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Dienstag, 21. August

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Daquin durchstreift die Gegend um das Vereinslokal der UFRA Marseille, ohne dabei viel zu gewinnen. Das Lokal mit Fensterfront zur Straße besteht aus einem Warteraum und einem Büro. Eine sehr hübsche junge Frau empfängt und berät die wenigen Personen, die kommen, es ist nicht viel los, offenbar macht sie den Bürodienst allein. Um interessante Informationen zu finden, müsste ich wissen, wonach ich suche. Ich komme wieder, wenn es so weit ist.

Grimbert hat sein Gespräch mit dem Dicken Marcel akribisch vorbereitet. Improvisation kommt nicht infrage. Um die Nachforschungen anzustellen, die ihm vorschweben, braucht er des Dicken stillschweigende Zustimmung, und das ist nicht einfach. Der Dicke Marcel hat keine klar definierte Führungsverantwortung, er begnügt sich mit dem Dienstgrad eines Brigadier-Chef mit unbestimmten Funktionen. Er taucht in keinem Organigramm auf, aber im Alltag der Police Urbaine geht nichts an ihm vorbei. Denn der Dicke Marcel kennt ihn weit besser als die amtierende Chefetage. Jeder redet mit ihm über seine Abteilung, seine Arbeit, seine Probleme, sein Leben. Quasioffiziell ruft er seine »Räte« zusammen, bedächtige Leute, womöglich etwas ausgelaugt, also ohne persönliche Ambition, die aus unterschiedlichen Abteilungen kommen und vor allem einer der mächtigen Einflussgruppen angehören, die sich in der Polizei organisiert haben – die Gewerkschaft Force Ouvrière, die Freimaurer, der SAC, die Vereine der Pieds-Noirs … –, und das Vertrauen ihrer Berufskollegen genießen. Er gibt ihnen an Informationen weiter, was zu diskutieren er für zweckdienlich hält, und gemeinsam versuchen sie polizeiinterne Konflikte zu entschärfen, für einen friedlichen Ablauf des Alltags zu sorgen. Ihre Analysen und Vorschläge werden von Marcel an die offiziellen Führungskräfte weitergeleitet, die sie meist aufgreifen und finden, dass sie gut damit fahren. Der Dicke Marcel arbeitet seit fünfzehn Jahren so, und im Großen und Ganzen hat die Marseiller Polizei auf diese Weise einiges überlebt: die Machtergreifung de Gaulles, die viel von einem Staatsstreich hatte; die Schaffung des schlagkräftigen Ordnungsdiensts SAC durch die gaullistische Staatsmacht, der wenig pingelig in seinen Methoden war und die offizielle Polizei unterwanderte; die Aufgabe Algeriens 1962, gefolgt von Attentaten und dem von der OAS geführten Minibürgerkrieg; der Massenzuzug von hunderttausend Repatriierten in der Stadt, darunter viele Polizisten aus der ehemaligen Kolonie, die auf direktem Weg in die Polizei des Mutterlands integriert wurden. Die jüngsten Erschütterungen: Im Mai 1968 beantwortet die gaullistische Staatsmacht die Proteste der Studenten und Arbeiter mit der Amnestierung aller Strafgefangenen der OAS, wahrscheinlich um Verbündete gegen »die linken Chaoten« zu gewinnen, die Gefängnisse leeren sich, viele der Begnadigten, und nicht die geringsten, lassen sich in der Region Marseille nieder. Epidemie von Überfällen, Tiefschläge und Einflusskämpfe innerhalb der Polizei, neue Probleme … Dann, 1969, ist de Gaulle weg, und jetzt wissen alle, dass an der Regierung in Paris Politiker beteiligt sind, die mit Französisch-Algerien und der OAS sympathisieren. Daraufhin leben in Marseille die Spannungen zwischen den korsischen Altmeistern und den Pied-Noir-­Herausforderern, die ihre Stunde für gekommen halten, auf allen Ebenen des Polizeiapparats wieder auf. Und der Dicke Marcel ist sich der Gefahren, die ihn umgeben, sehr wohl bewusst. Deshalb nicht unfroh, über »all das« mit Grimbert zu reden, einem Burschen, den er ganz jung als Schutzpolizist in die Polizei hat eintreten und dann recht schnell aufsteigen sehen. Er hatte ihn schon früh bemerkt und erwogen, ihn zu einem seiner »Räte« zu machen, vielleicht sogar einem Vertrauten. Aber Grimbert hat ihn enttäuscht, als er das interne Auswahlverfahren zum Inspecteur durchlief und zur Kriminalpolizei wechselte. Die Kriminalpolizei, das sind Intelligenzler, keine Bullen. Trotzdem hat Marcel sich eine gewisse Zuneigung für ihn bewahrt, wie für einen brillanten Sohn, der immer nur macht, was er will.

Bei Étienne zwängen sich Grimbert und der Dicke Marcel an einen kleinen Tisch. Marcel wendet dem Raum den Rücken zu, was bedeutet: Nicht stören. Supion für den einen, Fleischbällchen für den anderen, zwei Bier. Kein Vorgeplänkel, die Zeit läuft, Grimbert kommt sofort zum Kern der Sache.

»Mein Team hat von der Kriminalpolizei Toulon einen Wink bekommen, die Kollegen stellen im Umfeld der UFRA die Zunahme von Gewalttaten fest, immer häufiger bewaffnet. Sie fürchten, es könnte sich um eine Art Testlauf für den Aufbau einer gut strukturierten Untergrundorganisation mit terroristischen Aktivitäten handeln. Sie fragen, wie es bei uns aussieht, hier in Marseille und insbesondere bei der Marseiller Polizei.«

»Warum sprichst du mich darauf an? Bildest du dir ein, ich weiß es und verrate es dir?«

»Nein. Aber ich glaube, dass auch du dir Sorgen machst, Marcel. Hinter dieser Art Organisation steckt ein Machtkampf, es geht um die Macht innerhalb der Polizei, deine Macht. Wenn Polizisten sich systematisch an einem mehr oder weniger geheimen Netzwerk außerhalb deiner Kontrolle beteiligen, wirst du irgendwann abserviert, und das weißt du.«

Marcel schweigt, Grimbert sieht ihm beim Denken zu. Dann entschließt er sich zum Reden.

»Was hast du bei der Kriminalpolizei verloren? Du fehlst mir, Grimbert. Was willst du?«

»Ich informiere dich, dass ich herumzuschnüffeln gedenke. Du weißt es und behinderst mich nicht.«

»Und du hältst mich auf dem Laufenden, Schritt für Schritt.«

Grimbert nickt und lächelt.

»Étienne, zwei Espresso.«

Sobald er Marcel verlassen hat, ruft Grimbert seine Frau an.

»Es wäre eine gute Idee, deine Freundin Françoise heute oder morgen zum Abendessen einzuladen, sie hat Ferien, es sollte klappen.«

Mélanie Grimbert ist eine blühende Frau. Sie ist Lehrerin, sie liebt ihren Beruf, sie liebt die zwei hübschen Bengel, die sie mit Grimbert fabriziert hat, sie liebt Grimbert selbst, ein zuverlässiger Mann und mit seiner Arbeit hinreichend ausgelastet, um ihr in der Familie die Schlüsselhoheit zu überlassen. Das ist es durchaus wert, ihm hin und wieder unter die Arme zu greifen, so wie heute Abend. Sie hat die Jungs zum Abendessen und Übernachten zu Freunden geschickt und Françoise eingeladen, ihre Freundin aus Kindertagen, die in der Verwaltung der Marseiller Polizeipräfektur arbeitet und in den Sechzigerjahren damit beauftragt war, die Eingliederung der aus Algerien heimgekehrten Pied-Noir-Polizisten in den Polizeiapparat des Mutterlands zu beaufsichtigen.

Die zwei Frauen schwätzen bei einem Weißwein-Apéritif, Françoise, eine hübsche kraushaarige Brünette im Blümchenkleid, lässt sich mit einem Lächeln auf den Lippen ungeniert die Knabbereien schmecken, Grimbert, im Sofa versunken, Aufmerksamkeit in der Schwebe, gönnt sich einen Whisky.

Man setzt sich zu Tisch. Mélanie bringt eine Daube à la niçoise, der Rinderschmortopf ist ihre Spezialität, und füllt die Teller. Erste Bissen in anerkennendem Schweigen. Dann beginnt Mélanie, die die Szene am Nachmittag mit Grimbert geprobt hat, über ihre Schüler zu sprechen, es läuft recht gut dieses Jahr, aber mit gewissen Eltern haben die Lehrkräfte ihre Schwierigkeiten.

»Funktionäre von Repatriiertenvereinen haben in der Elternvertretung das Ruder übernommen und machen uns mit allem möglichen Blödsinn das Leben schwer, ohne dass wir dahinterkommen, was sie wirklich wollen.« Grimbert hat sich in den aktiven Ruhemodus versetzt. Nicht nötig, Druck zu machen. Françoise wird anbeißen, das weiß er, sie liebt die Erinnerung an jene Jahre. »Sie lassen all ihren echten oder eingebildeten Frust an uns aus, das ist anstrengend.«

»Wir hatten damals auch einige Probleme, weißt du. Wir sind zunächst dem Grundsatz gefolgt, die eingegliederten Polizisten auf alle Abteilungen zu verteilen, um zu verhindern, dass sich homogene Zellen bilden. Aber viele von ihnen haben versucht, über die Schiene Versetzung-Beförderung zueinanderzukommen, zusammen fühlten sie sich wohler, und da gab es manchmal Ärger.«

Grimbert ist jetzt hellwach, Françoise lächelt ihm zu.

»Hast du die Geschichte neulich mitbekommen von diesen zwanzig Pied-Noir-Bullen in Nizza, die die Kontrolle über ein Funkstreifenteam übernommen hatten? Sie verständigten sich auf Arabisch oder Spanisch und klauten aus den Haushalten, zu denen sie gerufen wurden, alles, was nicht niet- und nagelfest war.«

»Ja, gerüchtehalber. In Marseille hat es so was noch nie gegeben.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe von einer Untersuchung gehört, die im Dezernat Interne Ermittlungen heißläuft …«

Grimbert merkt sich das. Tauschobjekt im Handel mit Marcel?

»Wir hatten in meiner Abteilung mehrere Hinweise bekommen, es gab viel Ärger mit einer Gruppe von Pieds-Noirs im Kommissariat des 15. Arrondissements, das war nach meinem Ausscheiden, ich habe nie erfahren, worum es genau ging.«

Grimbert zuckt nicht mit der Wimper, maximale Alarm­bereitschaft. »Da muss ich schon bei der Kriminalpolizei gewesen sein, ich habe auch nie was darüber gehört.«

Dann wendet sich das Gespräch Françoise’ Tochter zu, die so alt ist wie Mélanies Söhne, unerschöpfliches Thema. Grimbert wartet geduldig, dass Françoise auf den Punkt zurückkommt, der ihn interessiert, was sie auch tut, als die Pflaumentarte auf den Tisch kommt.

»Weißt du, Mélanie, man darf nicht alles so schwarzsehen. Eure Scherereien werden sich langfristig erledigen. Ich hatte in meiner Abteilung ein paar echte Erfolge. Man muss den richtigen Hebel finden. Ich hatte einen Schutzpolizisten, der aus Algier kam. Dort hat er ehrenamtlich einen Sportverein für Kollegen geleitet. Nach dem, was er erzählte, hat er sich voll eingebracht, er kannte viele Leute, hatte viele Freunde. Hier war er plötzlich allein, verunsichert, mit Alkohol- und Gewaltproblemen, er hat sogar angefangen, seine Frau zu verprügeln, und um ein Haar wäre er aus dem Dienst entlassen worden. Ich habe mich um ihn gekümmert. Ich fand einen Schießclub, der der Stadt gehörte und aufgegeben worden war. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er ehrenamtlich die Leitung übernimmt. Er war einverstanden, hat den Club neu aufgebaut, ein spektakulärer Erfolg. Jeden Sonntag hat er für seine Freunde ein Abendessen ausgerichtet. Vor meinem Ausscheiden hat er mich zweimal dazu eingeladen. Es war sehr nett. Um die zwanzig Kumpel, Musik, seine Frau und seine Tochter kochten für die ganze Mannschaft Riesengerichte vom Typ Couscous. Genau wie drüben, sagten sie. Es wurde reichlich geredet und getrunken, alles nostalgische Anhänger von Französisch-Algerien, klar, aber diese Momente der Geselligkeit und des Unter-sich-Seins machten sie glücklich. Für meinen Kandidaten war das der Hebel. Er hat sich in sein berufliches Umfeld gut integriert. Man muss dazusagen, dass seine Frau ihm sehr geholfen hat. Sie ist Katholikin und eine fleißige Kirchgängerin, mit der dazugehörigen Opferbereitschaft. Inzwischen ist er Brigadier.«

Pied-Noir, Brigadier … Picon, der Mann, dem er ein-, zweimal begegnet ist, als er noch bei den Uniformierten war, und von dem er später im Zusammenhang mit Marcels Entourage gehört hat?

»Sprichst du von Brigadier Picon?«

»Ja. Kennst du ihn?«

»Nein, bin ihm im Évêché über den Weg gelaufen, mehr nicht.«

Eine Problemgruppe von Pieds-Noirs im 15. Arrondissement, Picon und sein Schießsportverein als möglicher Sammelpunkt, ich habe meinen Abend nicht vergeudet. Danke, Mélanie.

Marseille.73

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