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Am Montag ging Nora mit Leo in das Depot des ehemaligen Stadtmuseums, das sich unweit der Galerie im Hinterhof eines Stadthauses befand. Das Wetter war schön; sie liefen langsam die paar Straßen entlang. Nora arbeitete gern mit Leo zusammen. Vor zehn Jahren hatten sie sich kennengelernt, als er sich erfolgreich für die neue Stelle des Restaurators in der Galerie beworben hatte. Beide mochten sich auf Anhieb. Für ihn war die Sache aber viel ernster. Er machte keinen Hehl aus seiner heftigen Verliebtheit. Er umwarb sie nach Kräften, und es störte ihn nicht, dass sie verheiratet war. Sie fand ihn witzig und einfühlsam.

Beinahe, aber nur beinahe, hätte sie seinem Drängen nachgegeben.

Sie hatte die vierzig überschritten und kämpfte mit einer leichten Krise. Bea war gerade ausgezogen, und irgendwie machte ihr die Leere im Haus zu schaffen.

Ralf schien die Abwesenheit seiner Tochter nicht zu stören. Er arbeitete genau so viel wie vorher.

Nora jedoch fragte sich ständig, was das Leben wohl noch für sie bereithalten würde und ob das jetzt alles gewesen sei. Sie fühlte sich schrecklich alt, weil sie jetzt kein Kind mehr zu bemuttern hatte. Da kamen ihr die Aufmerksamkeiten und das Werben von Leo gerade recht.

Sie ging mit einem Hochgefühl zur Arbeit. Einmal, als sie allein in seiner Werkstatt waren, ließ sie es zu, dass er sie küsste. Sie war über sich selbst erschrocken. Nach dem Urlaub stellte sie unmissverständlich klar, dass er sich keine Hoffnungen zu machen bräuchte. Sie wolle ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen. Wenn sie ehrlich war, hatte ihr nur die Vorstellung gefallen, noch einmal eine frische Verliebtheit zu erleben. Sie liebte Ralf, das war ihr in der Ruhe und Abgeschiedenheit Norwegens wieder klargeworden.

Leo hatte ihre Entscheidung akzeptiert. Geblieben war eine tiefe, jedoch nur kollegiale Freundschaft zwischen ihnen, denn zu Hause konnte Nora ihn nach dieser Vorgeschichte kaum einführen. Sie hatte sich zwar nichts vorzuwerfen, aber umgekehrt hätte sie auch keine Fast-Geliebte von Ralf auf Geburtstagspartys geduldet.

Inzwischen hatten sie das Depot erreicht. Dieses befand sich in einem ungenutzten Bürogebäude der Stadtverwaltung. Es stellte sich heraus, dass die beiden früheren Mitarbeiter des aufgelösten Museums gute Arbeit geleistet hatten. Beim Auszug hatten sie alles sicher verpackt und beschriftet. Und es gab zumindest eine ziemlich vollständige Kartei über die einzelnen Stücke, die Nora schon gesichtet hatte. „Wonach suchen wir denn genau? Was hast du dir für die Darstellung des neunzehnten Jahrhunderts in Neustadt vorgestellt?“, fragte Leo. Er sah irgendwie unausgeschlafen aus, fand Nora. Er hatte tiefe Augenringe und war ziemlich nervös. Zum zigsten Mal versuchte er, sich das Rauchen abzugewöhnen. Das würde wohl auch diesmal nicht klappen. Nicht, wenn er das nur für eine neue Liebe tat, die das von ihm verlangte.

„Ich dachte an Zeugnisse der Porzellanmanufaktur Pankmöller & Co., die 1872 gegründet wurde. Sie ist zwar 1928 pleite gegangen, lief aber bis dahin ganz gut. Ich glaube, das Museum hat etwas aus dem Nachlass der Familie erhalten. Das Kaffeeservice mit dem Veilchen-Muster wurde sogar an den Herzog geliefert. Dann müsste laut Kartei etwas aus der Drechslerei Kowalke existieren. Sie stellte im Familienbetrieb Holzspielzeug her. Erwin Kowalke hatte neun Söhne, die alle im Geschäft halfen. Manche drechselten wie der Vater, andere bemalten das Spielzeug. Nachdem der alte Kowalke vierzig Jahre Erfolg und seiner Familie ein schönes Haus am Stadtrand gebaut hatte, wurde er 1910 von einer Straßenbahn in Berlin überfahren.“ „Puh!“, machte Leo. „Und dann? Lass mich raten: Der älteste Sohn übernahm den Betrieb.“ „Stimmt. Heinrich. Er konnte sich aber nicht mehr gegen die süddeutsche Konkurrenz durchsetzen. Als der Erste Weltkrieg begann, wurden die jüngeren Brüder eingezogen. Er löste die Spielzeug-Manufaktur auf und drechselte nur noch Gebrauchsgegenstände. Die verkaufte er aus dem Rucksack, indem er über Land zog. Die Keramikerin Maria Bruhn in der Fiedlerstraße ist übrigens seine Urenkelin. Falls wir hier nicht fündig werden, könnten wir sie auch fragen. Sie hat bestimmt noch Spielzeug aus ihrer Familie.“

„Was du alles weißt! Du hast dich ja richtig reingekniet“, staunte Leo.

„Das musste ich doch“, rief Nora aus, „und es hat mir auch großen Spaß gemacht.“ Sie fühlte, dass sie ganz rote Wangen bekommen hatte. „Deshalb will ich auch, dass die Ausstellung gut wird und die Neustädter stolz auf ihre Geschichte sein können. Und als Letztes suchen wir etwas zur Eisenbahn. Neustadt wurde ja 1890 an das Bahnnetz angeschlossen. Es ist in der Literatur von einem Gemälde die Rede, das die erste Ankunft eines Zuges auf dem Neustädter Bahnhof zeigt. Ein Künstler namens W. Ernst hat es gemalt. Alle dachten, das sei Wilhelm Ernst. Aber es war eine Frau, nämlich Wilhelmine Ernst, die das Bild schuf. Sie war die Tochter des hiesigen Altermanns der Gewandschneider. Im neunzehnten Jahrhundert war es undenkbar für eine junge Frau aus besseren Kreisen, eigenes Geld zu verdienen, einem Beruf nachzugehen, noch dazu dem einer Künstlerin. Aber genau das wollte sie und äußerte diesen Wunsch gegenüber ihren Eltern.“

„Sie waren nicht begeistert, oder?“, vermutete Leo. „Natürlich nicht“, fuhr Nora fort. „Das fragwürdige Argument ihres Vaters lautete, dass sie damit anderen, die es nötig hätten zu arbeiten, ,das Brot nehmen würde‘. Ihre Aufgabe war es, einen reichen Mann zu heiraten, Kinder zu bekommen und von ihrem Erbe zu leben. Sobald sie volljährig war, ging sie nach Berlin, um bei Professoren zu lernen, die private Kunstschulen betrieben. Sich an einer Universität einzuschreiben, war Frauen ja damals verboten. Sie war ziemlich erfolgreich. Zeitlebens signierte sie aber mit W. Ernst, damit niemand in Neustadt auf die Idee kam, dass ihr Name sich dahinter verbarg. Dieses Bild müssen wir hier finden. Es war 1895 auf der Großen Berliner Kunstausstellung. Und rate mal, wer es gekauft hat?“ „Keine Ahnung, ein Galerist?“, versuchte Leo es.

„Ihr Vater. Vielleicht war er doch stolz auf sie. Es muss dann direkt aus dem Nachlass ihres Großneffen in das Museum gekommen sein.“ Nora hielt inne und sah Leo an. „Sag mal, was kaust du da eigentlich schon wieder? Gab es nicht gerade erst Frühstück?“

Leo zog einen Schokohasen aus der Tasche seines Kittels. Nora stemmte die Hände in die Hüften. „Du hast noch Schokolade von Ostern übrig? Und wann wolltest du mir das beichten?“

Leo schaute sie einen Moment verdutzt an. Wie auf Kommando prusteten sie beide gleichzeitig los. „Ach, Nora, schön, dass wir immer nochmal zusammen lachen können! Ist ja grade alles bescheiden genug.“

„Deine neue Liebe hat sich also schon wieder verabschiedet?“, fragte Nora vorsichtig.

Er nickte. „Sieht wohl so aus. Ich hab einfach kein Glück bei Frauen. Weiß auch nicht, was ich jedes Mal falsch mache.“

Sie nahm ihn in den Arm. „Du machst nichts falsch. Du hast einfach noch nicht die Richtige gefunden.“

„Du hast gut reden. Du hast ja den Richtigen.“

Nora schwieg.

„Sie hat gestern Abend Schluss gemacht. Immerhin, diesmal hat es sechs Monate gehalten.“ Er lächelte schief und sah auf einmal sehr jungenhaft aus. Die grauen Augen blickten traurig und verloren. „Sie meint, dass sie keine Fernbeziehung mehr will. Nach Neustadt ziehen will sie aber auch nicht. Dabei hätte sie es als Lehrerin sicher einfach gehabt, Arbeit zu finden. Sie weiß ganz genau, dass ich wegen Lukas nie weggehen würde.“ Lukas war sein Sohn aus einer früheren Beziehung, der bei seiner Mutter lebte. Neun musste er jetzt sein, überlegte Nora. „Und vielleicht will sie ein Kind, dafür wird es Zeit mit Anfang vierzig. Das hätte sie mir auch gleich sagen können. Ich bin zweiundfünfzig, ich will bestimmt keine Kinder mehr. Wenn ich das eher gewusst hätte, dann … Ach, ich weiß auch nicht, verliebt hätte ich mich trotzdem, ist ja dauernd das Gleiche.“ Er holte tief Luft. „Okay, ich geh mal eine rauchen; wenn ich wieder hier bin, durchforsten wir die Regale und Kisten, die infrage kommen.“

Als er zurück war, hatte Nora das Gemälde von Wilhelmine Ernst gefunden. Es war wunderschön. Man merkte, dass die Künstlerin bei Impressionisten in die Lehre gegangen war. Die Lektion vom Zusammenspiel der Farbe und des Lichts hatte sie gelernt. Das Bild zeigte eine Dampflok bei der Einfahrt in den Bahnhof. Der Lokführer schaute aus dem Fenster und schwenkte seine Mütze. Der dicke Heizer lachte, breitbeinig auf seine Kohlenschaufel gestützt, der wartenden Menge zu. Das musste wohl ein großer Tag für die Neustädter gewesen sein. Viel Volk war auf den Beinen, um den Zug zu empfangen. Die Kleider der Mädchen und Frauen leuchteten; viele hatten Kränze aus bunten Blumen im Haar. Nora war begeistert. „Ich weiß jetzt schon, dass es das Lieblingsbild der Neustädter werden wird. Ich muss nur überlegen, wo wir es am wirkungsvollsten platzieren.“

Leo nickte. „Den Firnis werde ich abnehmen. Bis auf die kleine Fehlstelle da oben rechts scheint es in Ordnung zu sein. Aber der Rahmen ist beschädigt. Das krieg ich hin.“ Bis zum Mittag hatten Nora und Leo alles gefunden, was sie suchten und ins Zwischenmagazin gebracht.

Was Nora allerdings noch ans Tageslicht befördert hatte, verschwieg sie Leo: Ein kleines, in braunes Leder gebundenes Büchlein. Es hatte neben dem Gemälde von Wilhelmine Ernst in einem Pappkarton gelegen, zusammen mit ein paar Haarspangen aus Schildpatt, Kämmen, einem silbernen Löffel und anderen Kleinigkeiten. Der Name auf dem Karton sagte Nora nichts, „Nachlass Marie Kubelka“ hatte darauf gestanden. Nur das Buch hatte sie interessiert, ein Tagebuch aus dem Jahre 1888. Wem mochte es wohl gehören? Marie Kubelka? Es war fest mit einem Band verknotet, sodass Nora nicht sofort hineinschauen konnte. Wenn es jemandem aus Neustadt gehört hatte, der im neunzehnten Jahrhundert hier gelebt hatte, würde es vielleicht neue Details zur Stadtgeschichte liefern; die wollte sie als Erste erfahren. Vorsichtshalber hatte sie das Buch unauffällig in ihre Handtasche gleiten lassen.

Zurück im Büro ging Nora die E-Mails des Architekten durch, die in der Zwischenzeit gekommen waren. Jörg Lehmann hatte die vervollständigten Pläne für die beiden Räume geschickt. Schon im frühen Stadium der Ausstellungsvorbereitung war die Arbeitsgruppe der Stadtverwaltung zusammengekommen und hatte den Fahrplan vorgegeben. Die Ausstellungsmacher sollten bei der Darstellung der Stadtgeschichte nicht mehr der Chronologie folgen, sondern nach Themen geordnet vorgehen. Nora wusste, dass das der Trend in großen Museen war. Dort tobten sich teuer bezahlte Architekten aus, die oft riesige Bauten in dafür zu kleinen Räumen errichteten, um dann möglichst wenige Objekte auszustellen. Am Ende sah es überall gleich aus. Sogenannte Medienstationen ersetzten die Originale durch Fotos. Klar, dass die Stadtverwaltung in Neustadt und ganz besonders die Schneekönigin das Modernste wollten, wenn sie schon Geld in die Hand nahmen. Glücklicherweise war es allerdings um die Finanzen doch nicht so rosig bestellt, und man musste im Rathaus kleinere Brötchen backen. Am Ende redete niemand mehr von Themeninseln. Bei nur zwei Räumen wäre das auch Unfug gewesen, fand Nora. Sie mussten sich sowieso an den vorhandenen Ausstellungsobjekten orientieren. Mit dem Plan von Herrn Lehmann war Nora dann ganz zufrieden. Die Vitrinen waren den Gegebenheiten der Villa angepasst und nicht allzu großzügig umbaut. Für lichtempfindliche Objekte hatte der Architekt Schubladen vorgesehen, die bei Bedarf von den Besuchern geöffnet werden konnten. Medienstationen sollten später nachgerüstet werden. Dafür reichte das Geld erst mal nicht. Nora sah sich die Pläne noch einmal an. Sie wiesen Lücken für die fehlenden Objekte auf.

Spätestens nächste Woche, schrieb Lehmann, müsse sie die Daten liefern, damit die Vitrinen in Auftrag gegeben werden konnten.

Sie griff zum Telefonhörer. „Hallo, Johannes, ich wollte Sie noch bitten, die neuen Objekte zu fotografieren. Sie sind alle schon im Zwischenmagazin.“

„Ich weiß. Leo hat es mir gesagt. Ich fange gleich an.“

Nora holte Luft, aber bevor sie weiterreden konnte, fuhr ihr Praktikant fort: „… und mache alles, was wir besprochen haben. Die Liste bekommen Sie morgen früh, Chefin.“

Sie lächelte. „Danke! Viel Spaß. Es ist ein sehr schönes Gemälde dabei. Sie werden Ihre Freude daran haben.“ Sie legte auf.

Während des Telefonats mit Johannes hatte Nora die ganze Zeit an das Tagebuch in ihrer Tasche gedacht. Jetzt holte sie es hervor und betrachtete es von allen Seiten. Es war fast quadratisch und maß rund fünfzehn Zentimeter auf jeder Seite. Die Schrift auf dem Deckel war goldfarben. Die metallene, leicht verrostete Schließe war mit einem starken Band verknotet. So sehr Nora sich auch bemühte es aufzuknüpfen, gelang es ihr nicht, den Knoten zu lösen. Langsam wurde sie ungeduldig und nahm eine Nadel zu Hilfe. Doch auch damit bekam sie die Schlaufe nicht auf. Sie beschloss, das Problem auf den nächsten Tag zu verschieben und legte das Buch in die unterste Schreibtischschublade. In dem Moment klingelte ihr Handy. Es war Sanne. „Sanne, endlich, bist du gut gelandet?“ Nora freute sich, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Sie war drei Wochen im Ausland gewesen und sie hatten kaum voneinander gehört, abgesehen von ein paar SMS. „Ja, alles gut. Ich muss erst mal ins Bett. War sehr anstrengend, aber auch schön. Erzähl ich dir dann. Wann hast du denn Zeit für ein Glas Wein?“

Nora überlegte nicht lange. „Wie sieht es Freitag aus? Ich könnte bei dir übernachten. Und vorher gehen wir was essen.“ Sanne gähnte herzhaft. „Klingt gut, bis dann.“

Pläne sind zum Ändern da

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