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DIE WELT UND WIR: ALLES IST IM WANDEL

»Versenke dich ganz in den Gedanken, wie alles Werdende durch Umwandlung entsteht, und gewöhne dich an die Einsicht, dass die Allnatur nichts so sehr liebt, als das, was da ist, zu verwandeln und Neues von ähnlicher Art zu schaffen; denn alles, was da ist, ist gewissermaßen der Keim dessen, was aus ihm werden soll.«

(Marc Aurel)

Es ist jedes Jahr das Gleiche: Nach einer kargen und langen Winterzeit fängt die Natur langsam an zu erwachen. Erst kommt hier und dort ein wenig Grün zum Vorschein. Zarte Knospen bilden sich und die Tage werden nach und nach ein paar Minuten länger. Die Veränderungen geschehen so langsam und sind so minimal, dass wir sie kaum wahrnehmen. Und dann geht plötzlich alles scheinbar ganz schnell. Die Sonne scheint stärker, die Farben leuchten intensiver, es ist warm und viel länger hell. Ganz so, als sei der Sommer über Nacht hereingebrochen.

Ein Grund für diese Wahrnehmung liegt in unserem Gehirn. Es ist so programmiert, dass es sich an leicht veränderte Umgebungen kontinuierlich und beinahe unmerklich gewöhnt. Denken Sie nur mal an Ihren täglichen Weg zur Arbeit oder an andere Strecken, die Sie regelmäßig zurücklegen. Damit Ihnen etwas auffällt, müssen es schon größere Veränderungen sein, etwa eine neue Baustelle. Das Gleiche gilt für Orte, die wir regelmäßig besuchen, seien es Bahnhöfe, Parkplätze, Kaufhäuser oder Cafés. Die meisten kleineren Veränderungen nehmen wir hin, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass sich diese Orte über die Jahre hinweg sogar sehr stark verändert haben.

Wir verändern uns stärker, als wir glauben

Nicht viel anders verhält es sich übrigens mit uns selbst und unserer Persönlichkeit. Weil wir tagtäglich mit uns zu tun haben, nehmen wir kleinere Veränderungen an unserer Persönlichkeit nur selten wahr. Versuchen Sie sich nur einmal vorzustellen, wer Sie vor 20 oder 30 Jahren waren. Denken Sie dabei nicht an Ihr Aussehen, an Ihren Wohnort oder Ihre Arbeit. Es geht um Ihre Charaktereigenschaften, Ihr Temperament, Ihre Werte und Ihre persönlichen Vorlieben. Vergleichen Sie Ihr heutiges Ich mit der Person, die Sie damals waren. Wie sehr haben Sie sich in den genannten Dingen und Eigenschaften verändert? Nur die wenigsten Menschen würden wahrscheinlich behaupten, dass sie eine komplett andere Person mit einem komplett anderen Charakter geworden sind. Aber die meisten Menschen stellen doch gewisse Unterschiede fest.

Nun eine Frage, die ich auch meinen Workshop-Teilnehmenden bei »The School of Life« (siehe >) immer wieder stelle: Wie stark werden Sie sich in den kommenden 20 Jahren verändern? Gerade im Zusammenhang mit der Frage nach vergangenen Veränderungen zeigen sich erstaunlich eindeutige Ergebnisse: Während die meisten Menschen rückblickend eine deutliche Veränderung an sich feststellen, glauben nur wenige, dass sie sich in Zukunft ähnlich stark verändern werden. Die überwältigende Mehrheit ist davon überzeugt, dass sie sich in den nächsten 20 Jahren viel weniger verändern wird als in den letzten 20 Jahren. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass gerade jetzt unsere persönliche Entwicklung aufhören oder sich radikal verlangsamen sollte?

Warum wir der Vergangenheit mehr trauen als der Zukunft

Nicht selten erliegen wir einer falschen Vorstellung, die der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert »End of History Illusion« nennt (auf Deutsch »Die Illusion vom Ende der Geschichte«). Denn eines steht fest: Wir werden uns in Zukunft ähnlich stark verändern wie in der Vergangenheit. Auch nach weiteren 20 Jahren werden wir eine andere Person sein mit anderen persönlichen Vorlieben, Werten und Eigenschaften.

Daniel Gilbert erfand eine genauso geniale wie einfache Methode, um zu beweisen, wie sehr wir uns mit unserer Selbsteinschätzung täuschen. Sein Experiment bestand aus zwei Fragen.

1. Wie hieß Ihre Lieblingsband vor zehn Jahren und wie viel würden Sie heute für ein Konzertticket zahlen?

2. Wie heißt Ihre aktuelle Lieblingsband und was wären Sie bereit, für ein Konzertticket in zehn Jahren zu zahlen?

Die Antworten auf diese zwei Fragen fallen höchst unterschiedlich aus. Die meisten Menschen würden für ihre aktuelle Lieblingsband in zehn Jahren weitaus mehr zahlen als für ihre damalige Lieblingsband heute. Dieser Unterschied belegt zwei Dinge gleichzeitig:

 Die meisten Menschen fällen solche Entscheidungen aus ihrem gegenwärtigen Bedürfnis heraus, die aktuelle Band auf einem Konzert zu erleben.

 Unsere Vorlieben verändern sich zwar im Laufe der Zeit, aber wir tendieren dazu, unseren aktuellen Entwicklungsstand als das Ende unserer Geschichte zu nehmen.

Die magische Grenze von 40 Jahren

Auch die folgende Frage stelle ich den Teilnehmern meiner Workshops immer wieder: Erleben Sie Ihr Selbst als eher feststehend und unveränderlich, oder glauben Sie, dass es flexibel und im Prinzip Ihr ganzes Leben lang veränderbar ist?

Unter den Antworten gibt es eine erstaunliche Tendenz im Hinblick auf Alter und Geschlecht der Teilnehmenden. Während die meisten bis ungefähr 40 Jahre meinen, dass ihr Selbst im Prinzip veränderbar sei, scheint es ab circa 40 Jahren eine magische Grenze zu geben. Teilnehmende ab diesem Alter und auffällig viele Männer geben an, dass ihr Selbst im Grunde eher feststehend und unveränderlich sei. Stelle ich dieselbe Frage zum Charakter, fallen die Antworten noch deutlicher aus. Allerdings bestätigen Hirnforschung und Psychologie immer wieder aufs Neue das Gegenteil. Unsere Gehirne und Persönlichkeiten sind veränderbar und entwickeln sich ein Leben lang. Laut Daniel Gilbert verändern wir uns sogar rasanter, als wir selbst glauben.

Der kleine Alltagsstoiker

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