Читать книгу Marseille.73 - Dominique Manotti - Страница 14

Оглавление

Montag, 27. August

Le Quotidien de Marseille

Unter der Schlagzeile:

Der Mörder, immer noch im Koma, konnte nicht befragt werden.

Presseerklärung der Verkehrsgewerkschaften: »Die Bestattung von Guerlache findet am Dienstag, den 28. August in der Kirche Sainte-Émilie-de-Vialar statt, im Viertel La Pauline, wo er wohnte. Die Gewerkschaften rufen die Bevölkerung dazu auf, sich durch Arbeitsniederlegung an dieser Beerdigung zu beteiligen, aus Freundschaft zu Guerlache und um gegen die unsicheren Arbeitsbedingungen der Verkehrsbeschäftigten zu protestieren. Die Tatsache, dass der Mörder ein Gastarbeiter ist, darf nicht zur Zunahme des Rassismus führen. Viele Aggressoren sind keine Nordafrikaner.«

Auf Seite 2 Abdruck einiger Unterstützungserklärungen:

»Die Belegschaft der Wartungsbetriebe der Stadt Marseille drückt ihre Bestürzung und Solidarität aus. Sie fordert eine strengere Einwandungskontrolle in unserem Land.«

»Front National, GUD, ULN, UGT und das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille (CDM) rufen für Mittwoch, den 29. August zu einer Protestdemonstration gegen die illegale Einwanderung auf.«

Daquin begibt sich sehr früh zum Évêché. An den Mauern des Panier-Viertels Schwarzweißplakate »Stoppt die wilde Einwanderung«, handgemalte Slogans, und ein Wort, das sich von Wand zu Wand in großen schwarzen Lettern herauskristallisiert: Angst. Eine Gewissheit: Über der Stadt hat sich ein Sturm erhoben und wird sie durchschütteln. Was sollen wir tun, mein Team und ich?

Er geht als Erstes bei der Abhörtechnik vorbei, um zu sehen, wie weit die von Percheron zugesagten Telefonüberwachungen sind. Sie laufen seit Freitagnachmittag. Nicht schlecht. Auf dem Vereinsanschluss ein Dutzend Anrufe, im Wesentlichen Bitten um Auskunft, uninteressant. Ein Gespräch auf Asensios Privatleitung. Datum: Freitag, 24. August, 19:50 Uhr. Ein externer Anruf, er notiert die Nummer und schreibt den Dialog sorgfältig mit.

Unbekannt: Gute Rede neulich Abend im Club. Im Évêché wird viel darüber gesprochen.

Asensio: Ich hoffe, nicht zu viel. Wir bereiten Initiativen von großer Tragweite vor, weißt du?

Unbekannt: Keine Sorge … Also, ich wollte dich um einen Gefallen bitten.

Asensio: Das trifft sich gut, ich dich auch. Wir sollten uns sehen. Ich bin gerade fertig mit Abendessen, komm auf einen Verdauungsschnaps in die Bar unten in meiner Straße …

Unbekannt: Bin gleich da.

Daquin geht eilig zum Büro seines Teams. Die Atmosphäre ist angespannt.

»Die Touloner haben mit einer Explosion gerechnet. Ist es so weit?«

»Es ist nur der erste Akt …«

Daquin hat sein Kriegszeitengesicht, weniger kantig, mehr zerklüftet, Nase und Lippen schmaler, vorstehende Brauenbögen und Wangenknochen, die Augen tief in den Höhlen.

»Ja, es wird kabbelig. In der Stadt kann ich körperlich spüren, wie sich die Lage verschlechtert, aber verschwenden wir keine Zeit mit Spekulationen über die Zukunft, dafür sind wir nicht qualifiziert. Und wir müssen sofort eine Entscheidung treffen. Unsere Ermittlung ist unwichtig verglichen mit dem, was gerade passiert. Wir können sie einfrieren und uns möglichst ans aktuelle Geschehen halten. Oder aber sie weiter vorantreiben, das Tempo erhöhen. Was mich betrifft, wäre das meine Wahl, ich bin überzeugt, dass wir in der kommenden Krise die Männer, die wir bereits ausgemacht haben, an vorderster Front wiederfinden werden, Asensio, Picon, die anderen. Bevor Sie mir antworten, möchte ich Ihnen das hier zeigen.«

Er reicht ihnen das Abhörprotokoll. Delmas tritt näher, um über Grimberts Schulter mitzulesen. Daquin fährt fort:

»Anruf am Freitagabend, also vor der Ermordung des Busfahrers. Aber ›gute Rede‹ und ›Initiativen von großer Tragweite‹ passt in den Gesamtzusammenhang. Wir müssen die eingehende Rufnummer und den Gesprächspartner identifizieren. Grimbert, können Sie das machen?«

»Kann ich. Ich werde mir die Stimmen anhören. In so einem Moment tut es gut, sich nicht vollkommen nutzlos zu fühlen.«

Grimbert begibt sich zur Abteilung für Abhörtechnik. Die Techniker erklären ihm, dass es sich um eine Nummer im Évêché handelt, ein frei zugänglicher Anschluss auf einer der Etagen der Police Urbaine. Er hat nicht übel Lust zu fragen, warum sie Daquin nicht darauf hingewiesen haben, aber er hält sich zurück, die Antwort liegt auf der Hand: Man erzählt den Parisern so wenig wie möglich, vor allem wenn es um Évêché-interne Angelegenheiten geht. Dann hört er sich die Aufnahme an, zunächst ganz unbefangen, nur ein erster Eindruck. Asensios Gesprächspartner hat einen winzigen Pied-Noir-Akzent, die Stimme hat er schon mal gehört, aber sie ist ihm nicht vertraut. Er hört die Aufzeichnung noch zweimal mit maximaler Konzentration, bedankt sich bei den Technikern und stürmt zu seinem Büro. Ohne ein Wort zu Delmas und Daquin sucht er aus dem internen Telefonverzeichnis eine Nummer heraus, wählt.

»Hallo, Marcel?«

»Nein, hier ist nicht Marcel, Sie haben sich verwählt, alter Knabe, überprüfen Sie die Durchwahl.«

»Können Sie sie mir nicht geben?«

»Ich bin doch keine Telefonistin, ich hab anderes zu tun.« Damit legt er auf.

Grimbert wendet sich Daquin und Delmas zu. »Asensios Gesprächspartner, das ist Picon. Irrtum ausgeschlossen.«

Delmas folgert: »Das beantwortet Ihre Frage, Commissaire. Wir beschleunigen die Ermittlung.«

Daquin lächelt. »An die Arbeit. Wir haben drei mögliche Baustellen. Die erste: Asensio, seine ›guten Reden‹, seine ›Initiativen von großer Tragweite‹ und seine Beziehung zu Nadia Mokhrani. Die Telefonüberwachung steht. Zweite Baustelle: Brigadier Picon, eng verbunden mit Asensio und folglich mit der UFRA. Die beiden Männer tauschen Gefallen aus, außerdem sind es die zwei Namen, auf die die Regionaldienststelle Toulon gestoßen ist. Der Schießsportclub kann eine Schlüsselrolle in der extremistischen Pied-Noir-Bewegung spielen. Und schließlich das Kommissariat vom 15. Arrondissement, das wahrscheinlich einen weiteren Ankerpunkt dieser Bewegung darstellt. Wir sind zu dritt, wir haben einen Fotoapparat und zwei Telefonüberwachungen, mehr bekommen wir vermutlich nicht. Und wir steuern auf eine Periode mit heftigen Turbulenzen zu, die uns ebenfalls fordern und unsere Zeitpläne strapazieren werden. Wir können also nicht alles abdecken, welche Baustelle wählen wir?«

»Das 15. in den Mittelpunkt zu rücken ist ausgeschlossen, wir haben nicht genug in der Hand. Und es ist bestimmt das Halsbrecherischste.«

»Die Antwort, die sich aus der Anfrage der Regionaldienststelle Toulon ergeben würde, wäre vielleicht Asensio, aber ich tendiere zu Picon und seinem Schießclub, ein Ort, wo Begegnungen stattfinden und Wege sich kreuzen können. Ich habe da so ein Gefühl.«

»Was Asensio angeht, haben wir die Telefonüberwachung, das reicht nicht, aber es ist ein Türchen. Für den Club sind keine Vorkehrungen getroffen, wir müssen uns also vorrangig damit befassen.«

»Beschluss einstimmig gefasst. Und das hindert Sie nicht, Delmas, in Ihrem Rhythmus mit dem weiterzumachen, was Sie zu Asensio und zur UFRA begonnen haben. Kleines Problem: Percheron hat uns vorgewarnt, wir bekommen keine weitere Telefonüberwachung und keine Abhörwanzen. Wenn wir am Club weiterarbeiten, brauchen wir Wanzen, das ist ein Sammelpunkt, wir müssen wissen, was dort gesprochen wird. Wir werden die Arbeit aufteilen. Sie, Grimbert, fahren heute Nachmittag nach Toulon, Sie erklären unseren Kollegen, wie es bei uns steht, und bitten sie um Abhörwanzen. Machbar?«

»Ich glaube schon.«

»Wir geben sie ihnen zurück. Aber Sie unterschreiben nichts, insgesamt nichts Schriftliches. Sollten wir später Ärger mit Percheron bekommen, nehme ich das persönlich auf mich. Sobald wir sie haben, falls wir sie bekommen, befassen wir uns damit, wie wir sie installieren können. Wir treffen uns morgen früh hier, vor Ihrem Aufbruch zur Beerdigung von Guerlache.«

Am späten Nachmittag ist die Bar Le Foudre im Opéra-Viertel rappelvoll. Viel Kommen und Gehen, rastlose Betriebsamkeit. Pereira weiß, man muss die Gelegenheit von Guerlaches Beerdigung für einen ersten lautstarken Auftritt des Verteidigungskomitees nutzen. Im Laufe des Tages hat er ein Banner mit der Aufschrift »CDM – Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille« malen lassen. Heute Abend stellt er die Führungsriege des Komitees zusammen, die es während des Trauerzugs tragen soll. Man muss auch auf der gesamten Strecke Plakate kleben, der Vorrat von »Stoppt die wilde Einwanderung« wird aufgebraucht werden. Um das Kürzel CDM einzuführen, hat Pereira es geschafft, im Namen des Komitees zwei Plakat­serien drucken zu lassen. Jetzt organisiert er die Gruppen, die heute Nacht an der Strecke der Prozession plakatieren sollen. Zu guter Letzt wurde ein Flugblatt des Komitees in mehreren tausend Exemplaren gedruckt. Pereira verteilt sie in kleinen Bündeln, damit sie in allen Teilen des Trauerzugs präsent sind.

Pause fürs Abendessen, man kann etwas verschnaufen, Madame Pereira hat eine Feijoada gekocht, die Gäste übernehmen das Servieren selbst. Telefonklingeln. Madame Pereira nimmt ab, wie sie es immer tut. Sie und sie allein. Eine Männerstimme, Französisch ohne Marseiller Akzent:

»Könnte ich Monsieur Pereira sprechen, bitte?«

»Bleiben Sie dran.«

Sie legt den Telefonhörer ab, geht zu ihrem Sohn, der mit Freunden trinkt und diskutiert, flüstert ihm ins Ohr: »Die Präfektur«, Pereira nimmt das Gespräch an, Rücken zum Saal.

»Pereira am Apparat.«

»Wir haben aus der Presse entnommen, dass Sie für Mittwoch zu einer Demonstration aufrufen …«

»Richtig, und wir sind nicht die Einzigen.«

»Aber auf Sie kommt es an. Wir befürchten hochgradig gewalttätige Zusammenstöße mit den Linksextremen, so wie sie sich in Paris ereignet haben, was uns nötigen würde, hart durchzugreifen, und das möchten wir nicht. Ich habe mich heute Nachmittag mit den Gewerkschaften getroffen. Sie werden gegen Sie Stellung beziehen, in deren Augen instrumentalisieren Sie ihre Mobilisierung. Überlegen Sie sich das gut.«

»Ich überlege immer, was ich tue.«

»Ich weiß, und das ist umso besser. Guten Abend.«

Marseille.73

Подняться наверх