Читать книгу Pläne sind zum Ändern da - Dorina Kasten - Страница 11

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Wie jeden Mittwoch machte sich Nora gleich nach der Arbeit auf den Weg zu ihren Eltern. Sie stieg ins Auto, drehte das Radio lauter und versuchte, die Probleme in der Galerie hinter sich zu lassen. Sie fuhr gern in ihr Heimatdorf. Es war immer wie eine Zeitreise. Jede Straße, jeder Baum und jedes Haus, mochten sie sich auch noch so verändert haben, erinnerten sie an ihre Kindheit. Die gestutzten Linden in der kleinen Einkaufsstraße, die wie abgebrochene Streichhölzer in einer Reihe standen, das rote Backsteinhaus mit der Dorfkneipe, die alte Schule mit der geschnitzten und bemalten Eingangstür und natürlich die ewig rauschende Pappelallee, die zum Sportplatz führte, die Bilder all dessen hatte sie für immer abgespeichert. Bis auf wenige Zugezogene kannte sie fast alle Menschen, die hier wohnten. Viele ihrer Schulfreunde lebten noch dort. Manche waren zuerst weggezogen und dann wieder zurückgekommen.

Wie hatte Uwe beim letzten Klassentreffen gesagt? „Friedrichshagen hat etwas Magisches.“ Na ja, das war ein bisschen übertrieben für ihren Geschmack. Aber vielleicht hatte die Heimat eines Menschen allgemein etwas Magisches für ihn. In ihrem Kopf jedenfalls schwirrten stets einzelne Puzzleteile von Episoden aus ihrer Kindheit herum, bis sie sich eins schnappte und die Geschichte wieder ganz wurde.

Gerade kam sie an dem See vorbei, in dem sie als Kinder Kaulquappen gefangen hatten. Sie füllten sie in ein Einweckglas und wollten beobachten, wie Frösche daraus wurden. Leider dachte niemand daran, einen Deckel auf das Glas zu tun und so hatte die Katze ihren biologischen Forschungen ein Ende gesetzt.

Sie musste lächeln. Hier am See hatte sie auch ihren ersten Kuss bekommen, mit neun. Buck und Ben, die Zwillingsbrüder aus der Nachbarschaft, hatten sie öfter abgeholt. Räuber und Schandarm war ihr Lieblingsspiel gewesen. Meistens musste Nora das Opfer sein und irgendwo reglos herumliegen. Einmal wollte Ben sie zum Abschied auf den Mund küssen. Instinktiv hatte sie den Kopf weggedreht, und er traf nur ihr rechtes Ohr. Das Gefühl seiner feuchten Lippen und das schmatzende Geräusch hatte sie nie vergessen.

Lautes Hupen katapultierte sie unsanft in die Gegenwart. Ihr gegenüber an der Kreuzung stand Uwe. Er ließ die Scheibe seines Lieferwagens herunter und warf ihr im Vorbeifahren eine Kusshand zu. Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger und lachte. Komisch, gerade hatte sie an ihn gedacht, und schon tauchte er auf. So war das in diesem Nest.

Nora bog in die kurze Auffahrt zum Hof ihrer Eltern ein. Sie parkte neben dem Hühnerstall und stieg aus. Sogleich spürte sie, wie die Katze sich an ihre Beine schmiegte. Sie beugte sich hinab, um sie zu streicheln. „Na, altes Mädchen?“ Ihre Eltern hatten immer Katzen gehabt, alle hießen Tante Frieda, egal, ob Weiblein oder Männlein. Einen Unterschied gab es aber natürlich doch. Die weiblichen Tiere sperrte ihre Mutter regelmäßig ein, wenn sie rollig waren. Sie wollte nicht, dass sie Junge bekamen. Früher wäre hier niemand auf die Idee gekommen, Katzen kastrieren zu lassen. Überzählige Katzenbabys wurden seit Urzeiten im Wassereimer ertränkt. Keiner dachte sich etwas dabei. Das hatten Nora und ihre Schwester erst viel später kapiert und waren Else dankbar. Nora schüttelte den Kopf und kam wieder hoch. Was ihr aber auch alles in den Sinn kam, wenn sie hier war!

Ihr Vater humpelte ihr entgegen. Seit Kurzem ging er am Krückstock. Er diente ihm nicht nur als Gehhilfe, sondern auch als Werkzeug, wie ihre Mutter Nora neulich zugeflüstert hatte. Er jagte damit die Hühner in den Stall und pulte das Unkraut aus den Fugen des Gehwegs. Seit ihr Vater sich nicht mehr so wie früher bewegen und auch nicht mehr Fahrrad fahren konnte, hatte er oft schlechte Laune.

Heute aber strahlte er sie an. „Ich war bei Dr. Marx. Alles in Ordnung! Sie sagt, ich könne noch hundert werden!“

„Na, das ist ja toll, Papa.“ Nora umarmte ihn zur Begrüßung. Wie dünn er geworden war! Seine alte, an den Knien abgewetzte Cordhose hielt sich nur dank der Hosenträger auf den schmalen Hüften. Auch die Gartenarbeit hatte er aufgegeben. Er wirkte nicht mehr so kräftig wie noch vor einem Jahr. Von ihrer Mutter wusste sie, dass ihr Vater diverse Tabletten nehmen musste und dass er keineswegs gesund war. Diese Tatsache verschwieg er meistens oder vielleicht verdrängte er sie ja auch. Darin waren viele Männer Meister.

Diese Erfahrung hatte Nora jedenfalls gemacht. Wenn sie plötzlich, wodurch auch immer, zu einem neuen Standpunkt gelangten, vergaßen sie ihre früheren Gegenargumente, als hätte es sie nie gegeben. Sie konnten sich alles schönreden. Da brauchte sie nur an ihren Chef zu denken. Günther würde auch die Vorverlegung des Eröffnungstermins durch die Bürgermeisterin noch als Superidee hinstellen. Wahrscheinlich war diese Art von Anpassung eine Überlebenstaktik, die noch aus der Evolution stammte, überlegte Nora giftig. Sie begann schon wieder, sich zu ärgern. Sie streichelte noch einmal Tante Frieda und ging dann ins Haus.

Es war eine kleine Kate aus dem neuzehnten Jahrhundert, in welcher schon ihre Großeltern gewohnt hatten. Drinnen roch es noch genau wie in ihrer Kindheit: im Flur nach Katze, in der Küche nach gedämpften Kartoffeln für die Hühner und im Wohnzimmer nach Lavendel. Alle Räume lagen in einem Rundgang. Vom Flur ging man rechts in die Küche, von dort ins Wohnzimmer, dann ins Elternschlafzimmer, von da ins Kinderzimmer, das Nora sich mit Hanna geteilt hatte, und von dort gelangte man wieder in den Flur. Eine Treppe führte zum Dachboden, der aber nie ausgebaut worden war. Die Fußböden waren inzwischen gefliest und auch neue Fenster eingebaut worden. Die Einrichtung jedoch hatten ihre Eltern behalten. Ihre Mutter wollte nie einsehen, warum sie ihre schöne Eichenholz-Vitrine, die sie geerbt hatte, gegen eine Anbauwand aus Sperrholz eintauschen sollte.

Nora konnte das gut verstehen. Sie liebte selbst alte Sachen, lediglich im Büro bevorzugte sie moderne, praktische Schränke.

Der einzige Kompromiss, den ihre Mutter gemacht hatte, war die Küchenzeile. Die hatte sie erst vor zehn Jahren noch einmal erneuert.

Else saß im Sessel und las, die alte Patchwork-Decke auf den Knien. Sie trug wie immer einen Rock, an Hosen hatte sie sich nie gewöhnt. Während ihrer Jugendzeit in Friedrichshagen trug keine Frau welche. Die langen, weißen Haare hatte sie zum Knoten aufgesteckt. „Kind, du bist ja schon da!“, rief sie überrascht, als Nora ins Zimmer trat. Schwerfällig stand sie auf. „Ich mach uns erst mal Kaffee.“ Den Roman legte sie aber nicht weg, sondern las noch mit dem Wasserkocher in der Hand die Seite zu Ende.

Nora war jedes Mal fasziniert, wie sehr sich ihre Mutter in ein Buch vertiefen konnte. Früher war ihr nicht selten das Essen angebrannt, weil sie lesend am Herd gestanden und vergessen hatte, im Topf zu rühren. Ihr Vater tat das als ihren „Lesefimmel“ ab. Nora aber war stolz auf die anhaltende Liebe ihrer Mutter zur Literatur und freute sich, dass die Diskussion über Bücher ein wichtiges Gesprächsthema zwischen ihnen war. Am liebsten lasen sie beide historische Romane und konnten stundenlang die Charaktere analysieren und über die Figuren schimpfen, als ob es echte Personen wären.

Nora packte den mitgebrachten Kuchen aus, legte ihn auf einen Teller und setzte sich mit ihren Eltern an den kleinen Küchentisch.

„Ist der von Bäcker Kunkel?“, fragte ihr Vater und langte zu.

„Nein, den hab ich aus der Stadt mitgebracht, Papa, Kunkel ist doch letztes Jahr gestorben, hast du das vergessen?“

„Hat er“, antwortete ihre Mutter für ihn und wischte sich die Krümel vom Mund. „Alles vergisst er, aber so ist das eben mit alten Leuten, da müsst ihr jetzt durch, du und deine Schwester.“

„Damals im Krieg hatten wir gar keinen Kuchen“, ergänzte ihr Vater, „nich‘, Else?“

„Ja, und die Alten hatten keine Altersdemenz, sondern waren einfach nur wunderlich.“

„Stimmt“, nickte Otto, „Demenz hatten wir auch noch nicht. Die wurde erst später erfunden, nich‘, Else?“

Die lächelte verschmitzt, und Nora fragte sich, ob ihre Eltern sie gerade veralberten, als ihr Handy klingelte. Sie kramte in ihrer Tasche danach.

Es war Ralf. „Hallo, Schatz, ich wollte dir nur sagen, dass ich heute später komme. Warte nicht auf mich, es kann ein langer Abend werden. Du weißt doch, die Dienstversammlung ist heute.“ Nein, wusste sie zwar nicht, aber vielleicht hatte er es erwähnt. Nora hörte im Hintergrund lautes Muhen. Dann war er also in irgendeinem Kuhstall.

Noch bevor sie antworten konnte, raunzte Ralf genervt seinen Praktikanten an: „Meine Güte, wie oft hab ich Ihnen schon gesagt, wo Sie die Kanüle ansetzen sollen? So wird das nie was! Entschuldige, Nora, ich muss hier dringend eingreifen, dann also bis morgen. Kuss.“

Nora steckte das Handy zurück in die Tasche. Ihr stand mal wieder ein einsamer Abend bevor. Es wurde wirklich Zeit, dass sie wegkamen von diesem ganzen Stress.

„Musst du schon los?“, fragte Noras Mutter, als sie eine halbe Stunde später aufstand und nach ihrem Autoschlüssel griff. „Ja, aber du weißt doch, Mutti, dass ich nächste Woche wiederkomme.“

„Wann geht eigentlich eure Weltreise los?“ Die Frage ihrer Mutter klang etwas ängstlich.

Nora hatte sie auch schon mehrmals beantwortet. „Wenn alles klappt im Oktober. Und bevor du fragst: in sechs Monaten sind wir wieder hier.“

„Sechs Monate sind eine lange Zeit“, sagte ihre Mutter leise.

„Denn kann ick all dot sin!“ Ihr Vater wechselte ins Plattdeutsche, was in letzter Zeit öfter vorkam.

Ihre Eltern hatten miteinander immer Platt gesprochen, mit Nora und ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Hanna aber nie. Sie sollten es in der Schule nicht so schwer haben und etwa Hochdeutsch als erste Fremdsprache lernen müssen.

„Vorhin wolltest du noch hundert werden, Papa.“ Sie verkniff sich das „schon vergessen?“ und fügte noch hinzu: „Ihr wisst doch, dass Hanna sich dann um euch kümmern wird. Im Herbst zieht sie wieder nach Friedrichshagen, das Haus ist ja schon fast fertig.“

Manchmal dachte Nora wirklich mit schlechtem Gewissen an ihr Vorhaben, so lange wegzufahren. Was, wenn ihre Eltern inzwischen starben? Aber letztendlich hatten Else und Otto ihre Töchter von jeher ermuntert, ihr eigenes Leben zu führen. Beide waren früh aus dem Haus gegangen. Und einsam waren ihre Eltern nicht. Sie hatten einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, glücklicherweise auch unter jüngeren Leuten. Ihre Mutter hatte bis zur Rente in einem Waisenhaus gearbeitet. Viele ihrer damaligen Schützlinge hielten Kontakt und besuchten sie mit Kindern und Enkeln. Außerdem wurde Nachbarschaftshilfe in Friedrichshagen großgeschrieben.

„Ach ja, was ich noch sagen wollte, Uwe kümmert sich um euren Garten, ich habe beim Klassentreffen mit ihm gesprochen.“

„Oh, das ist schön“, freute sich ihre Mutter, „ob er auch ein paar Schalen bepflanzt?“

„Sicher, alles, was du willst, Mutti, er macht uns einen Freundschaftspreis.“

„Der hat doch keine Ahnung, das kann ich alles machen“, krähte ihr Vater entrüstet.

Leider nicht mehr, dachte Nora, laut sagte sie: „Er kann dir ja ein bisschen helfen.“ Sie zwinkerte ihrer Mutter zu. „Jetzt muss ich aber los. Falls ich noch was einkaufen soll bis nächsten Mittwoch, ruft mich an.“ Im Rückspiegel sah sie ihren Vater mit dem Stock in Richtung Hühnerstall humpeln.

Pläne sind zum Ändern da

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