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Die Bustragödie: Mörder 1969 am Kopf operiert

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Offenbar wurde Bougrine 1969 mit einer Axt angegriffen, was eine Schädelöffnung, mehrere Operationen und einen langen Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Diese körperliche Beeinträchtigung könnte bis zu einem gewissen Grad sein geisteskrankes Verhalten im Bus erklären.

Beerdigung um 12 Uhr. Die Verkehrsbeschäftigten: »Wir werden nicht zulassen, dass die Beisetzung unseres Kameraden als Vorwand für politische Demonstrationen dient.«

Auf der letzten Seite:

Presseerklärung des Polizeipräsidenten: »Es wäre bedauerlich, wenn dieser so schlimme Vorfall zur Folge hätte, dass die Öffentlichkeit sich aus berechtigtem Zorn zu Handlungen hinreißen lässt, die ihrer Geschichte nicht würdig sind.«

Bevor er zum Évêché aufbricht, wirft Daquin einen letzten Blick auf den Vieux-Port zu seinen Füßen, das graugrüne, reglose Wasser, die verwaisten Kaianlagen, kein Geräusch, keine Bewegung, das Leben steht still. Die Stadt atmet nicht mehr. In einer Handvoll Stunden wird sie Émile Guerlache zu Grabe tragen, sie wartet, sie stinkt nach Blut.

Als Daquin ins Büro kommt, sind Grimbert und Delmas schon im Aufbruch zur Beerdigung, Beobachtungsmission. Daquin selbst hat bis zum frühen Morgen Bereitschaft im Zentralkommissariat. In Wartestellung …

»Sie verpassen ein grandioses Schauspiel, Chef. Die Marseiller sind Meister in Beerdigungszeremonien.«

»Ehrlich gesagt bin ich nicht böse, dem großen Fest des Todes in seiner Sonnenschein-Aioli-Variante zu entgehen. Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir alles erzählen.«

»Was ich noch sagen wollte: Wenn Sie gleich allein sind, vergessen Sie nicht, einen Blick in Ihre Schreibtischschublade zu werfen. Sie finden dort vier bildhübsche Wanzen, aus dem Nichts aufgetaucht, und das zugehörige Aufzeichnungsgerät.«

»Das lasse ich mir nicht entgehen.«

Während die beiden Inspecteurs schweigend ihre Sachen zusammenpacken und aufräumen, fragt Daquin: »Sagen Sie, Grimbert, ich habe den Leitartikel im Méridional gelesen. Wissen Sie, ob die Zeitung die Waffen gleich mitliefert?«

»Wer weiß. Den Abonnenten vielleicht. Und mit dem Segen des Polizeipräsidenten, dessen Presseerklärung Sie ebenfalls gelesen haben werden. Hübsch, das mit dem ›berechtigten Zorn‹.«

»Gehen Sie los, Sie verpassen noch den Auftakt der Feierlichkeiten, das wäre schade. Aber, Grimbert, sobald es vorbei ist, kommen Sie mir berichten. Ohne Vertun.«

Grimbert zögert eine Sekunde. »Hier oder am Tatort?«

Delmas kreuzt die Finger, um das Unheil abzuwenden.

Guerlache wohnte in La Pauline, einem weitgehend renovierten volkstümlichen Viertel im Marseiller Osten, das sich um seine kleine Kirche drängt, Sainte-Émilie-de-Vialar, ganz neu, unverputzter Beton, hübscher schlanker Kirchturm. Hier findet die religiöse Zeremonie statt, an der die Familie, enge Freunde und ein paar Arbeitskollegen teilnehmen. Der Beginn des Trauerzugs zum Friedhof ist für 14 Uhr angesetzt. Grimbert und Delmas sind früher gekommen, um sich einen Beobachtungsposten zu wählen. Sie stellen sich in den Schatten der großen Platane vor dem Portal und taxieren den Strom der Marseiller, die nach und nach eintreffen, erst den Kirchenvorplatz, dann den daran anschließenden Platz füllen und bald den Boulevard Romain-Rolland überschwemmen. Die Männer – es sind praktisch ausschließlich Männer – sind viel in Bewegung, treffen sich mit Nachbarn, Freunden, Bekannten, es bilden sich Grüppchen, Flugblätter und Zeitungen werden ausgetauscht, man diskutiert, leise aus Respekt für den Toten, aber mit einer unterdrückten Wut, die an den Gesten und Mienen abzulesen ist. Sind sie gekommen, um Guerlache das Geleit zu geben und die letzte Ehre zu erweisen, oder aber wegen des »berechtigten Zorns«, von dem der Polizeipräsident erst heute Morgen gesprochen hat? Niemand weiß es. In der schwülen, stehenden Luft wartet die Menge und schwitzt. Ein stattlicher Ordnungsdienst aus Verkehrsbeschäftigten ganz in Grau, ihrer Arbeitskleidung, geht von Gruppe zu Gruppe und wiederholt unermüdlich: »Wir wollen im Trauerzug keine rassistischen Bekundungen. Die Ermordung unseres Kameraden ist die Tat eines halb irren Einzelnen. Kein Slogan, kein Schild, Stille, Andacht. Ehren Sie den Toten und seine Familie …« Das sind die Kommandos der drei Gewerkschaften, aufmerksam und diszipliniert. Aber die Flugblätter gehen weiter von Hand zu Hand, versteckt vor den Blicken der Männer in Grau. Grimbert ortet einen kompakten Block, der sich abseits hält und einen Mann umringt, den er gut kennt, Pereira. Er rückt näher an Delmas heran.

»Siehst du die Gruppe da? Um den beleibten Mann mit dem sympathischen Gesicht?«

»Ja, sehe ich.«

»Er heißt Pereira. Er war angeklagt, im Auftrag der OAS einen Mord begangen zu haben, 1964 hier in Marseille. Dank einiger Gefälligkeiten seitens der Polizei hat er sich vor seiner Verhaftung nach Portugal verdrückt und wurde in Abwesenheit verurteilt, vier Jahre Exil, nach der Amnestie von ’68 ist er zurückgekommen und hat in aller Ruhe sein Leben wieder aufgenommen, er führt mit seiner Mutter ein Bar-Café … Ich bin fast allen Typen, die da um ihn herumschwirren, schon begegnet, Muskelprotze und Großmäuler.«

In diesem Moment entrollen zwei Männer der Gruppe ein Banner: »CDM – Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille«. Zwei Verkehrsbeschäftigte stürmen hin, leicht hitziger Wortwechsel, das Banner wird wieder zusammengefaltet und weggepackt. Die Gewerkschafter wiederholen in aggressivem Ton: »Kein Slogan, kein Spruchband, Schweigemarsch.«

Grimbert kommentiert: »Heute das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, morgen etwas anderes. Ich habe stark den Eindruck, dass Pereira der Anführer ist … Ich kann nicht näher ran, die kennen mich zu gut nach all der Zeit, in der ich ihnen schon hier und da begegnet bin. Sobald sie mich sehen, machen sie dicht. Du dagegen bist noch nicht lange hier, du hast vielleicht eine Chance. Du richtest es so ein, dass du im Trauerzug direkt vor ihnen gehst, du drehst dich nicht um, aber du lauschst, und wenn möglich, lässt du dich irgendwann unauffällig in die Gruppe zurückfallen. Ich will wissen, worüber sie reden. Und versuch dir auch eins dieser Flugblätter zu beschaffen, die mehr oder weniger diskret im Umlauf sind.«

»Verstanden.«

Delmas gelingt es schnell, sich seinem Ziel zu nähern, aber die Gruppe scheint auf der Hut vor den Unbekannten, die sie unablässig umkreisen, sie streifen und dann verschwinden. Auch sind die Aktivisten, aus denen sie sich zusammensetzt, vorsichtig, sie reden sehr leise miteinander, Delmas versteht kein Wort von dem, was sie besprechen.

Grimbert, immer noch auf der Lauer unter der Platane vor dem Kirchenportal, wird die Zeit lang. Plötzlich läutet im Kirchturm die Totenglocke, der tiefe, zitternde, wiederholte, eindringliche Ton senkt sich auf die schlagartig erstarrte Menge herab. Beginn des Spektakels. Der Leichenwagen nähert sich der Kirche, das Portal öffnet sich, der Sarg kommt aus dem Halbdunkel ins Licht, getragen von sechs Busfahrern, obenauf eine schlichte Uniformmütze. Der Sarg wird in den Leichenwagen geschoben, zwei Busfahrer bedecken ihn im Namen der gesamten Profession mit einem Kranz roter Rosen. Und immer noch das Geläut der Totenglocke. Schöne Inszenierung, ergreifender Moment, Hommage an die Männer des Metiers und ihre Kultur. Nun tritt die Familie näher. Einer der Sargträger übergibt der Witwe die Mütze ihres Mannes, sie presst sie an ihre Brust, fängt an zu weinen. Sie besteigt mit ihren vier Kindern eine schwarze Limousine, die Eltern des Toten eine andere, sie werden auf den vier Kilometern bis zum Friedhof Saint-Pierre dem Leichenwagen folgen. Zwei lange Ketten aus Verkehrsbeschäftigten formieren sich zu beiden Seiten des Trauerzugs, um die Wagen zu flankieren und abzuschirmen, während andere die ersten Reihen des Zuges organisieren: an der Spitze die Bonzen der Marseiller Verkehrsbetriebe, die Gewerkschaftsvertreter, vereinzelt bunte Flecken von Schärpen in den Farben der Trikolore, Behördenvertreter, Fußvolk, der Bürgermeister ist nicht gekommen, klug von ihm, niemand weiß, wie das hier enden wird. Dann ein paar Kollegen von Guerlache, seine Arbeitskameraden vom 72er, die Freunde und Nachbarn. Delmas hat sich in diese Gruppe eingeschleust, perfekt. Direkt hinter ihnen setzt sich das Gros des Trauerzugs in Gang, angeführt vom Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille. Es hat kein Spruchband mehr, aber die Männer gehen in zwei dichten Reihen, Hand in Hand oder untergehakt, sie verlangsamen das Marschtempo, um zwischen der Spitze des Zugs und ihren eigenen Reihen Abstand zu schaffen, und das genügt, um sich abzuheben. Delmas wird etwas Mühe haben, ihre Gespräche zu belauschen. Dicht hinter dem CDM eine große Traube von etwa dreißig Beamten der Police Urbaine. In ihrer Mitte erkennt Grimbert den Dicken Marcel, unvermeidlich, zu seiner Rechten und Linken wie zwei Schutzengel Richard Platel, sein Mann für alles, normal, und Brigadier Picon, auf diese Weise öffentlich ausgestellt als Bindeglied zwischen dem Dicken Marcel und den Interessenvertretungen der Pieds-Noirs. Riskant, Marcel, und sogar gefährlich … Um sie herum die gesamte Riege der einflussreichen Männer der Police Urbaine: Polizisten, die Mitglieder im SAC sind, dem früheren gaullistischen Ordnungsdienst, seit dem Abgang des Generals in heftiger Umstrukturierung begriffen, die Funktio­näre der Gewerkschaft Force Ouvrière Police … Sie waren alle so klug, nicht in Uniform zu kommen.

Der Trauerzug biegt hinter dem Leichenwagen auf den Boulevard Romain-Rolland ein, etwas luftiger, sonnendurchflutet. Die Menge breitet sich aus, füllt den gesamten Boulevard, so weit das Auge reicht, dicht, kompakt, homogen, ganz in Schwarz, Grau und Weiß und ohne Kopfbedeckung. Sie schreitet langsam voran, schweigend, aber an allen Mauern entlang des Boulevards brüllt es von Schwarzweißplakaten: »Stoppt die wilde Einwanderung«. Grimbert erkennt sie wieder, solche Plakate hat er schon im Stadtzentrum gesehen. Hier wird der anonyme Slogan zum Schrei dieser marschierenden schweigenden Menge. Doppelte Schlagkraft. Und dann tauchen hier und da neue Plakate auf, uneinheitlicher, hastiger zusammengebastelt: »Es reicht«, »Marseille hat Angst«, »Unsere Mütter, unsere Frauen, unsere Kinder haben Angst«. Signiert mit CDM, drei Buchstaben, die sich außerdem in endloser Wiederholung mit schwarzer Farbe aufgesprüht finden. Als der Leichenwagen vorüberzieht, bleibt das Volk auf den Gehwegen stehen, ballt sich zusammen, beteiligt sich an der Ehrerweisung, die Männer ziehen den Hut, die Frauen bekreuzigen sich, die starke Betroffenheit ist mit Händen zu greifen.

Der kompakte Block der CDM-Mitglieder fühlt sich in dieser Menge jetzt zu Hause, die Gespräche werden ungezwungener, hörbarer für Delmas. Mehrere aus ihren Reihen fragen den kleinen Dicken mit dem sympathischen Gesicht, wie er es geschafft hat, die Plakate des Komitees so schnell zu produzieren, kaum vierundzwanzig Stunden nach ihrem Beschluss, und von welchem Geld. Er antwortet: »Ich habe mich für das Nächstliegende entschieden. Le Méridional. Eine betriebsbereite Druckerei, ein Chefredakteur mit der richtigen Denke, der uns auch braucht, um seine Pied-Noir-Leserschaft zu behalten, ein nicht so kleinlicher Eigentümer. Ergebnis: Die Druckerei hat die Arbeit gemacht, und die Zeitung hat uns das gesamte Material geschenkt. Das ist wertvoll in diesen Zeiten, in denen das Geld knapp ist.« Ein anderer teilt Pereira seine Unzufriedenheit mit: »Der CDM hatte für morgen zu einer Demo aufgerufen. Kein Flugblatt. Warum? Hast du sie abgesagt? Ziehst du schon den Schwanz ein?« Kaltes Lächeln von Pereira. Schwanz einziehen, das wird er nicht vergessen. »Wir haben erfahren, dass es heftigen Zoff mit der Polizei gibt, wenn wir im Stadtzentrum demonstrieren. Sieh dir die Mauern an, die Menschenmenge, wir sind am Gewinnen, jetzt keinen Zoff.«

Grimbert marschiert mit dem Strom des Trauerzugs an einem Bretterzaun vorüber, hinter dem ein Neubau noch kaum aus dem Boden ragt. Die Baustelle steht still. Die Arbeiter, allesamt maghrebinisch, wurden vom Bauleiter im Keller in Sicherheit gebracht, möglichst weit weg vom Boulevard Romain-Rolland, um »Zwischenfälle« zu vermeiden. Sie warten mit der Wiederaufnahme der Arbeit, bis die letzten Reihen der Menge in der Ferne verschwunden sind. Grimbert findet das Bild erschütternd. Und beschließt, dass er genug hat von den Trauerfeierlichkeiten für Guerlache und dieser ganzen unerträglichen Spannung. Er wird sich direkt zum Friedhof begeben, um dabei zu sein, wenn der Leichenzug sich auflöst. Es sind oft diese Momente, in denen eine Demonstration ihre wahren Ziele preisgibt.

Delmas hingegen läuft weiter in der Sonne, in den letzten Reihen der Führungsgruppe mit Guerlaches Verwandten, Kollegen, Freunden, Nachbarn. Abseits des Totengeläuts und unter dem Einfluss der Hitze kommt die Unterhaltung in Gang. Ein gutaussehender Dreißiger erwähnt, dass er sich am Samstag im Moment des Mordes im 72er befand. Erfolg garantiert. Er lässt sich ein wenig bitten, dann erzählt er.

»Ein Algerier stieg ein, er wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, ich saß nicht weit weg, ich konnte es gut hören, nichts Ernstes, irgendwas wegen eines nicht entwerteten Fahrscheins. Und dann ist er hinter ihn getreten und hat ihm mit einer einzigen Bewegung die Kehle durchgeschnitten. Einfach so. Das Blut spritzt, Guerlache bricht zusammen, alle sind fassungslos, der Bus fährt von allein weiter, können Sie sich das vorstellen?« Die Zuhörer erschauern. »Der Algerier stürzt zu den Fahrgästen, er rempelt mich um, als würde er mich gar nicht sehen, er fuchtelt mit dem bluttriefenden Messer herum, und ich stoße gegen die Leiche von Guerlache, rutsche in der Blutlache aus und falle hin, ich glaube, der Algerier hat Fahrgäste verletzt, ich schaffe es nicht, wieder aufzustehen, der Bus prallt gegen den Mittelstreifen, ein ordentlicher Schlag, die Türen gehen einen Spalt auf, der Bus bekommt Schlagseite, die Leute fallen übereinander. Alle schreien und drängeln, um als Erste nach draußen zu kommen, aber die Türen klemmen, überall ist Blut, die Leute waten darin. Ein ehemaliger Boxer, der an der Unfallstelle vorbeikam …« Er unterbricht sich, betrachtet sein Publikum, selbstzufrieden. »Gratien Lamperti, vielleicht kennen Sie ihn?«

Keine Antwort. Delmas denkt: Er betet auswendig die Zeitungsartikel nach, und es funktioniert.

Der Redner fährt fort. »Er brüllte: ›Lassen Sie mich durch!‹ Er kam irgendwie in den Bus rein, er hatte eine Handkurbel dabei, damit hat er den Algerier bewusstlos geschlagen. Danach, muss ich zugeben, haben wir uns ein bisschen an ihm abreagiert. Und ich war nicht der Letzte, der ihm ein paar Fußtritte verpasst hat. Dann kam die Polizei und hat ihm das Leben gerettet.«

»Schade!«, schreit eine Frau, die sich unter die Männer verirrt hat.

»Es wäre einfacher gewesen, ihn an Ort und Stelle zu erledigen«, ergänzt ein Mann.

»Er hat aber doch einiges abgekriegt. Er liegt immer noch im Koma im Krankenhaus.«

Ende des Berichts. Nach fünf bis zehn Minuten schweigenden Marschierens erklärt jemand im ruhigen Ton einer Tatsachenfeststellung: »Heutzutage gibt es in Frankreich mehr Algerier, als es in Algerien jemals Franzosen gegeben hat. Ich finde, es sind zu viele, die Toleranzgrenze ist überschritten.«

Nachdem das Offensichtliche ausgesprochen ist, fühlt sich jeder berufen, seine Meinung zu äußern. »Die haben uns aus Algerien rausgeschmissen, also müssen jetzt wir sie rausschmeißen. Ist doch normal.« – »Ja, aber man wird ein bisschen nachhelfen müssen, von selber gehen die nicht.« Manche meinen, eine Lösung zu haben: »Wenn man ein paar von ihnen umbringt, kriegen die anderen Angst und hauen ab.« – »Die haben nicht gezögert, es drüben so zu machen. Und es hat geklappt, wir sind gegangen. Warum sollen wir es hier nicht genauso machen.« – »Das ist unsere Art, unser Land gegen die Invasion zu verteidigen, wenn ihr mich fragt, ist das ganz einfach Patriotismus.« Ein Mann in den Fünfzigern knüpft an: »Patriotismus … Erinnert ihr euch an diesen einen Morgen, dieses Plakat überall in den Straßen von Algier? An allen Mauern. Eine riesige blau-weiß-rote Flagge, zwei bewaffnete Pieds-Noirs, mit Gewehren, wenn ich mich recht erinnere, schön wie junge Götter, und ein Slogan: ›Zu den Waffen, Bürger!‹« Unter den Zuhörern haben einige Tränen in den Augen. Der Nachbar des Fünfzigers hält dies für einen günstigen Moment, er holt einen Stapel Flugblätter aus seiner Tasche: »Lest das.« Die Flugblätter machen die Runde. Delmas, der sein Möglichstes tut, um mit der Landschaft zu verschmelzen, nimmt sich eins. In der Überschrift: »Genug!« Darunter ein einziger Satz in Großbuchstaben: »Marseille hat Angst, Marseille nimmt den von der nordafrikanischen Unterwelt aufgezwungenen Terror nicht länger hin.« Gezeichnet: »Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille«. Kurz, schlicht, im aktuellen Kontext ganz schön wirkmächtig – und beunruhigend. Daraufhin ergreift wieder der gutaussehende Dreißiger das Wort und sagt lachend: »Also, wer ist mit von der Partie, wenn wir sie ins Meer werfen?« Stille, dann wenden sich die Gespräche belanglosen Dingen zu. Delmas spürt Angst und Erschöpfung in sich aufsteigen.

Grimbert hat etwas abseits eine kleine Anhöhe gefunden, die ihm einen guten Blick auf den Friedhofseingang gewährt. Er muss nicht lange warten. Ein paar Verkehrsbeschäftigte sind schon da, sie lassen das Tor öffnen und stellen sich auf, um den Zugang zu kontrollieren. Der Trauerzug trifft wohlgeordnet ein. Der Leichenwagen und die Limousinen passieren das Tor, zu Fuß gefolgt von den Kollegen, den Nachbarn, den Freunden. Diskret zieht sich Delmas aus der Spitzengruppe zurück, ebenso wie die Mehrheit der Funktionäre und Behördenvertreter, deren Wagen mit Fahrer ein paar Dutzend Meter entfernt auf sie warten. Das Tor schließt sich, und die eintreffende Menge zerstreut sich langsam, wie widerstrebend.

Grimbert sieht Delmas, der sich da und dort herumtreibt. Gewissenhaft, dieser Bursche, oder vielleicht auch ein wenig verloren … Er hält Ausschau nach der Gruppe mit Beamten der Police Urbaine. Was ist am Ende der Wegstrecke aus ihnen geworden? Der Dicke Marcel, etwas abseits, ernste Miene, spricht in trauter Zweisamkeit mit Pereira. Sieh an … Der Rest ist mit den Reihen des Verteidigungskomitees verschmolzen, dieser kleinen Auffanggesellschaft für mittlere Führungskräfte und Sympathisanten der OAS, nicht sehr klug, werte Kollegen … Alle unterhalten sich angeregt. Grimbert hört sogar Gelächter, schnell unterdrückt. Haben sie unterwegs einen gehoben? Dann lösen sich etwa zwanzig besonders gesprächige Männer aus der Gruppe. In ihrer Mitte Brigadier Picon und mehrere Polizisten vom Kommissariat des 15. Arrondissements, deren Personalbögen und Fotos er im Laufe seiner Recherchen hat vorüberziehen sehen. Sie streben zu einem abseits gelegenen Parkplatz. Grimbert folgt ihnen vorsichtig, beobachtet, wie sie sich abstimmen, Rippenpüffe und Rückenklopfer, dann zwängen sie sich in mehrere Wagen, die durchstarten, dass der Kies spritzt. Zu weit weg, um die Kennzeichen zu notieren. Fahren sie sich besaufen? Vielleicht. Der Klassiker nach einer Beerdigung. Grund zur Besorgnis?

Vor dem Friedhof hat sich der Trauerzug inzwischen ohne weitere Vorkommnisse vollständig aufgelöst.

Delmas und Grimbert treffen am Friedhofseingang wieder zusammen.

»Na, war dein Spaziergang erfolgreich?«

»Schwer verdaulich. Keine Lust, hier und jetzt darüber zu reden. Gib mir etwas Zeit.«

»Keine öffentlichen Verkehrsmittel, Vierundzwanzig-Stunden-Streik zu Ehren von Guerlache. Komm mit.«

Die beiden Bullen kapern Plätze in einem der Busse, die die Marseiller Verkehrsbetriebe bereitgestellt haben, um ihre Angestellten ins Zentrum zurückzubringen, und sitzen eine Stunde später an einem Tisch auf der Terrasse der Bar-Tabac gleich beim Évêché, seinem inoffiziellen Anbau. Delmas erholt sich bei einem kühlen Bier, Grimbert hält die Apéro-Stunde für gekommen, gesteht sich das Recht auf einen Gelben zu und wartet geduldig, dass Delmas sich zu reden entschließt, was er tut, als er sein Bier ausgetrunken hat.

»Gut, mein Auftrag bestand darin, die Gruppe um den kleinen Dicken zu belauschen.«

»Pereira, ja.«

Delmas gibt kurz die Gesprächsfetzen wieder, die er aufschnappen konnte, nachdem der Trauerzug sich in Bewegung gesetzt hat. Und bittet um die eine oder andere Aufklärung.

»Der Chefredakteur vom Méridional, Domenech, wo muss ich den in etwa einordnen?«

»In unmittelbarer Nähe der Veteranen der OAS, also direkt bei Pereira.«

»Und der nicht so kleinliche Eigentümer, wer ist das?«

»Schon komplizierter. Das ist Defferre, bereits seit zwei oder drei Jahren.«

»Defferre? Der sozialistische Bürgermeister von Marseille? Willst du mich verarschen?«

»Keineswegs. Hunderttausend Pieds-Noirs in Marseille, das bedeutet viele Wähler. Bei ihrer Ankunft wollte er nichts von ihnen wissen, er hat versucht, sie daran zu hindern, sich hier niederzulassen. Aber jetzt, wo sie da sind, ist es ausgeschlossen, sie zu übergehen. Man muss Mittelsmänner finden, um in Verbindung zu bleiben. Pereira ist der ideale Mann, er findet Defferre nicht kleinlich, und er selbst ist es auch nicht. Sie sind wie füreinander geschaffen … Fortsetzung folgt. Das hier ist Marseille.«

»Na, dann erzähle ich dir mal was über deine Marseiller, nicht über die Typen von der OAS oder vom Verteidigungskomitee, nein, über all die anständigen Bürger, ganz gewöhnlich, sehr sympathisch, Boulespieler, Pastistrinker, Aioli-Esser, Freunde und Nachbarn von Guerlache, von denen ich im Trauerzug umgeben war.«

Dann berichtet er ausführlich von den Äußerungen, die er ringsum gehört hat, und das erleichtert ihn. Bis zum krönenden Abschluss: »Also, wer ist mit von der Partie, wenn wir sie ins Meer werfen?«, und er gibt Grimbert sein Exemplar des Flugblatts vom CDM.

Grimbert liest es aufmerksam. »Du musst in eine Gruppe beschwipster Pieds-Noirs geraten sein.«

»Kneif nicht. Dem Akzent nach waren wohl Pieds-Noirs dabei, aber genauso viele waschechte Marseiller. Ganz normale Bürger, geschniegelt und gebügelt, die so ruhig, in vollem Ernst und in aller Öffentlichkeit vom Töten reden, ohne die geringste Missbilligung zu erregen, das habe ich noch nicht erlebt. Und nicht unbedingt leeres Gerede, Tote hat es schon gegeben, wahrscheinlich mehr, als man denkt, und die Stimmung ist explosiv, vergiss das nicht. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Was wird passieren? Machen sie es wahr?«

»Keine Ahnung. Der Commissaire erwartet uns. Gehen wir ihm berichten.«

Im Zentrum von Marseille ehrt das Opéra-Viertel den ermordeten Busfahrer auf seine eigene Weise. Die amerikanischen Bars, wo sonst leicht bekleidete Frauen eine wimmelnde Kundschaft aus einzelnen Männern bedienen, sind alle geschlossen, die Straßen menschenleer und still. Nur zwei Hochburgen der Marseiller Geselligkeit sind überfüllt, die Stammkunden sind gekommen, um in ihrem Lieblingslokal auf den Verstorbenen anzustoßen.

Im Foudre, der Café-Bar der Pereiras, sitzt die OAS- und Pied-Noir-Familie um die Holztische, trinkt Anisette Cristal, knabbert Oliven, Würstchen, Muscheln, redet über Waffen, Schüsse, Explosionen, Exekutionen und Nostalgie. »Es wird knallen«, ständig wiederholt wie ein Refrain. Man spricht auch viel über »berechtigten Zorn«, wie es der Polizeipräsident in seiner morgendlichen Presseerklärung genannt hat. In allen Unterhaltungen taucht das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, die hauseigene Schöpfung, als der große Sieger des Tages auf.

Ein paar Dutzend Meter weiter, in der Grand Bar Henri, vollkommen anderes Ambiente, große Fenster zur Straße, moderne Einrichtung, sind die Korsen zur Totenwache gekommen. Bruderküsse, Lieder, ein bisschen korsische Mundart, Pastis Casanis fließt in Strömen, man ist bunt gemischt unter sich. Das gemeine korsische Volk ist da, auch die Bullen, sie unterhalten sich mit den Gaunern, den Journalisten, mit allen, wahre und falsche Informationen werden ausgetauscht, Gefallen versprochen und erwiesen, Probleme gelöst unter Korsen. Etwas abseits die korsischen Honoratioren von der Medizinfakultät und den Marseiller Krankenhäusern, eine in der ganzen Gemeinschaft hoch angesehene Aristokratie, sie trinken Whisky, gesellschaftlicher Status verpflichtet, und plaudern mit ihren Studenten, die im akademischen Milieu der Stadt die Atomstreitmacht der extremen Rechten bilden. Die Formen der Geselligkeit mögen in der Grand Bar Henri und im Foudre unterschiedlich sein, die dominierende politische Richtung ist die gleiche.

An diesem Abend hat Nicolas Cipriani lange geschwankt zwischen Le Foudre und Grand Bar Henri. Der freie Journalist für AFP und mitunter für die kommunistische Zeitung La Marseillaise ist in der Grand Bar Henri zugelassen, weil er einer korsischen Familie, der korsischen Kultur entstammt, einige Worte Korsisch spricht und Casanis trinkt, aber er wird auch im Foudre mit offenen Armen empfangen, denn er ist Sohn eines Fallschirmjägeroffiziers, Kämpfer im Indochina- und im Algerienkrieg, aufs Abstellgleis geschoben wegen Französisch-Algerien-freundlicher Gefühle, und der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Die Familie, das ist das einzig Wahre. Im Übrigen trinkt der Sohn Anisette Cristal, hat seine vor­militärische Ausbildung bei den Fallschirmjägern gemacht, ehe er anfing, sich als Journalist zu verdingen, was ihm niemand übelnimmt.

Am Ende entscheidet sich Cipriani, seine Nacht bei den Korsen zu vertrinken.

Im Foudre brechen vier Männer, aufgeputscht vom Anisette Cristal und dem stetigen Strom kriegerischer Reden, gegen zehn Uhr abends Arm in Arm auf – »zu einem Rodeo bei den Indianern auf der anderen Seite der Grenze«, sagen sie zum Abschied.

Auf der anderen Seite der Grenze, in Marseille-Nord, ist es elf Uhr abends und die Bar-Tabac Le Terminus macht gerade zu. Malek sitzt mit Blick auf den menschenleeren Boulevard auf dem Mäuerchen der Caféterrasse und wartet. Der junge Bursche von sechzehn Jahren, Lehre im Klempnerbetrieb von einem Freund seines Vaters in Aussicht, wartet auf Anita, achtzehn Jahre und schön wie eine Spanierin, Abiturientin, das heißt eine Intellektuelle. Sie sind sich heute Morgen in Campagne-Lévêque begegnet, wo sie beide wohnen. Malek wollte zu seinem Kumpel Manuel, mit dem er zu einer Spritztour durch die Stadt verabredet war. Dessen Schwester Anita öffnete ihm die Tür. Manuel war nicht da, er sei aber gleich zurück. Wenn er warten wolle … Malek hatte Anita nicht wiedererkannt. Es war fast vier Jahre her, dass sie einander zuletzt begegnet waren.

»Kein Wunder, ich bin die ganze Zeit in der Stadt aufs Gymnasium gegangen. Das ist weit weg von hier.«

Sie sprachen über dies und das, Tratsch aus der Siedlung, dieses erstickende Gefühl am Ende des Sommers. Manuel war immer noch nicht zurück, Anita meinte, sie werde erwartet, sie müsse los, und begann ihn sanft zum Ausgang zu schieben … Malek schlug vor, in der Bar Le Terminus gegen acht, in der Abendkühle, zusammen eine Cola zu trinken. »Warum nicht«, sagte Anita. Als er im Treppenhaus stand, versprach sie zu kommen, dann schloss sie die Tür. Und jetzt wartet er auf sie.

Er musste heftig darum kämpfen, nach dem Abendessen noch ausgehen zu dürfen. Sein ältester Bruder war dagegen. Nicht heute Abend, sagte er, die Angst geht um in den Straßen, bei Anbruch der Dunkelheit werden Araber getötet. Malek hat keine Angst, wovor, warum? Die Bar-Tabac Le Terminus ist nicht weit von zu Hause, wir sind dort unter uns, was kann schon passieren? Er musste versprechen, zeitig heimzukommen, und jetzt ist er immer noch hier, sie ist nicht gekommen, noch nicht. Elf Uhr, die Bar wird gleich schließen.

Der Wirt und zwei Jugendliche, die ihm für kleines Geld zur Hand gehen, sind dabei, zu spülen und aufzuräumen. Malek wirft noch einen Blick nach rechts über den Boulevard, er stellt sich vor, Anitas Silhouette zu sehen, die mit wiegenden Schritten auf ihn zukommt, ein Traum. Ein roter Wagen, gefolgt von einem dicken cremefarbenen Mercedes, fährt im Zeitlupentempo am Café vorüber und den Boulevard Paumont entlang. Zum zweiten Mal. Vielleicht Leute, die sich im Viertel verfranst haben. Keine zwei Minuten später kommen dieselben Wagen aus der Gegenrichtung über den Chemin du Moulinet zurück. Ganz schön verfranst, die Typen. Während der Mercedes ein Stück entfernt parkt, hält der rote Wagen am Gehwegrand, direkt vor Malek. Der Beifahrer öffnet das Schiebefenster und spricht ihn auf Arabisch an.

»Wir haben uns verfahren, wir kennen uns im Viertel nicht aus, kannst du uns helfen?«

Malek lässt sich zu Boden gleiten, geht näher, beugt sich vor, der Beifahrer hebt den Arm, schießt ihm aus nächster Nähe eine Kugel mitten in die Brust, Maleks Körper wird nach hinten geschleudert, der Wirt in der Bar schreckt hoch, lauscht, eine zweite Kugel trifft den Bauch, zerfetzt das Brustbein, der Körper kippt um, der Wirt und die zwei Jungen lassen Besen und Putzlappen fallen, der rote Wagen prescht los, eine dritte Kugel streift eine Schulter, die drei Männer erreichen die Caféterrasse, erblicken den blutüberströmten Körper. Schon zwanzig Meter weiter ein beigefarbener Mercedes und ein anderer Wagen, sie biegen beide an der nächsten Kreuzung ab und verschwinden. Das Ganze hat, vom ersten Schuss gerechnet, zwölf Sekunden gedauert.

Während die beiden Jungen zu dem Körper stürzen, läuft der Wirt nach drinnen, um die Rettung und das Bezirkskommissariat anzurufen. Dann kommt er zurück, nähert sich dem reglosen Körper, starrt auf das Blut, das aus den Wunden fließt, die Kleider durchtränkt, das Gesicht befleckt, sich auf dem Gehweg ausbreitet. Er legt Slimane eine Hand auf die Schulter, der zuckt zusammen.

»Geh, mein Junge, und benachrichtige seine Familie, du weißt, wo sie wohnen.«

Kurz darauf stürmen Maleks zwei Brüder mit langen Schritten von der nahen Siedlung Campagne-Lévêque herbei, verzerrte Gesichter, aufs Schlimmste gefasst. Die Rettungsleute umstehen schon den Körper, führen Erste-Hilfe-Maßnahmen durch und bereiten eine Trage und Transfusionsmaterial vor. Die beiden Brüder beugen sich über das Gesicht, fahl, mit blutigen Rinnsalen überzogen, geschlossene Augen, offener Mund, ein stummer Schrei. Malek, ohne jeden Zweifel. Einer der Rettungsleute: »Er lebt.« Sie hören ihn nicht mal.

Polizisten in der Bar und in der Umgebung. Einer von ihnen gibt den Rettungsleuten ein Zeichen: »Sie können ihn mitnehmen. Wir sind fertig mit ihm, Fotos und der ganze Zirkus. Wo fahren Sie hin?«

»Uniklinik La Timone.«

»Alles klar.«

Mohamed, der Älteste, nimmt seinen jüngeren Bruder Adel am Arm, schiebt ihn zum Krankenwagen. »Du bleibst bei ihm, du lässt ihn keine Minute allein.«

Adel stellt die Befehle des Ältesten nicht infrage, niemals. Er wendet sich um, macht drei unsichere Schritte, kotzt sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib, geht dann auf die Rettungsleute zu, die ihm entgegensehen. Kein lustiger Geselle, Komplikationen in Sicht. »Setzen Sie sich zum Fahrer nach vorn, niemand neben der Trage, die Arbeit der Sanitäter darf nicht gestört werden.« Er tut wie geheißen, erleichtert und zugleich beschämt darüber.

Mohamed steht immer noch benommen neben den Blutlachen auf dem Gehweg, er fühlt, wie in seinem Körper die Ablösung beginnt, die Abwesenheit wächst, die unwiderrufliche Leere. Ein Polizist tritt auf ihn zu.

»Und Sie, wer sind Sie?« Mohamed schreckt zusammen. »Was tun Sie hier?«

»Ich bin der Bruder des Opfers.«

»Stehen Sie nicht da rum, Sie verunreinigen den Tatort, wir sind mit unserer Arbeit noch nicht fertig. Gehen Sie in das Café, meine Kollegen nehmen Ihre Aussage auf. Und dann gehen Sie nach Hause, Sie haben hier nichts verloren.«

Mohamed betritt das Café, in dem er noch nie war. Der Saal ist quasi leer. Die Tische und Stühle, billige Möbel, sind hinten im Raum aufeinandergestapelt, der Boden wurde tropfnass gewischt und riecht noch nach Chlor, die Lichter über der Bar auf der linken Raumseite sind alle ausgeschaltet und der Tresen ist mit einem großen weißen Tuch abgedeckt. Nur eine Hängelampe in der Mitte der Decke ist noch an und erhellt zwei Polizisten, die auf einen Bistrotisch gestützt die Aussagen des Wirts und der zwei jungen Männer aufnehmen, die vor ihnen stehen. Auf einer Seite im Dunkel die Tür zu den Toiletten und eine Telefonkabine. Im selben Moment, als Mohamed eintritt, schließen die Polizisten ihre Blöcke, der eine sagt zum anderen: »Kurz und gut, dies sind die einzigen Zeugen, sie waren alle drei hier drin, die Schießerei fand draußen auf dem Boulevard statt, sie haben nichts gesehen, der Fall landet schnell bei den Akten.« Die drei Zeugen hören sich das an, dann ziehen sie sich in die Dunkelheit und zu der Telefonkabine zurück.

Mohamed geht auf die Polizisten zu. »Wer sind Sie?«, fragen sie ihn.

»Der Bruder des Opfers.«

Sie schlagen ihre Notizblöcke wieder auf. Seine Identität und seine Adresse, die von Malek, die Umstände, wie er von dem Ereignis erfahren hat, alles deckt sich mit der Aussage von Slimane und scheint klar. Nach ein paar Minuten ist Mohamed entlassen. »Sie können nach Hause gehen. Wir melden uns bei Ihnen.«

Er verlässt die Bar, macht ein paar Schritte über die Terrasse, wie ein Schlafwandler, bleibt stehen. Er ist direkt oberhalb der Stelle, an der sein Bruder niedergeschossen wurde. Zwei Polizisten arbeiten daran, mit einem gelben Plastikband mit der Aufschrift »Polizei«, wie er es schon in Fernsehkrimis gesehen hat, einen winzig kleinen Teil des Gehwegs abzustecken, ein »Tatort« im Taschenformat. Zwei andere laufen innerhalb dieses »Tatorts« herum, wahllos, wie es scheint, Blick am Boden. Einer von ihnen verkündet: »Da. Ich hab eine.«

Er bückt sich, hebt mit bloßer Hand einen Gegenstand auf, zeigt ihn den anderen Polizisten. Eine Patronenhülse. Der Gegenstand geht von Hand zu Hand, bevor er in einem Plastiktütchen verstaut wird. Kurz darauf verkündet der andere Polizist: »Ich hab die zweite.« Und zeigt seine Trophäe vor.

»Die Zeugen haben gesagt, zwei Schüsse, wir haben zwei Hülsen, die Rechnung geht auf. Sind sie fertig, die Schreiberlinge im Café? Es ist spät, wir ziehen ab.«

Ein paar Minuten darauf sind die Polizisten weg.

Mohamed setzt sich auf das Mäuerchen der Terrasse, ganz genau da, wo sein Bruder zwei Stunden zuvor gesessen hat. Allein. Der Körper gibt nach. Es überwältigt ihn, er legt die Hände vors Gesicht und weint stumm.

Ein wenig später bringt der Wirt ihm einen Pfefferminztee, sehr heiß, sehr stark, sehr süß, und setzt sich schweigend neben ihn. Langsam richtet Mohamed sich auf, nimmt die Hände vom Gesicht, wischt mit dem Handrücken darüber, nimmt das Glas und trinkt. Die beiden Jugendlichen hocken sich zu ihnen auf die Mauer, halten sich an den Händen. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, aber niemand kommt auf die Idee, das Café zu verlassen, die Terrasse, den blutigen Gehweg. Da sein, um bei Malek zu wachen, immer weiter da sein, bis zum Ende, an seiner Seite, um ihm beizustehen, ihm zu helfen, den Faden festzuhalten, den Lebenshauch.

Mohamed spricht. »Meine Familie ist aus Oran, wir kennen die Pieds-Noirs, wir wissen, wozu sie fähig sind … Die Schwester meiner Mutter wurde erschossen, weil sie in einem europäischen Viertel durch die Straße lief … Hier und jetzt geht es wieder los, überall sind die Algerier in Gefahr. Bei der Arbeit wird viel darüber geredet. Wie wir alle habe ich nachts Angst, und ich wusste, dass es heute Nacht noch gefährlicher ist. Ich wollte Malek daran hindern, auszugehen, ich habe es nicht geschafft.« Ein Zögern. »Er war mit einem Mädchen verabredet?«

»Ja. Er hat gewartet, sie ist nicht gekommen …«

Ultimativer Schlag des Schicksals. Mohamed fühlt Tränen aufsteigen, atmet tief durch, fährt fort. »Unser Vater liegt im Moment im Krankenhaus. Arbeitsunfall. Ich habe die Verantwortung für Malek. Ich bin jeden Abend von La Ciotat, wo ich arbeite, hergekommen, um auf ihn aufzupassen. Ich bin für seinen Tod verantwortlich.«

Der Alte beugt sich vor, sucht seinen Blick. »Du hast nicht das Recht, das zu sagen. Wenn du verantwortlich bist, sind die Mörder dann unschuldig? Verantwortlich ist der Mann, der geschossen hat, und auch die, die ihn begleitet haben. Sie waren mit Sicherheit zu mehreren, mindestens zu zweit, der Schütze und der Fahrer. Wir müssen sie finden, für Malek. Sie müssen erfahren, dass Malek kein Hund ist, den man auf der Straße erschießt. Keiner von uns ist ein Hund, den man auf der Straße erschießt.«

Der alte Mann hat den richtigen Punkt getroffen, Mohamed grübelt: den Verantwortlichen finden, den oder die Mörder finden … Machbar? Gefühl von Ohnmacht, Einsamkeit, völlig verloren.

Auf dem menschenleeren Boulevard kommt mit aufgeblendeten Scheinwerfern ein Wagen auf sie zu. Er hält ein paar Dutzend Meter vom »Tatort« entfernt. Daquin steigt aus, gefolgt von Delmas. Beim Bereitschaftsdienst im Évêché hat er einen Anruf erhalten, ein Alter, flüsternde Stimme, unbeholfen. Er sprach von einem jungen Algerier, erschossen auf der Straße, vor einem Café, die Schützen geflüchtet, von Angst und Dringlichkeit. »Wir kommen«, hat Daquin geantwortet und Delmas aus dem Schlaf geklingelt.

»Nach den theoretischen Reden, die Sie heute Nachmittag gehört haben, interessieren Sie sich für die praktische Umsetzung? Ich hole Sie ab.«

Jetzt stehen sie beide hier und betrachten das, was sich als schlampig abgesteckter, aber sehr blutiger Tatort darbietet. Dann nähert sich Daquin dem Mäuerchen.

»Commissaire Daquin, Inspecteur Delmas, wir sind von der Kriminalpolizei. Wer von Ihnen hat die Bereitschaft angerufen, um ein Gewaltverbrechen zu melden?«

Der Wirt steht auf. »Das war ich, ich habe angerufen.«

»Warum? Unsere Kollegen waren offensichtlich schon hier.«

»Sofort nach den Schüssen habe ich die Rettung und das Kommissariat angerufen.« Er unterbricht sich, wendet sich an die Jugendlichen. »Macht uns einen Tee, für alle, wir kommen dann zu euch.« Als sie weg sind, fährt er fort: »Wenn es bisher nachts Probleme wegen Schlägereien gab, war unser Kommissariat geschlossen, und wir haben den Évêché angerufen. Seit vierzehn Tagen ist das Kommissariat nachts geöffnet, und die Polizisten, die oft in die Bar kommen, um sich ein Gläschen ausgeben zu lassen, wiederholen jedes Mal: ›Wenn es jetzt nachts Probleme gibt, rufst du uns an.‹ Ich habe also dort angerufen. Aber als ich sie sagen hörte: ›Niemand hat etwas gesehen, noch ein Fall, der schnell bei den Akten landet‹, da habe ich beschlossen, die Bereitschaft im Évêché anzurufen.«

Mohamed ergänzt: »Sie liefen auf dem Gehweg herum, da, wo mein Bruder hingestürzt ist. Sie haben zwei Kugeln gefunden, die haben sie mit bloßer Hand aufgehoben, sie haben sie den anderen Polizisten gezeigt, die sie ebenfalls angefasst haben. Sie hatten keine Handschuhe. Im Film machen Polizisten so was nicht.«

Daquin lächelt ihm zu. »Im echten Leben eigentlich auch nicht.«

Der Wirt nimmt den Faden wieder auf. »In der Bar wird derzeit viel diskutiert. Fast jeden Tag sterben Algerier, die Polizisten suchen nicht groß. Meine Gäste sagen: ›Die Nummer der Bereitschaft hat besser funktioniert als das Kommissariat.‹ Deshalb habe ich, als ich sah, wie sie vorgingen, die Bereitschaft angerufen.«

Daquin und Delmas sprechen sich kurz ab, dann Daquin: »Gehen wir nach drinnen und trinken den Tee. Sie erzählen uns alles, was passiert ist, von Anfang an. Wir schreiben einen Bericht, so vollständig wie möglich. Im Anschluss ist es ein Richter oder Staatsanwalt, der entscheidet, welches Polizeiteam mit dem Fall betraut wird. Ohne Garantie also. Einverstanden?«

Sie setzen sich alle um zwei Tische, jeder schlürft sein Glas Tee, der Wirt schildert den Ablauf des Abends, von Anfang an. Dann bittet Daquin, die Tische und Stühle wieder wegzuräumen, um den Gastraum in den Zustand zum Tatzeitpunkt zurückzuversetzen. In der Mitte des großen leeren Saals ein Lichtfleck, umschlossen von Schatten.

»Jeder geht an den Platz, wo er sich beim ersten Schuss aufhielt, und Sie werden die Szenen haargenau nachspielen, Episode für Episode, wie im Theater. Die Bewegungen sind sehr wichtig, führen Sie wieder die gleichen Bewegungen aus. Sobald Ihnen eine Erinnerung kommt, sagen Sie es, wir notieren, was immer es ist, zögern Sie nicht. Wenn wir eine Szene wiederholen müssen, tun wir es, das ist kein Problem, wir haben Zeit, hetzen Sie sich nicht. Sie, Mohamed, waren nicht dabei, setzen Sie sich an die Seite, rühren Sie sich nicht, sagen Sie nichts. Kann es losgehen?«

Der Wirt, gebückt hinter der Bar, räumt Flaschen und Geschirr weg. Er erklärt: Wenn er sich aufrichtet, kann er Maleks Rücken erkennen, aber nicht den tiefer liegenden Boulevard. Slimane wischt den Boden in der Nähe der Straßenfront, eine Mauerecke verdeckt für ihn Malek und den Boulevard. Der zweite Jugendliche, Chafik, ganz hinten im sehr dunklen Teil des Saals, stapelt die Tische und Stühle aufeinander, um Platz zu schaffen und in diesem Teil des Raums den Boden zu wischen. Erster Schuss, »nicht sehr laut«, sagt der Alte, »wie in der Ferne« (Delmas notiert: mit aufgesetztem Lauf? Medizinischen Befund prüfen), Slimane und er schrecken hoch, rühren sich aber nicht vom Fleck. Chafik zögert, sagt dann: »Den habe ich nicht gehört.« Daquin gibt ein Zeichen: Wir machen weiter. Zweiter Schuss kurz nach dem ersten, »die Detonation ist lauter«, sagt der Wirt, Slimane und er lassen alles stehen und liegen und stürzen zur Terrasse.

Chafik sagt: »In diesem Moment höre ich einen Schuss. Für mich ist es der erste, den davor, von dem die beiden sprechen, habe ich nicht gehört, vielleicht der Krach vom Tische­stapeln … Ich stand mit dem Rücken zur Straße, vielleicht habe ich ein Geräusch gehört und dachte nicht, dass es ein Schuss war …«

»Wir haben verstanden. Machen Sie weiter.«

Der Wirt und Slimane erreichen gleichzeitig die Tür, drängeln sich hindurch, und als sie auf der Terrasse sind, sehen sie als Erstes Maleks Körper, der unterhalb auf dem Gehweg liegt, blutüberströmt. Panik. Der Wirt hebt den Kopf und nimmt durch eine Art Nebel zwei Wagen wahr, die hintereinander den Boulevard entlangfahren und sich in Richtung Chemin de la Madrague-Ville entfernen.

»Um die Wagen kümmern wir uns später. Bleiben wir noch bei den Schüssen. Was machst du unterdessen, Chafik?«

»Als ich sehe, dass sie ihre Arbeit hinwerfen und nach draußen rennen, lasse ich auch alles fallen und folge ihnen mit etwas Verzögerung in Richtung Terrasse, und als sie an der Tür sind, in dem Moment, als sie sich drängeln, um schneller rauszukommen, da bin ich selbst noch im Saal, ich höre einen Schuss. Für mich ist es der zweite, weil ich den ersten nicht gehört habe.«

»Diesen Schuss haben wir beide nicht gehört«, bemerken der Wirt und Slimane.

»Sie erinnern sich nicht daran, dass Sie ihn gehört haben, zu sehr in Eile, dann der Riesenschock, als Sie Maleks Körper entdecken.«

Daquin und Delmas diskutieren kurz miteinander. Ihre Schlussfolgerung: Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es drei Schüsse, das Vorgängerteam hat Mohameds Bericht zufolge zwei Patronenhülsen aufgelesen, es existiert also vielleicht noch eine dritte. Delmas übernimmt es, sie zu suchen, holt eine Stablampe aus ihrem Polizeiwagen und macht sich an die Arbeit.

Daquin schlägt den drei Zeugen vor, sich jetzt mit den Autos zu befassen.

Slimane ergreift das Wort, sein Ton ist bestimmt. »Es waren zwei Autos, sie sind in den Minuten vor den Schüssen mehrere Male vor dem Café vorbeigefahren, ich habe sie nicht gesehen, aber gehört. Eins davon war ein großer deutscher Wagen, ich habe das Motorengeräusch erkannt. Ich denke, ein Mercedes.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Ja. Ich arbeite, wann immer es geht, in einer Werkstatt in der Nähe von Marseille. Ich liebe Kfz-Technik, ich will das mal beruflich machen. Wir alle in der Werkstatt kennen das Motorengeräusch von einem schönen Mercedes. Sie sind vor den Schüssen zwei- oder dreimal vorbeigefahren, das fiel mir auf, zu dieser Nachtzeit war das seltsam.«

Chafik fügt hinzu: »Als ich rauskam, hatte ich den Boulevard in gerader Linie vor mir. Da war ein großer beigefarbener Wagen, der einzige, den ich gut sehen konnte, er stand halb auf dem Gehweg und fuhr los, er folgte einem anderen Auto. An der Kreuzung Chemin de la Madrague sind sie gemeinsam nach links abgebogen. Das Auto, das vorne fuhr, habe ich in dem Moment gesehen, es war rot, nicht neu und nicht schön, der Wagen dahinter war beige, es kann ein Mercedes gewesen sein. Vielleicht …«

»Als du sie hast abbiegen sehen, konntest du erkennen, wie viele Leute drinsaßen?«

Chafik überlegt mit gerunzelter Stirn. »Nicht so richtig. In dem großen Wagen habe ich hinten niemanden gesehen. Vielleicht waren Leute versteckt? Zwei Personen vorne? Ich bin nicht sicher.«

Delmas kommt mit einer Patronenhülse in einem Plastiktütchen zurück. Er hat seine Gummihandschuhe anbehalten, wahrscheinlich um in Mohameds Augen so seriös zu wirken wie ein Spielfilmbulle. In sein Heft hat er einen genauen Plan des Tatorts gezeichnet und von der Stelle, wo er die Hülse gefunden hat. Er stellt einen Tisch in die Raummitte, unter die helle Deckenlampe, und legt den Plan darauf, damit alle ihn sehen können. Mohamed tritt aus dem Dunkel und stellt sich dazu. Er wirkt um zehn Jahre gealtert, am Boden zerstört vom vor seinen Augen inszenierten Nachstellen des Anschlags auf seinen jüngsten Bruder und von dem Gefühl, in seiner Rolle als beschützender Ältester versagt zu haben. Daquin und Delmas beraten sich kurz, dann erklärt Delmas:

»Ich habe die Patronenhülse hier gefunden.« Ein Finger zeigt auf ein mit Bleistift eingetragenes Kreuz. »Sechs Meter von der Stelle, wo Malek hingestürzt ist, ungefähr drei Meter außerhalb des von unseren Kollegen als ›Tatort‹ abgesteckten Bereichs.« Er zeigt mit dem Finger auf jeden dieser Punkte auf seiner Karte. »Wir übergeben die Hülse den Kriminaltechnikern, sie ist für den Fortgang der Ermittlung von großer Bedeutung, und gefunden haben wir sie dank Chafiks Zeugenaussage.«

»Kann man mit der Hülse den Mörder finden?«

»Wenn der Schütze sie mit bloßer Hand berührt hat, ja, das ist möglich, aber wenn er ein kluger Mann ist, wird es keine Fingerabdrücke geben … Hingegen kann man anhand einer intakten Hülse nahezu mit Sicherheit feststellen, aus welcher Waffe die Patrone abgefeuert wurde, falls man die Waffe findet.«

Delmas fährt fort: »Ausgehend von den drei Hülsen und Ihren gesammelten Zeugenaussagen wäre dies ein mögliches und wahrscheinliches Szenario: Die zwei Autos kreiseln durchs Viertel, werden auf Malek aufmerksam, allein, ohne Zeugen ringsum, aber in Fahrtrichtung liegen die kleinen Sträßchen und Sackgassen, was für einen schnellen Abgang ungünstig ist. Deshalb kommen sie in Gegenrichtung zurück, mit der Möglichkeit, über den Chemin de la Madrague schnell wegzukommen. Der erste Schuss wird mit aufgesetztem Lauf oder aus nächster Nähe abgegeben, die Detonation ist daher wie gedämpft, was erklärt, dass Chafik sie nicht hört, der weit weg ist von der Tür. Der zweite Schuss wird abgegeben, während Malek fällt. Dann startet der Wagen des Täters, der dritte Schuss wird im Wegfahren abgegeben, der Motor überdeckt möglicherweise einen Teil des Geräuschs. Es sind folglich mindestens zwei Männer im Wagen, der Fahrer und der Schütze. Der Mercedes ist wahrscheinlich zur Unterstützung dabei und fährt hinterher, um dem Täterfahrzeug auf der Flucht Deckung zu geben. Das sind alles Hypothesen, wir klären das noch mit den Ärzten ab, die Malek behandeln.«

Daquin schließt: »Es ist fast drei, wir müssen noch unseren Bericht schreiben. Ihre Zeugenaussagen waren entscheidend. Wir hoffen wie Sie, dass Malek gerettet wird, und tun unser Möglichstes, damit die Ermittlung schnell zur Verhaftung der Mörder führt.«

Man trinkt ein letztes Glas Tee, verabschiedet sich mit Handschlag. Im Wagen knurrt Delmas: »Diese Irren waren mit Sicherheit heute Nachmittag bei der Beerdigung. Ich bin ihnen vielleicht über den Weg gelaufen.« Ein Moment Schweigen. »Glauben Sie, der Junge kann gerettet werden?«

»Nein. Haben Sie die Menge an Blut auf dem Gehweg gesehen? Und die Größe der Patronenhülse? Ich bin bei weitem kein Spezialist, aber das ist ein Kaliber, das tötet. Mit aufgesetztem Lauf, mitten in die Brust … Es war gewiss nicht an uns, ihnen das zu sagen.«

Um vier Uhr früh kommt Adel, der jüngere der Brüder, bleich, in Tränen aufgelöst, zum Café zurück und verkündet Maleks Tod.

Marseille.73

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