlich jemanden brauchen, der Infos für uns sammelt. Ich schätze, sie will ihrem Gegner irgendwelchen Dreck anhängen. Ich habe noch keine genauen Details.“
„Kann ich von hier aus arbeiten?“, fragte Swann.
„Ich schätze schon. Warum nicht?“
Luke hielt kurz inne. „Aber um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen besorgt. Du bist anders als früher. Das weißt du selbst. Ich würde erst sichergehen wollen, dass du immer noch das Zeug dazu hast.“
Swann schien unbeeindruckt. „Teste mich wie auch immer du es für richtig hältst. Ich bin Tag und Nacht hier, Luke. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit mache? Ich hacke. Ich bin nicht eingerostet, ich habe sogar einige neue Tricks auf Lager. Ich bin so gut wie vielleicht noch nie. Und so lange ich nicht raus muss…“
Jetzt hielt Swann einen Moment inne. Er starrte auf das Bier, das er in der Hand hatte. Dann sah er Luke direkt in die Augen. Er sah ernst aus.
„Ich hasse Nazis“, sagte er.