Читать книгу Der kleine Alltagsstoiker - Dr. Jörg Bernardy - Страница 14
ОглавлениеDIE EIGENEN UNZULÄNGLICHKEITEN EINSEHEN
»Du musst dir selbst auf die Schliche kommen, bevor du dich läutern kannst.«
(Seneca)
Einzusehen, dass Persönlichkeit nichts Fertiges und Kompaktes ist, ist eine Sache. Wichtig im Zusammenhang mit Selbsterkenntnis ist aber auch, unsere Unzulänglichkeiten und dunklen Seiten zu erkennen und zu billigen. Sie können Ihnen zum Beispiel begegnen, wenn Sie »Mensch ärgere Dich nicht« spielen. Erinnern Sie sich an Ihre extremsten Gefühle und Reaktionen, die Sie während des Spielens durchlebten und bei Ihren Mitspielern beobachteten, also an Situationen, in denen Sie oder andere die Kontrolle verloren oder kurz davor waren, es zu tun. Wie fühlte es sich an, als Sie wütend, verärgert und missgünstig wurden? Wie war es, als Sie sich über Ihr Pech oder einen Mitspieler fürchterlich aufregten, als Sie die Fassung verloren und vielleicht sogar kindische Verhaltensweisen annahmen?
Psychologen sprechen von Regression, wenn Erwachsene in kindliche Verhaltensmuster zurückfallen. Besonders häufig geschieht das in emotionalen Ausnahmesituationen, bei einem explosiven Streit mit dem Partner, einer heftigen Auseinandersetzung mit den Kindern oder eben bei einem Gesellschaftsspiel wie »Mensch ärgere Dich nicht«. Alle genannten Beispiele sind imstande, das Schlimmste aus uns rauszuholen, was in uns steckt: Konkurrenzdenken, Ärger, Misstrauen, Missgunst, Wut und Aggression. Plötzlich ertappen wir uns dabei, wie wir andere übers Ohr hauen wollen oder ihnen nicht einmal mehr den kleinsten Vorteil gönnen.
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IMPULS: SPIELERISCH DIE KONTROLLE VERLIEREN
Setzen Sie sich mit Ihrer Familie oder mit Freunden zusammen und spielen Sie »Mensch ärgere Dich nicht«, »Risiko« oder »Monopoly«. Bei allen drei Spielen ist es beinahe unmöglich, gänzlich und wie gewohnt die Fassung zu wahren. Wenn Sie nur lange genug spielen, werden Sie und Ihre Mitspieler an die Grenzen Ihrer alltäglichen Gefühlswelt kommen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob Sie verlieren oder gewinnen. In beiden Fällen werden starke Emotionen in Ihnen ausgelöst.
Spielen Sie mehrere Runden, damit jeder in den Genuss des Verlierens und Gewinnens kommt, und seien Sie nicht überrascht, wenn Sie sich oder die anderen nicht mehr wiedererkennen. Genau dieser Effekt ist erwünscht, weil Sie in diesem Moment eine der angestrebten ungeliebten Wahrheiten erblicken.
Spielen Sie zur Auflockerung zwischendurch oder hinterher ein paar Runden »Jenga«. Bei diesem heiteren Geschicklichkeitsspiel werden Sie wieder Leichtigkeit erfahren, gemeinsam lachen und sich miteinander verbunden fühlen.
Sich selbst auf die Schliche kommen
Natürlich sind »Mensch ärgere Dich nicht« oder auch »Risiko« und »Monopoly« nur Spiele mit ein paar einfachen Regeln – und eigentlich geht es am Ende um nichts oder zumindest nicht viel. Genau das macht sie aber zu einem perfekten Instrument, um sich selbst besser kennenzulernen. Denn kaum etwas bringt uns so schnell und wirksam mit uns selbst in Kontakt wie unsere dunklen Seiten. Dabei fällt es uns gar nicht so leicht, den nackten Tatsachen ehrlich ins Gesicht zu blicken. Psychologen kennen dieses Vermeidungsverhalten zur Genüge. Es ist ein klassischer Selbstbetrug, dem wir alle unterliegen. Denn unser Gehirn ist darum bemüht, unpassende Tatsachen schönzufärben oder auszublenden. Der Selbstbetrug ist der menschlichen Natur quasi als Software einprogrammiert. Und so fällt es niemandem leicht, seine Defizite, Niederlagen, Fehler und Widersprüche einfach so anzunehmen. Wir alle haben die Tendenz, unsere schlechten Eigenschaften zu überspielen und anders darzustellen, als sie wirklich sind. Was sich schon am Selbstbild unserer Wahl erkennen lässt: Am liebsten sehen wir uns selbst als gefasste und entspannte Persönlichkeiten, die sich und ihre Affekte im Griff haben. Dabei sind es gerade Momente des Kontrollverlusts, die uns erlauben, einen ehrlichen Blick auf uns selbst zu werfen.
Mut zur Unzulänglichkeit fördert die Selbsterkenntnis
Es klingt paradox, aber es sind all die Dinge, die wir nicht an uns mögen, die unsere Entwicklung auf besondere Weise anregen. Je ehrlicher wir zu uns sind, desto näher kommen wir uns und desto besser gelingt die Selbsterkenntnis. Eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen hierfür heißt: radikale Akzeptanz. Nur wer sich selbst realistisch sehen kann, mit all seinen Widersprüchen, Fehlern und dunklen Facetten, wird die Frage beantworten können, worin für ihn das gute Leben besteht, und Wege finden, sich dahin zu entwickeln.
Ein Leben ohne Selbsterkenntnis sei wertlos, meinte Sokrates. Nun, man muss es nicht so radikal ausdrücken wie er, allerdings waren sich auch die Stoiker in einer Sache einig: Wenn wir nicht wissen, wer wir sind, können wir auch nicht wissen, was wir brauchen und was gut für uns ist. Die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit ist daher auch nur der »Anfang der Genesung«, wie Seneca schreibt. Dieser Gedanke mag Sie zunächst beunruhigen, aber letztlich führt die Einsicht, unvollkommen zu sein, zu mehr Gelassenheit. Denn wir müssen dann keine Energie mehr darauf verschwenden, bestimmte Seiten abzuwehren und zu leugnen. Wir ersparen uns die Mühe, ein unrealistisches Selbstbild aufrechtzuerhalten.
Wir sollten die Erkenntnis unserer Unzulänglichkeiten und Fehler aber auch nicht übertreiben und nur noch unsere negativen Seiten erkunden. Auch hier gilt es – ganz im stoischen Sinne –, das richtige Maß zu finden. Überschätzen Sie aber vor allem nicht Ihre Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Diese wird gern überbewertet. Zusammengefasst können wir also festhalten: Die radikale Akzeptanz Ihrer Widersprüche und Unzulänglichkeiten wird Sie weiter bringen als jede ausufernde Innenschau, in der Sie sich und Ihre Gefühle vollständig durchleuchten, verstehen und interpretieren wollen.
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AUF EINEN BLICK: SELBSTERKENNTNIS
Dem inneren Geschichtenerzähler misstrauen: Vollständige Selbsterkenntnis ist eine Illusion und ein kompaktes, positives Selbstbild ebenso. Daher sollten wir unseren Hang zu Vereinfachung und Schönfärberei durchschauen und nicht alles glauben, was wir uns über uns erzählen.
Die eigene Begrenztheit anerkennen: Selbsterkenntnis im stoischen Sinne beinhaltet, dass wir uns als Individuen nicht so wichtig nehmen und akzeptieren, dass wir Teil eines großen Ganzen sind, in dem alles mit allem zusammenhängt und alles einem ständigen Wandel unterliegt. Die Suche nach uns selbst ist eine Suche nach unserem Platz und unseren Aufgaben in diesem großen Ganzen.
Über sich selbst hinauswachsen: Der Weg zur Selbsterkenntnis führt also über ein Selbstbild mit offenem Ende sowie die Erkenntnis dessen, was der Zweck unseres Lebens ist. Auf dieser Basis können wir uns verändern, wachsen und uns weiterentwickeln.
Die dunklen Seiten akzeptieren: Nicht zuletzt führt der Weg zu uns selbst über unsere Fehler und schwierigen Eigenschaften. Ein ehrlicher, schonungsloser Blick ist hier gefragt. Je realistischer wir uns selbst sehen, desto mehr können wir zu der Person werden, die wir sein möchten.