Читать книгу Marseille.73 - Dominique Manotti - Страница 13

Оглавление

Sonntag, 26. August

Le Quotidien de Marseille

Über die gesamte Titelseite:

Blutbad im Bus

14:30 Uhr, Rocade du Jarret: In einem Anfall von Wahnsinn schneidet ein Mann dem Busfahrer am Steuer die Kehle durch und verletzt vier Fahrgäste mit Messerstichen. Nach kurzem Handgemenge wird er von mehreren Zeugen überwältigt, darunter der ehemalige französische Boxmeister Gratien Lamperti. Wie es heißt, hat der Busfahrer seinen Angreifer lediglich aufgefordert, seine Fahrkarte zu entwerten.

Foto des Unglücksbusses.

Sehr heftige Reaktionen von den Beschäftigten der Marseiller Verkehrsbetriebe. Arbeitsniederlegungen seit gestern. Heute Generalstreik.

Fotos von Opfer und Mörder.

Über die gesamte letzte Seite:

Tragödie im 72er

Es ist 14:30 Uhr, Émile Guerlache, 49, vier Kinder, lenkt seinen Bus 439EV13 der Linie 72 von der Place Bougainville zur Strandpromenade. An der Haltestelle Jarret-Mayer steigt Salah Bougrine zu, stempelt seinen Fahrschein ab, setzt sich. Der Bus fährt an. Bougrine zieht ein großes Messer aus der Tasche, nähert sich dem Fahrer von hinten und schneidet ihm mit einem einzigen Schnitt die Kehle durch. Das Blut spritzt auf die Windschutzscheibe, der Fahrer bricht zusammen, Bougrine stürzt sich auf den Körper. Im Bus bricht Panik aus. Die Fahrgäste springen auf, drängeln durcheinander, der Bus fährt führerlos weiter, der Algerier sticht wahllos auf die Mitfahrenden ein, der Boden ist glitschig vor Blut, der Bus prallt gegen den Mittelstreifen und kippt halb auf die Seite, die Türen verklemmen sich, die Fahrgäste fallen übereinander. Ein vorbeikommender Autofahrer, Ex-Boxmeister Gratien Lamperti, hält an, bewaffnet sich mit einer Handkurbel, schafft es in den Bus und schlägt Bougrine nieder. Das Bezirkskommissariat und die Sûreté-Einheit zur Bekämpfung der Bandenkriminalität treffen am Tatort ein und übernehmen den bewusstlosen Täter. Er wird ins Krankenhaus Hôtel-Dieu gebracht. Bougrine hatte 2500 Francs bei sich. Was er in Marseille zu tun hatte, ist nicht bekannt.

Das Opéra-Viertel im Zentrum von Marseille, Heimat der Bars, Nachtclubs und Prostituierten, ist ausgestorben, alles geschlossen. Es ist noch zu früh. Nur Le Foudre hat geöffnet, die Bar der Familie Pereira, eine Flucht von engen, dunklen Räumen, die Ausstattung ganz in Holz, pseudorustikal, und allenthalben Porträts des portugiesischen Diktators Salazar. Die Familie Pereira hat aus ihren Anschauungen nie einen Hehl gemacht. Diskrete Kollaborateure während der deutschen Besatzung, dann in den Sechzigern entschieden pro Französisch-Algerien und antigaullistisch.

Der Sohn, Dario Pereira, hat bei einem Mord und Attentaten der OAS in der Region wiederum diskrete, aber hochgeschätzte Hilfe geleistet. Man hat nie etwas beweisen können, pflegt er zu sagen, trotzdem zog er es vor, vier Jahre nach Portugal ins Exil zu gehen, und kehrte nach der Amnestie von 1968 zurück. Heute dient sein Café-Bar-Restaurant als Treffpunkt der Pied-Noir-Bewegung, die hier bis zum Rausch Nostalgie und Anisette Cristal tankt. Die Mutter kocht – sehr gut – für den engsten Kreis, und der Sohn stockt seine Einkünfte mit einer kleinen Sicherheitsfirma auf, deren Dienste Bürgermeister Gaston Defferre systematisch nutzt.

Heute Morgen sind Pereiras Vertraute spontan schon zu frühester Stunde gekommen, um Neuigkeiten zu erfahren. Ein Dutzend Männer drängen sich um drei Tische, und Mutter Pereira serviert ihnen ein reichliches Frühstück. Es wird heftig diskutiert.

»Die Situation ist ideal … Wir müssen die Gelegenheit mit beiden Händen beim Schopf packen … Vor uns eröffnet sich ein Boulevard, da müssen wir reindrängen …«

»Und konkret, was machen wir?«

Pereira schlägt vor, dem Beispiel von Grasse zu folgen und ein Verteidigungskomitee zu gründen.

»Mit dem Slogan ›Die Sicherheit der Marseiller verteidigen, eine öffentliche Aufgabe, die der Staat nicht mehr zu bewältigen vermag‹, das klingt stark, oder?«

»Ja, klingt gut, aber nicht zu vergessen: ›Stoppt die wilde Einwanderung‹, das hatten sie in Grasse auch, der Bougrine passt gut zum Bild eines illegalen Einwanderers.«

»Im Büro vom Front National gibt es einen Vorrat an Ordre-Nouveau-Plakaten mit diesem Slogan, die können wir abholen. Und wo der Ordre Nouveau nach seiner Schlacht gegen die linken Zecken in Paris gerade verboten wurde, müssen wir nur die Signatur unten am Plakat abschneiden, das geht mit einer Papierschneidemaschine.«

Der Vorschlag stößt auf allgemeine Zustimmung. Einer der Männer erklärt sich bereit, die Plakate zu organisieren, Pereira wird wegen der Schneidemaschine eine Druckerei auftreiben. Und mobilisiert fürs Plakatekleben seine Sicherheitsfirma.

»Das sind Spezialisten. Morgen ist die ganze Stadt tapeziert.«

»Und wir rufen zu einer Demo auf. Wir kontaktieren alle befreundeten Organisationen und die Presse. Das wird unser Komitee zum Leben erwecken. Ich kümmere mich um das Kommuniqué und die Kontakte.«

»Wann soll die Demo stattfinden? Die Beerdigung von Guerlache ist am Dienstag, es darf nicht auf ihre Kosten gehen.«

»Am Tag drauf? Mittwoch, der 29.? Bis wir uns organisiert haben …« Angenommen.

An diesem Punkt der Diskussion kommt Madame Pereira, die auf dem Markt ihren Tageseinkauf erledigt hat, mit den Zeitungen zurück. Le Quotidien de Marseille und Le Méridio­nal. Die Männer stürzen sich auf den Méridional, ihre persönliche Tageszeitung. Pereira liest ein paar Passagen aus dem Leitartikel von Chefredakteur Gabriel Domenech vor.

»Genug! Genug! Genug!« »Natürlich wird man uns sagen, der Mörder sei geistesgestört, schließlich braucht es eine Erklärung, nicht wahr … Wahnsinn ist keine Entschuldigung … Wir haben genug von den algerischen Dieben, den algerischen Einbrechern, den algerischen Maulhelden, den algerischen Störenfrieden, den algerischen Syphiliskranken, den algerischen Vergewaltigern, den algerischen Irren, den algerischen Mördern. Wir haben genug von dieser wilden Einwanderung, die von der anderen Seite des Mittelmeers den gesamten Abschaum in unser Land bringt … Man muss ein Mittel finden, um sie zu brandmarken und ihnen den Zutritt zu französischem Boden zu verwehren.«

Applaus. Der schreibt verdammt gut, dieser Domenech.

Während der Nacht bedecken sich die Mauern von Marseille mit Schwarzweißplakaten »Stoppt die wilde Einwanderung« und schnell hingesprühten Graffiti in leicht verlaufener schwarzer Farbe: »Marseille hat Angst«. Ohne die Signatur einer Organisation entwickeln diese Slogans eine gefährliche Kraft, der Schrei eines Volkes.

Marseille.73

Подняться наверх