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Montag, 20. August

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Daquin durchquert das Panier-Viertel und steigt in der herrschenden Hitze hinauf zum Évêché. Seine Inspecteurs kommen heute aus dem Urlaub zurück, und der neue Chef der Brigade Criminelle rückt an. Der Betrieb nimmt wieder Fahrt auf. Er läuft schnell und erreicht den Vorplatz der Kathedrale. Das Meer ist da, sich immer gleich, glitzernd in der Sonne, zudringlich. Es hinterlässt einen scharfen Geschmack auf seinen Lippen. Er wendet sich um. Vor ihm die kantige, massige Silhouette des ehemaligen Bischofspalasts, klassische Architektur, die den Neubau verdeckt, einen Kubus aus Beton und Glas, der zur Vergrößerung des Zentralkommissariats errichtet wurde. Die geordnete, klassische Fassade bildet einen auffallenden Kontrast zur Struktur des Innenraums, einem Labyrinth aus endlosen Fluren, Sackgassen, Treppen, die von einem Gebäude ins andere führen, überall fahles Licht, der Geruch nach schmutzigem Staub. Da ist ein untergründiger Gleichklang zwischen der Anlage der Gebäude und der Architektur der Machtnetzwerke, die darin ansässig sind, haufenweise offizielle, halboffizielle, geheime, mafiöse Gestalten, Garanten einer allgegenwärtigen Macht und Überwachung hinter der Fassade von Polizeiapparaten, die beinahe beruhigend, weil althergebracht sind. Zum ersten Mal sieht Daquin den Évêché als kohärentes Universum.

Genug getrödelt, er nimmt einen tiefen Atemzug und betritt das Gebäude.

Die Teamchefs der Brigade Criminelle sitzen um den Besprechungstisch. Commissaire Principal Percheron betritt den Raum. Mitte vierzig, breite Statur, wenn nicht leicht klobig, fleischiges Gesicht, schwarze Augen, schwarzer Bürstenschnitt. Er setzt sich, stellt sich in aller Kürze vor: »Vor meiner Berufung an die Spitze der Marseiller Brigade Criminelle war ich bei der in Montpellier. Wir hatten ein paar gemeinsame Dossiers, bestimmten Fällen werde ich hier wiederbegegnen.«

Dann kommt er zur Sache. »Ich habe eine großartige Woche mit der Führung der Marseiller Kriminalpolizei verbracht, um mich mit den aktuellen Fallakten vertraut zu machen. Seien wir ehrlich miteinander. Ehrlichkeit innerhalb der Abteilung, untereinander, ist ein wesentlicher Grundsatz, und ich werde ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin hier, weil die Brigade Criminelle in der Krise ist. Man muss gar nicht bis zum Frühjahr ’72 zurückgehen mit der Ermordung eines unserer besten Ermittler durch einen immer noch flüchtigen Gangster – die Brigade Criminelle hat gerade das Fiasko im Mordfall Jeremy Cartland in Pélissanne erlebt. Ich will jetzt nicht die ganze Affäre nochmals ausbreiten. Aber ich rufe Ihnen in Erinnerung, wie sie endet: Scotland Yard kreuzt bei uns auf, um die Ermittlung von vorn aufzurollen, unsere Regierung duldet diese Einmischung, und zu guter Letzt spricht die englische Justiz den Cartland-Sohn, unseren mutmaßlichen Täter, frei. Unsere Abteilung wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Wir werden unsere Glaubwürdigkeit wiederherstellen, ich vertraue Ihnen, vertrauen Sie mir.«

Daquin, der Percheron gegenübersitzt, stellt fest, dass der Funke nicht überspringt. Er empfindet keine Wesensverwandtschaft, mehr noch, er verspürt spontan tiefes Misstrauen. Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn ein Chef mit seiner Ehrlichkeit als Kardinaltugend hausieren geht und von seinen Untergebenen Vertrauen einfordert.

Jeder berichtet über den Stand seiner aktuellen Fälle. Dann ergreift Percheron wieder das Wort.

»Vergangene Woche bei unserem Gedankenaustausch hat der Direktor betont, wie wichtig der Susini-Prozess ist, der Anfang 1974 vor dem Schwurgericht von Aix-en-Provence stattfinden soll. Und er hat mich überzeugt. Susini und acht Komplizen sind angeklagt, die Stadt Marseille zwischen 1969 und ’70 mit einer wahren Schwemme schwer bewaffneter Raubüberfälle überflutet zu haben, jedes Mal mit erheblicher Beute. Wir haben in Marseille eine sehr starke Gemeinde von rund einhunderttausend Pieds-Noirs, die Algerien bei Kriegsende, also bereits vor über zehn Jahren, Hals über Kopf verlassen haben und immer noch voll Nostalgie in der Erinnerung leben. Und in dieser Erinnerung spielt Susini eine zentrale Rolle. 1961, gegen Ende des Algerienkrieges, da ist er noch sehr jung, lehnt er es ab, dass Frankreich die algerische Unabhängigkeit anerkennt und damit sein Algerien, Französisch-Algerien, verrät. Er greift zu den Waffen, um es zu verteidigen, gründet mit einigen Gleichgesinnten eine geheime Untergrundorganisation, die OAS, die mit Bombe und Gewehr die Verräter in der französischen Armee und die algerischen Feinde gleichermaßen attackiert. Für die Pieds-Noirs sind sie romantische Helden. Der Algerienkrieg und der Krieg der OAS enden mit einem Blutbad und dem überstürzten Exodus von neun­hunderttausend Europäern, aber die Pieds-Noirs, jedenfalls viele von ihnen, nehmen Susini das nicht übel, sie vergessen das Blut und bewahren die Erinnerung an einen gemeinsamen Traum, eine Art herzliche Verbundenheit, Brüderlichkeit, selbst dann noch, als die OAS in Algerien jede Hoffnung aufgeben muss und ihre Attentate und Morde noch jahrelang auf französischem Boden fortsetzt, diesmal gegen die Regierung, die sie verraten hat. Und der Prozess gegen Susini und seine Bande wird vor den Augen der gesamten Pied-Noir-Gemeinde von Marseille stattfinden. Der Direktor hat recht, wir müssen für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Inspecteur Benoit und Inspecteur Varin waren an der Verfolgung und Verhaftung der Bande beteiligt, sie kennen das Dossier gut, aus erster Hand. Ich schlage vor, dass wir ihnen die Prozessvorbereitung übertragen …«

Einhellige Zustimmung.

»Wir brauchen einen sehr ruhigen Prozess. Keine Ausschreitungen in der Bevölkerung, Zeugen, die ihre Aussagen gut vorbereitet haben, keine Patzer, und deren persönliche Sicherheit gewährleistet ist. Bei Soldaten auf verlorenem Posten weiß man nie … Hier kann man gern noch eine Schippe drauflegen. Und bei alledem die Presse gut pflegen. Ziel ist, dass jeder versteht: Die Helden sind wir, die wir die Gangster verfolgt, allesamt verhaftet und in der Stadt wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt haben, und nicht die Susini-Bande, die ihren Krieg mit einer Serie von bewaffneten Überfällen besiegelt und in Geldgier versinkt. Wir werden Benoit und Varin jede erdenkliche Hilfe angedeihen lassen.«

Meinungsbild, einstimmig angenommen. Percheron macht weiter.

»Noch etwas anderes. Unsere Kollegen von der Regionaldienststelle in Toulon haben uns kontaktiert. Sie überwachen seit einiger Zeit die UFRA … Sind alle im Bilde? Nein? Die ›Vereinigung der französischen Algerienheimkehrer‹, eine Interessenvertretung der Pieds-Noirs, nicht die größte, aber die umtriebigste, mit Sitz im Departement Var und einer ausgeprägten Neigung zur Illegalität. Unseren Kollegen zufolge ist eine bewaffnete Gruppe aus dem UFRA-Umfeld bei einem Notar aufgetaucht und hat mit Waffengewalt die Versteigerung der schuldenhalber beschlagnahmten Habe eines ihrer Mitglieder verhindert. Einen Monat später traten sie erneut in Aktion, um die Zwangsräumung bei einem Pied-Noir-Landwirt zu verhindern, der seine Pacht nicht bezahlt hatte. Unsere Kollegen haben die Gelegenheit genutzt, um ein paar UFRA-Mitglieder wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu verhaften, und während der Hausdurchsuchung bei einem von ihnen haben sie einen kompletten kleinen Chemiebaukasten gefunden, mit dem sich eine recht hübsche Bombe basteln lässt. Im aktuellen Kontext, nach den Ereignissen in Grasse und bei dem angespannten Klima in der Region, fürchten unsere Kollegen, dass es auf die eine oder andere Weise knallt. Der Staatsanwalt von Toulon hat entschieden, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Und die Kollegen haben in den Adressbüchern der verhafteten Personen ein paar Marseiller Adressen gefunden, deshalb bitten sie uns, Verbindung aufzunehmen und Informationen auszutauschen. Ich weiß, dass mein Vorgänger sehr zurückhaltend war, was die Beziehungen zur Dienststelle in Toulon betrifft. Aber mir scheint, dass wir in der aktuellen Situation diese Anfrage nicht über­gehen können. Daquin, ich dachte, Sie und Ihr Team könnten sich um dieses Dossier kümmern. Sie nehmen Kontakt auf und wir schauen zusammen, was sich möglicherweise daraus ergibt.«

Vorschlag akzeptiert.

Als die Sitzung beendet ist, nimmt der Chef Daquin mit in sein Büro und übergibt ihm die Kontaktdaten der Touloner Kollegen, bei denen er sich melden soll. In vertraulichem Ton fügt er hinzu: »Um deutlich zu sein. Wir unterstützen unsere Kollegen in Toulon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, das der dortige Staatsanwalt eröffnet hat, aber bis dato gibt es in Marseille keine Ermittlung. Wir müssen umso vorsichtiger sein, als ich mir habe sagen lassen, dass sich im Dunstkreis der UFRA Kollegen aus unseren Reihen befinden. Ich will keine Konflikte hier im Haus. Außerdem darf man diese UFRA-Leute nicht alle in einen Topf werfen. Gewisse Aktivisten drohen die Spannungen im Zusammenhang mit der Einwanderung aus Nordafrika zu verschärfen, indem sie auf Provokation und Gewalt setzen. Die muss man mäßigen. Andere können uns zukünftig helfen, diese spezielle Bevölkerungsgruppe, die uns bereits eine Menge Probleme bereitet, im Zaum zu halten. Diese Kollegen kennen die Immigranten gut. Ich möchte, dass Sie die Anfrage aus Toulon nutzen, um mir ein genaues Bild der UFRA hier in Marseille zu zeichnen. Wen müssen wir fürchten, auf wen können wir uns möglicherweise stützen. Sie sehen, es ist ganz einfach.«

»Ich sehe es und finde es nicht ganz so einfach, aber wir nehmen das umgehend in Angriff.«

Daquin trifft sich mit seinem Team, den Inspecteurs Grimbert und Delmas, in dem kleinen Büro auf der Etage der Kriminalpolizei, das sie sich zu dritt teilen. Zwei Männer, mit denen er seit seiner Ankunft in Marseille zusammenarbeitet, die er schätzt, denen er vertraut. Zwei sehr unterschiedliche Männer. Grimbert ist fünfunddreißig und hat bereits fünfzehn Jahre Berufserfahrung bei der Marseiller Polizei. Er ist in Malta geboren, das Produkt des unwahrscheinlichen Aufeinandertreffens eines Deutschen auf der Flucht vor dem Nazi-Regime und einer Malteserin. Die Familie kam unmittelbar nach Kriegsende nach Marseille, dann zog der Vater weiter. Grimbert ist also waschechter Marseiller, und seine Kenntnis des Terrains ist für das Überleben des Parisers Daquin unverzichtbar. Delmas, knapp fünfundzwanzig, ist vor sechs Monaten aus dem Südosten gekommen, zeitgleich mit Daquin, und versucht sich ins Metier einzuarbeiten, in die Stadt, das Leben. Das Wieder­sehen nach dem zweiwöchigen Urlaub der Inspecteurs findet bei einem Espresso statt – Daquin hat gleich bei Dienstantritt die Anschaffung eines Espressokochers durchgesetzt – und ist herzlich.

Dann liefert er eine knappe Zusammenfassung der Besprechung. Die UFRA, die laufende Ermittlung in Toulon, die von der Touloner Kriminalpolizei durchgeführten Verhaftungen, mögliche, wahrscheinliche Komplizenschaften hier in Marseille, und nicht zu vergessen die Warnung von Percheron, im Dunstkreis der UFRA gebe es Polizisten aus unseren Reihen, deshalb Vorsicht, bloß keine Wellen.

»Grimbert, Sie müssen mir zwei Dinge erklären. Erstens, warum finde ich unseren neuen Chef nicht sympathisch?«

»Weil Sie einen guten Riecher haben, Commissaire. Percheron, dem bin ich auf seinem vorigen Posten in Montpellier begegnet, das ist eine effiziente und aalglatte Bestie, zu jeder Gewalt und jedem Manöver fähig, um in der Hierarchie aufzusteigen.«

»Also Obacht. Daraus ergibt sich meine zweite Frage. Warum schickt er uns auf diese wacklige Mission zwischen Toulon und Marseille, Beitrag zu einem Ermittlungsverfahren, aber nicht wirklich, folglich ziemlich halsbrecherisch?«

»Weil Sie Pariser sind und weil ich als Schutzpolizist angefangen habe, als Uniformierter bei der Police Urbaine, wo ich immer noch gute Kontakte habe, das weiß er, also misstraut er uns beiden, und wenn wir baden gehen, wäre er darüber nicht weiter traurig. Man muss auch die polizeiinternen Machtkämpfe zwischen Korsen und Pieds-Noirs bedenken, die sind verheerend. Wussten Sie, dass Percheron ein Pied-Noir ist?«

»Nein, woher sollte ich das wissen?«

»Ich schließe die Hypothese nicht aus, dass er uns Informationen über die UFRA sammeln schickt mit dem einzigen Zweck, innerhalb der Vereinigung gezielt Alliierte auszuwählen, um seinen Einfluss im Évêché zu festigen.«

»Verstanden. Machen wir trotzdem unseren Job?«

»Ja, Commissaire. Unsere Kollegen in Toulon haben nicht unrecht, der Algerienkrieg ist hier in der Region nicht zu Ende, das Feuer kann jederzeit wieder ausbrechen, und in Marseille steht es nicht gut. Wir werden unseren Job also so gut wie möglich machen.«

»Delmas?«

»Ich ziehe mit.«

»Sehr gut. Aber wir wollen nichts überstürzen, wir machen die Dinge der Reihe nach und so, dass wir die Kontrolle behalten. Um Fallen zu umgehen. Womit fangen wir an?«

»Wir haben nichts über die Marseiller Zweigstelle der UFRA. Wir müssen uns ein paar Informationen beschaffen, ehe wir die Touloner besuchen, sonst laufen wir Gefahr, dass man uns überfährt oder wir uns lächerlich machen.«

Daquin beauftragt Delmas, alle Informationen über die UFRA-Zweigstelle in Marseille zusammenzutragen, die in diversen Behördenakten, Pressespiegeln und anderweitig verfügbar sind, und dabei auch einen Blick in die Verbrecher­kartei zu werfen. Und Grimbert wird versuchen, die »Polizisten aus unseren Reihen im Dunstkreis der UFRA« zu identifizieren, falls es sie gibt. Da er die Marseiller Polizei gut kennt, ruft er, bevor er in Aktion tritt, den Dicken Marcel an, um eine Verabredung zu treffen. Der Dicke Marcel ist eine Figur, deren Erlaubnis unabdingbar ist, will man sich in den Abteilungen der Police Urbaine bewegen. Er bestellt Grimbert für den nächsten Tag zum Mittagessen bei Étienne, ihrer gemeinsamen Kantine.

Marseille.73

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