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MEIN WEG ZUM HAUSARZT IN NIPPES

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Mit Herzrasen, Atemnot, Schwitzen, Panikattacken und immer wieder hohem Blutdruck kam Marianne W. zu mir. Die 72-Jährige hatte große Angst, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, was bei diesen Symptomen nicht unbegründet ist. Ich habe sie umfassend untersucht, aber ihr Blutdruck war nach wie vor gut eingestellt und ich konnte weder eine Erkrankung des Herzens noch der Lunge feststellen. Organisch war also alles okay.

Stress und Überforderung werden von Patienten meist unterschätzt, lösen aber oft gesundheitliche Beschwerden aus.

Für die umfangreichen Untersuchungen kam Marianne W. mehrmals zu mir in die Praxis und in unseren Gesprächen stellte sich nach und nach Folgendes heraus: Frau W. hatte zwar keine finanziellen Sorgen, denn sie besaß durch eine Erbschaft mehrere Mietshäuser, die sie selbst verwaltete. Allerdings fühlte sie sich in ihrem Alter damit zunehmend überfordert: Schon der Gedanke, sich mit neuen Mietern auseinandersetzen oder Reparaturen veranlassen zu müssen, stresste sie ungemein. Termine setzten sie im wahrsten Sinne des Wortes unter Druck: Der Blutdruck stieg, das Herz raste.

Doch die Verwaltung in fremde Hände zu geben, kam für sie nicht infrage – sie wollte die Kontrolle behalten. Allerdings konnte ich ihr vermitteln, dass genau da das Problem lag, aber auch die Lösung: Ihr Körper hatte ihr klar signalisiert, dass sie sich einer Belastung aussetzte, die sie seit Langem nicht mehr (er)tragen wollte. Er wehrte sich vehement gegen ihr Verhalten und zeigte ihr unmissverständlich, dass Veränderungen erforderlich waren.

Die Diagnose lautete also nicht wie zunächst befürchtet Herz- oder Lungenerkrankung, sondern Anpassungsstörung. Ich riet ihr deshalb, einen Therapeuten aufzusuchen, der sie bei den dringend notwendigen Veränderungen unterstützen würde. Innere Widerstände loszulassen, Verantwortung abzugeben und anderen zu vertrauen ist nämlich nicht einfach, wenn man sich sein ganzes Leben lang selbst um alles gekümmert hat. Ob Frau W. diesen Rat annimmt, ist natürlich ihre Entscheidung.

Für mich ist das nur eins von vielen Beispielen dafür, dass es in der Medizin nicht reicht, nur auf die Beschwerden und Symptome zu schauen und sie zu behandeln: Wichtig ist der Blick auf den ganzen Menschen, auf seine Persönlichkeit, seine Lebenssituation und seine individuelle Befindlichkeit, denn was den einen stresst oder sogar gesundheitlich umhaut wie Marianne W., macht anderen kaum etwas aus.

So nah am Menschen sind Ärzte fast nur in der Allgemeinmedizin und genau diesen Kontakt wollte ich, als ich mich entschied, Hausarzt zu werden. Das war mir zu Beginn meiner medizinischen Laufbahn keineswegs klar, sondern entwickelte sich erst bei der Arbeit im Krankenhaus. Für die war ich anfangs Feuer und Flamme …

Medizin ohne Schnickschnack

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