Читать книгу Der kleine Alltagsstoiker - Dr. Jörg Bernardy - Страница 11

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WIR ÜBERSCHÄTZEN UNSERE FÄHIGKEIT ZUR SELBSTERKENNTNIS

»Betrachte die ganze Natur, wovon du nur ein winziges Stücklein bist, und das ganze Zeitmaß, von welchem nur ein kurzer und kleiner Abschnitt dir zugewiesen ist, und das Schicksal, wovon das deinige nur einen Bruchteil bildet.«

(Marc Aurel)

In vielen Momenten unseres Alltags handeln wir im Autopiloten. Das heißt, wir denken nicht weiter darüber nach, warum wir etwas machen. Die Fragen, wer wir sind und welche Rolle wir im Universum einnehmen, sind dabei erst recht unwichtig. Oder wie würden Sie auf die Frage »Wer sind Sie?« antworten? Sicher nicht, indem Sie anfangen über Ihren Platz in der Weltordnung und im Kosmos zu philosophieren. Falls doch, sind Sie bereits stoischer, als Ihnen vielleicht bewusst ist. Der wahrscheinlichere Fall ist jedoch, dass das Universum eines der letzten Dinge ist, die uns bei der Frage »Wer bin ich?« in den Sinn kämen. Und im Autopiloten des Alltags zählt ohnehin nur, was wir gerade tun müssen oder wollen.

Wie also würde Ihre Antwort ausfallen, wenn Ihnen die Frage gestellt wird: »Wer sind Sie?« Nehmen Sie sich ein paar Momente, um darüber nachzudenken. Meine Vermutung: Sehr wahrscheinlich würden Sie Ihren Namen nennen, Ihren Beruf angeben und erzählen, woher Sie kommen. Möglicherweise würden Sie noch in zwei kurzen Sätzen Ihre Familienverhältnisse umreißen, ob Sie Single oder verheiratet sind, Kinder haben, alleinerziehend sind oder in einer Partnerschaft mit dem Status »kompliziert« oder »rundum zufrieden« leben. Viel mehr aber auch nicht. Womöglich wäre der Zusatz »kompliziert« schon zu privat, und überhaupt, inwiefern sagt er etwas darüber aus, wer wir sind? Diese Information gäbe vielmehr Aufschluss über unseren derzeitigen Gemüts- und Beziehungszustand.

Wir sind mehr als die Summe unserer Teile

Zurück zu der Frage: »Wer sind Sie?« Selbst wenn Sie eine Reihe von Charaktereigenschaften aufzählten, die Ihrer Meinung nach wesentlich für Sie sind, und wenn Sie darüber hinaus Ihren momentanen Gefühlszustand beschrieben, wäre für die Frage »Wer sind Sie?« immer noch nicht viel gewonnen. Wir können sie nicht so einfach aus dem Stand beantworten, ja, nicht einmal, wenn wir länger darüber nachdenken. Es bräuchte schon einen zehnbändigen Roman à la »Die Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust, wenn wir den zahlreichen Facetten unseres Lebens und den unendlich vielen Empfindungen und Gefühlsregungen unseres Ichs auch nur annähernd gerecht werden wollten. Aber selbst dann würde die Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« für die meisten von uns sehr persönlich und vor allem äußerst subjektiv ausfallen.

Uns Menschen aus dem 21. Jahrhundert erscheint das eine ganz normale Denk- und Vorgehensweise, die sich durch unsere gesamte Kultur zieht: Alles muss subjektiv, individuell und persönlich sein! Dieser Anspruch ist für uns so selbstverständlich, dass jede Form von Objektivität und universeller Wahrheit unvorstellbar geworden ist. Man könnte es auch so ausdrücken: Die alles dominierende subjektive Perspektive ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir hinterfragen sie nicht mehr. Es gibt jedoch gute Gründe, warum wir unserem Hang zu subjektiver Selbsterkenntnis skeptisch begegnen sollten. Unser subjektives Denken und Fühlen ist nämlich gar nicht dazu geeignet, dass wir erkennen, wer wir sind.

Wie wir die Selbsterforschungsillusion umgehen

Wer sich selbst um jeden Preis erkennen möchte, tappt womöglich in die Falle der Selbsterforschungsillusion. Gemeint ist damit die Annahme, wir könnten allein durch Gedankenkraft und Selbstbeobachtung unsere wahren Absichten, Neigungen und Lebensziele erkennen. Sprich: Unser wahres Selbst wäre uns vollkommen zugänglich, wenn wir nur lange und genau genug danach suchen. Doch das ist ein Irrtum. Denn wir machen dabei das zum Kompass, was alles andere als zuverlässig ist: unsere Gefühle. Auch wenn einige Menschen das Gegenteil behaupten und propagieren, man solle bei allen Entscheidungen einfach seinen Gefühlen, seiner Intuition oder seiner inneren Stimme folgen, hört sich das zwar sehr verlockend an, wird uns aber dennoch nicht an unser gewünschtes Ziel – also zu Selbsterkenntnis – bringen.

»Die Selbstbeobachtung unserer momentanen Empfindung (…) ist fehlerhaft, unzuverlässig und irreführend – nicht nur zufällig falsch, sondern massiv und stetig falsch«, gibt der US-amerikanische Psychologe Eric Schwitzgebel von der Universität Stanford unmissverständlich zu verstehen. Nimmt man die Erkenntnisse der Psychologie ernst, dann muss man einsehen: Kaum etwas ist anfälliger für Fehler, Missverständnisse und Irrtümer als unsere momentanen Empfindungen und Gefühle. Daher können wir durch ständige Selbsterforschung unseres Innenlebens auch niemals zu einer befriedigenden Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« kommen.

Die Kunst der negativen Selbsterkenntnis

Die Stoiker wählen einen radikal andersartigen Weg, den man auch als Kunst der negativen Selbsterkenntnis bezeichnen könnte. Manchmal fällt es leichter zu sagen, wer wir nicht sind, als zu sagen, wer wir sind. Wir sind kein Hund, kein Tisch, kein Engel, kein Gott, keine Pflanze und auch kein Stoiker. Aber wir können wie ein Stoiker die Grenzen unseres Ichs erkennen und damit all das, was wir nicht sind. Wir leben zum Beispiel nicht unendlich, sondern unsere Existenz ist begrenzt, wir sind nicht unvergänglich, sondern vergänglich, wir haben nicht alle Freiheiten der Welt, sondern es gibt so etwas wie ein Schicksal, dem wir ausgeliefert sind. Der Tod, die Gefühle anderer, die Familie, in die wir geboren werden, Naturkatastrophen, Kriege und andere Krisen, all das entzieht sich unserem direkten Einfluss – und bestimmt genau dadurch über unser Glück oder eben Unglück.

Unsere Existenz wird aus stoischer Weltsicht also erst durch ihre Grenzen und ihre Begrenzung erkennbar, wie zum Beispiel die Einsicht, dass wir in das große Ganze des Universums eingebunden und vergänglich sind. Statt beim subjektiven Ich und dessen subjektiven Empfindungen anzufangen, geht es in der stoischen Selbsterkenntnis zunächst um die Grenzen und Bedingungen der eigenen Existenz. Was hier zunächst etwas abstrakt und befremdlich für unsere modernen Ohren klingt, ist ganz konkret gemeint. Dafür muss man verstehen, wie die Stoiker ihre Welt gesehen haben. Für sie war alles im Universum auf harmonische Weise miteinander verbunden.

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IMPULS: PLATZ SCHAFFEN FÜR DAS GROSSE GANZE IM ALLTAG!

Vermeiden Sie eine allzu subjektive und persönliche Bewertung Ihres Lebens, Ihrer Lebensumstände und Ihres Innenlebens. Nehmen Sie sich zwischendurch immer mal wieder Zeit, um das große Ganze in den Blick zu nehmen. Versuchen Sie die Grenzen Ihrer Existenz zu erforschen und machen Sie sich immer wieder bewusst, dass alles mit allem verbunden ist. Auch Sie sind ein Teil dieses Ganzen. Schaffen Sie in Ihrem Leben Platz für diese Erkenntnis und Erfahrung, indem Sie in der Natur spazieren gehen und mit fremden Menschen ein paar freundliche Worte wechseln. Indem Sie meditieren und sich ab und zu aus dem Alltagsstress ausklinken. Fokussieren Sie sich dabei nicht nur auf Ihr flüchtiges Ich, das in seinen Empfindungen und Regungen manchmal höchst schwankend, widersprüchlich und unberechenbar sein kann. Sie können sich ohnehin nicht vollständig durchleuchten und Ihre Selbsterkenntnis wird niemals vollkommen oder abgeschlossen sein.

»Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd«, schreibt der stoische Kaiser Marc Aurel in seinen »Selbstbetrachtungen«. »Alles Geschaffene ist einander beigeordnet und zielt auf die Harmonie derselben Welt.« Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser zunächst harmlos und geradezu romantisch klingenden Vorstellung eine radikale Weltsicht. Das Universum ist für die Stoiker nicht einfach nur das Ergebnis chaotischer Willkür oder einer zufälligen Aneinanderreihung von beliebigen Ereignissen. Nein, das Universum beruht aus Stoikersicht auf einer höheren Ordnung, es wird durch und durch von vernünftigen Gesetzen und Prinzipien bestimmt. Letztlich ist alles, was in der Welt vorkommt, ein Produkt dieser unergründlichen und übermächtigen Harmonie, die durch alles wirkt.

Die Schattenseiten der harmonischen Welt

Die Corona-Krise ist ein Beispiel für die negative Auswirkung der von den Stoikern angenommenen höheren Ordnung, in der alles mit allem zusammenhängt. Sie zeigt, wie ein kleines Element eine Reihe von irreversiblen Ereignissen auslösen kann und dadurch die gesamte Weltordnung beeinflusst: Schmerzlich mussten wir am eigenen Leib erfahren, wie aus einem unglücklichen Kontakt zwischen Mensch und Tier heraus eine Seuche entsteht, die sich aufgrund einer durch und durch vernetzten Welt zu einer globalen Pandemie entwickelte. Die sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, wie etwa der Lockdown und die Unterstützungshilfen, führten wiederum zu einer weltweiten Rezession und Wirtschaftskrise.

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DIE SCHICKSALSGÖTTIN FORTUNA

Das Schicksal spielt im Weltbild der Stoiker eine wesentliche Rolle. Sie benutzten dafür häufig die Figur der Fortuna, die als Glücks- und Schicksalsgöttin über Reichtum und Armut, Erfolg und Misserfolg, manchmal sogar über Leben und Tod entscheidet. Häufig wird sie mit einem Rad dargestellt, das sogenannte Glücksrad, an dem sie mit verbundenen Augen dreht. Wer oben auf dem Rad sitzt, erlebt Glück und Erfolg. Unten warten Unglück und Misserfolg. Niemand hat einen festen Platz. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man oben oder unten landet.

Fortuna war eine der bekanntesten und prominentesten Göttinnen in der antiken Welt. Selbst der ungebildetste Einwohner im Römischen Reich kannte sie. Bis heute macht sich ihr Einfluss in unserer Sprache bemerkbar, wenn wir zum Beispiel vom »Leben als Glücksspiel« sprechen oder »Jagd auf die Glücksgöttin« machen.

Ein anderes Beispiel für die globale Verflechtung ist der Klimawandel, der sich nicht nur lokal an einem Ort bemerkbar macht, sondern weltweit das Zusammenleben der Menschen verändert und letztlich auch gefährdet.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Strategie der Stoiker genauso klug wie radikal. Statt sich in subjektiven Empfindungen und Vorstellungen zu verlieren, schauen sie sich ganz genau an, was uns als Menschen begrenzt und was sich größtenteils unserem Einfluss entzieht. Der Ausbruch und die Auswirkungen einer Pandemie zum Beispiel entziehen sich unserer persönlichen Kontrolle. Im stoischen Weltbild sind alle Menschen durch ihr Schicksal, ihre Vergänglichkeit, die Naturgesetze, ihren Charakter, ihre angeborenen Fähigkeiten und durch ihre Unzulänglichkeiten gleichzeitig eingeschränkt und miteinander verbunden.

Der kleine Alltagsstoiker

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