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MEIN WEG ZUR STOA

»Du musst dir selbst vertrauen und glauben, dass du auf dem rechten Weg bist, unbeirrt durch die Fußstapfen anderer, die da kreuz und quer laufen.«

(Seneca)

In der Komödie »Kunst« der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza geht es um drei Freunde, die sich allesamt in ihrer Midlife-Crisis befinden. Während sie an ihren charakterlichen Unterschieden verzweifeln, ergibt sich ein unterhaltsames Panorama ihrer Neurosen und problematischen Beziehungen. In skurrilen Szenen und Dialogen offenbaren sie nach und nach ihre persönlichen Macken, streiten sich und finden wieder zueinander. Kurz bevor der Streit so richtig eskaliert, empfiehlt der arrivierte Dermatologe Serge seinem Freund Marc das Buch »Vom glücklichen Leben«. »Lies Seneca«, sagt Serge, als Marc ihm gesteht: »Ich bin zu empfindlich, ich bin zu nervös … Mir fehlt einfach die Gelassenheit, wenn du so willst.« Ein Buch also gegen innere Unruhe? Dazu ein so altehrwürdiger Klassiker, der über 1800 Jahre alt ist? Wie soll der einem dabei helfen, mehr Gelassenheit zu erlangen?

Meine Lehrerin am Gymnasium gab mir denselben Rat wie Serge seinem Freund Marc. Zur Vorbereitung auf meine Rolle in dem Stück »Kunst« sollte ich »Vom glücklichen Leben« lesen. Also besorgte ich mir die Reclam-Ausgabe und las mit 17 Jahren zum ersten Mal diesen berühmten und kurzweiligen Klassiker von Seneca. Ich muss gestehen, dass ich damals nicht viel verstand und auch nicht sonderlich viel damit anfangen konnte. Was mich jedoch ansprach und mir in Erinnerung blieb, war, was Seneca über die Natur eines Menschen schrieb: »Glücklich ist also ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur.« Ein Gedanke, der mir sofort einleuchtete.

Natürlich soll jeder Mensch gemäß seiner eigenen Natur leben, dachte ich! Nur war mir nicht ganz klar, was Seneca mit »eigener Natur« meinte. Gemäß der Natur zu leben, das klang für mich groß und richtig, aber ich fragte mich: Was bedeutet denn hier Natur? Soll jeder Mensch gemäß einer individuellen inneren Natur leben oder ist eine allgemeine kosmische Natur gemeint, die für alle Menschen gleich gilt? Auf jeden Fall war ich damals angeregt, innerlich berührt und zugleich verwirrt durch das, was ich bei Seneca gelesen hatte.

Erkenntnis im Stadtpark

Ein paar Jahre später kam ich ein zweites Mal in den Genuss, »Vom glücklichen Leben« zu lesen. Ich ging damals regelmäßig in den Stadtpark, um mich für das bevorstehende große Latinum an der Universität zu Köln vorzubereiten. Und ich erinnere mich noch gut, dass mich Senecas Gedanken viel mehr interessierten als das Übersetzen der Texte. Was er über die eigene Natur und die Seelenruhe schrieb, erschloss sich mir nun viel mehr als in meiner Schultheaterzeit. Es ergab plötzlich Sinn, was er über das glückliche Leben sagt. Meiner eigenen Natur zu folgen, hieß nichts anderes, als nach vernünftigen Prinzipien zu handeln, sich für Gutes einzusetzen und das alles so engagiert und angstfrei wie möglich. Besonders anziehend fand ich die Idee, dass ein stoischer Umgang mit Rückschlägen, Lust und materiellen Dingen helfen kann, innere Ruhe zu finden.

Ich erkannte auch, dass Senecas Gedanken und Impulse – wie übrigens auch die anderer Stoiker – nicht einfach nur Theorie oder überliefertes Wissen darstellten, sondern für die praktische Anwendung gedacht waren. Es ging vor allem um Erfahrungen und um die Entwicklung einer inneren Haltung, die sich wiederum auf mein Verhalten und mein Leben auswirken. Auf dem Spiel stehen also nicht mehr und nicht weniger als das Glück und die Gesundheit der menschlichen Psyche, wozu unter anderem die Bereitschaft gehört, sich auch in schwierigen Momenten für die Geschenke des Glücks zu öffnen. Es waren diese Erkenntnisse, die ich bei meinen Streifzügen durch den Stadtpark verinnerlichte und die ich als 23-Jähriger in mein Herz schloss.

Zeitlose Weisheiten für das Leben

Aus heutiger Sicht stellen sich mir vor allem folgende Fragen: Wie kann es sein, dass Gedanken, die über 2000 Jahre alt sind, einen Menschen im 21. Jahrhundert so sehr beeindrucken können? Und was hat es damit auf sich, dass im Jahr 2020 eine Gruppe von Menschen unter dem Namen »New York City Stoics« in einem New Yorker Wolkenkratzer regelmäßige Treffen abhält? Gibt es etwa zeitlose Gedanken, die in jedem Jahrhundert gültig sind und daher auch immer wieder für den praktischen Gebrauch empfohlen werden, sei es im Herzen des Financial District von Manhattan oder in einem populären europäischen Theaterstück aus dem 20. Jahrhundert?

Vielleicht ist es ja genau das, was einen Klassiker ausmacht. Dass darin Gedanken, Gefühle und Erfahrungen ausgedrückt werden, in denen sich die Menschen auch heute noch wiederfinden. Dass darin ähnliche Fragen und Probleme vorkommen, wie sie uns auch heute umtreiben. So klagte zum Beispiel schon Seneca im alten Rom über zu viel Lärm, Unruhe und Stress, und er kritisierte die Schnelllebigkeit seiner Epoche. Höchste Zeit also, dass wir uns die Geschichte der Stoa ein wenig näher anschauen.

Der kleine Alltagsstoiker

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