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ICH HAB RÜCKEN

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Als ich 13 Jahre alt war, tat mir irgendwann der Rücken weh. Ich merkte es zunächst nur, wenn ich Fußball spielte, also sehr häufig. Sobald ich kräftig gegen den Ball trat, fuhr es mir breitflächig rechts ins Kreuz. Übergang Lendenwirbelsäule zum Pomuskel. Ich war rechtsfüßig und dachte zunächst an eine Zerrung, auch wenn ich so etwas in meinen Fußballjahren bisher nie erlebt hatte.

Vielleicht dachte ich auch gar nichts und habe mir das im Nachhinein zurechtgelegt. Ob Kinder in diesem Alter unterscheiden können, ob es im Gelenk, den Knochen oder den Muskeln wehtut, weiß ich nicht. Auf jeden Fall wollte der dumpfe Druck zwischen dem Beckenkamm und den unteren Rippen nicht verschwinden. Nicht nach ein paar Tagen und auch nicht nach ein paar Wochen.

Der Hausarzt, den wir aufsuchten, drückte auf meinem Rücken herum, ließ mich die Beine wie ein Hampelmann bewegen und verordnete ABC-Pflaster. Diese fast handtuchgroßen Lappen, die auf die Haut geklebt werden, lehnte ich wegen des albernen Namens anfangs ab. Allerdings wärmte das Pflaster erstaunlich intensiv, so als ob eine Wärmflasche unter der Haut eingenäht worden war.

Unangenehm war allerdings, wenn man das Teil wechseln musste, weil selbst nach hartnäckigem Rubbeln in der Badewanne noch graue Reste blieben, die wie dreckige Popel aussahen und sich nur mühsam abpulen ließen. Das Pflaster war jedoch nicht so schlimm wie die kratzenden Angora-Unterhemden, die meine Mutter damals in großer Stückzahl kaufte, damit ich „den Rücken warm halten“ konnte.

Nach Wochen, in denen ich mir mit Pflaster vorkam wie ein Rentner mit Heizdecke, hatte sich meine Körpertemperatur zwar erheblich aufgeheizt, der Schmerz im Kreuz verschwand aber trotzdem nicht. Es fühlte sich nur kuscheliger an, wenn mir der Rücken wehtat.

Meine Mutter ging mit mir zum Orthopäden, ich war das erste Mal beim Facharzt. Von ihm habe ich vor allem in Erinnerung, dass er dick war und in seinem Wartezimmer ein riesiges Aquarium mit dicken Fischen stand. In seinem Sprechzimmer gab es ein Skelett, von dem ich nicht wusste, ob es einen ehemaligen Patienten darstellte oder zur Abschreckung dienen sollte. Dass der Doktor an diesem Knochenmodell das Zusammenspiel der Knochen und Gelenke erklären wollte, wenn er seinen massigen Körper aus dem Schreibtischstuhl hochwuchtete, kam mir nicht in den Sinn.

Mir war in der Orthopädenpraxis anfangs mulmig zumute, da ich nicht einschätzen konnte, wie der Arzt reagieren würde. Der Sohn des Orthopäden war nämlich kürzlich in unsere Klasse gekommen und ich hatte mich nicht freundlich verhalten. Eigentlich erwartete ich, dass sein Vater ihn rächen würde. Der Klassenkollege hatte offenbar dichtgehalten, der Arzt war nett. Ich musste mich bis auf die Unterhose ausziehen, nach vorne beugen und zur Seite bewegen. Der Doktor drückte noch ausführlicher als der Hausarzt auf meiner Wirbelsäule herum. Fühlte sich komisch an, aber offenbar konnte auch der Orthopäde tastend keine Auffälligkeit feststellen. Er schickte mich in den Keller unter seiner Praxis zum Röntgen.

Der Metallring des Bleischurzes auf meinem Bauch, der meine noch nicht erwachten Keimdrüsen vor Unheil schützen sollte, fühlte sich kalt an. „Um Strahlen abzufangen“, erklärte die Assistentin. Außerdem war es dunkel in der Praxis, es roch komisch und wenn man barfuß in Unterwäsche mit vorsichtigen Bewegungen zum Röntgenschirm stakste, schien der Linoleum-Boden bei jedem Schritt unter den Füßen zu kleben. Musste ich für die Aufnahme ein paar Sekunden stillhalten („Und – Luft anhalten – und weiteratmen“), klebten die Füße besonders stark.

Die Röntgenaufnahmen aus dem Keller waren wenig erhellend für den Orthopäden. Vielleicht war es zu dunkel dort. Der Arzt war jedenfalls ungehalten, als er sie ansah. Er konnte nichts Krankhaftes erkennen, was eigentlich ein gutes Zeichen ist, doch er wollte sich nicht damit abfinden. Also schickte er mich erneut zum Röntgen – diesmal in eine andere Praxis.

Als ich die dort angefertigten Bilder zum nächsten Termin mitbrachte, war er immer noch nicht zufrieden. Für meine Rückenschmerzen brauchte es anscheinend eine besondere Aufnahmetechnik. Nur mithilfe einer Darstellung im 45-Grad-Winkel war zu erkennen, was meinem Rücken fehlte, erklärte der Doktor. Kurze Nachfrage heute: Hatte er nicht vorher gewusst, zu was das Röntgengerät in seinem Keller in der Lage war und in welchem Winkel mein Rücken fotogen aussah? Und wenn er sowieso wusste, was er auf dem Bild erwartete, musste er es überhaupt veranlassen? Wieso brauchte er dann überhaupt eine Röntgenaufnahme?

Nachdem ich erneut geröntgt und meine Fruchtbarkeit wieder in gefährliche Nähe südniedersächsischer Strahlenquellen gebracht worden war, hatte der Orthopäde endlich den Durchblick. Er sah eine Spondylolyse, so der Fachbegriff, also eine Spaltbildung im Wirbelbogen, die ihm Sorgen bereitete. Ich verstand nicht recht, was er meinte, denn die Wirbelsäule auf dem Röntgenbild bestand für mich ausschließlich aus Lücken und Spalten. Ich konnte nichts Auffälliges erkennen.

Außerdem erklärte der Arzt, dass der Abstand zwischen den Lendenwirbeln über dem Kreuzbein ungleichmäßig wäre, was zusammen mit der Schwachstelle im Wirbelbogen meine Beschwerden erklären würde. Deshalb bekam ich ein halbes Jahr Krankengymnastik verschrieben, wofür ich auf gebrauchten Gummimatten auf dem Bauch liegend mit den Beinen strampeln musste, so als ob ich Schwimmübungen machen würde. Ich habe noch den üblen Geruch in der Nase, die Mischung aus porösem Gummi und altem Schweiß, wenn ich stöhnend in Bauchlage meine Beine anhob und versuchte, das Gesicht möglichst weit über die miefige Turnmatte zu heben.

Heftiger wog für mich jedoch, dass mir der Arzt ein Attest schrieb, mit dem ich mehrere Monate vom Sportunterricht befreit wurde. Das wollte ich nun überhaupt nicht. Zudem – und das war noch schlimmer – legte er mir nahe, aus dem Fußballverein auszutreten, weil es ein unkalkulierbares Risiko für meine Rückengesundheit bedeutete, wenn ich weiter in der untersten Jugendliga gegen den Ball treten sollte.

Dieses früh erzwungene Karriereende machte mir zu schaffen, doch der Druck war zu groß. Ich gab meinen Rücktritt vom Jugendfußball bekannt, besuchte die Krankengymnastin in ihren stickigen Räumen mit den fiesen Matten – und spielte in jeder Schulpause intensiv Fußball. Anschließend trat ich in den Schwimmverein ein, kraulte zwei, drei Jahre lang wöchentlich durch Göttingens Chlorbäder, bis es mir zu öde wurde, und hatte mehrere Jahrzehnte lang nie mehr Rückenschmerzen.

Obwohl die orthopädische Betreuung in meiner Kindheit – bis auf den Anlauf für die richtigen Röntgenbilder – nach einer folgerichtigen Diagnose und Therapie klingt, klammert die Behandlung zwei Aspekte vollkommen aus. Ich war bis zum Alter von 13 Jahren schnell gewachsen und bereits 1,86 Meter groß, später sollten es knapp 1,98 Meter werden. Während dieses beschleunigten Längenwachstums kommen Muskeln, Sehnen und andere Weichteilstrukturen nicht immer mit dem Knochenwachstum mit. Der Körper gerät aus der Balance. Allein deshalb kann es in diesem Alter vermehrt zu Beschwerden kommen. Gerade Jungs klagen in der Pubertät oft darüber, dass ihnen Knie, Hüfte, Rücken oder Schultern wehtun.

Wachstumsschmerzen

Mit 13 oder 14 Jahren fängt es an. Schmerzen im Knie, im Kreuz, an Schulter oder Hüfte. Häufigste Ursache: Die Knochen wachsen schneller als der Rest. Muskeln, Sehnenansätze und Bänder brauchen länger. Natürlich können auch ernsthafte Beschwerden dahinterstecken, aber meistens ist das ungleich schnelle Wachstum der verschiedenen Körperteile der Grund. Gerade Jungs sehen in dieser Zeit oft aus wie Klappergestelle, bei denen erst alles wieder an seinen richtigen Platz finden muss.

Was hilft, ist abwarten und sich Pausen gönnen – auch wenn das für ungeduldige Jugendliche eine der schwersten Übungen ist. Übermäßiges Krafttraining vermeiden, denn dadurch werden die noch im Wachstum befindlichen Strukturen überlastet und können schmerzen oder reißen. Ausgleichende Übungen zur Koordination und Stabilisierung, etwa während der Physiotherapie, helfen. Diese Übungen sind bei Sportlern nicht beliebt, doch sie verhindern zuverlässig Verletzungen und Fehlbelastungen. Denn fast jede Muskelgruppe hat Gegenspieler, die gestärkt werden müssen, was im üblichen Training jedoch meistens unterbleibt.

Aber vermutlich noch wichtiger: Wenige Wochen, bevor meine Rückenbeschwerden begannen, war mein Vater gestorben. Ohne Vorwarnung, völlig überraschend, aus scheinbar voller Gesundheit. Unserer Familie wurde von einem Tag auf den anderen der Boden unter den Füßen weggezogen. Aus damaliger Sicht hatte das eine, also der Tod meines Vaters, nichts mit dem anderen, also meinem Kreuzweh, zu tun. Aus heutiger Sicht ist das anders. Aufgeklärte Ärzte und Orthopäden wissen, dass kaum ein Organsystem so eng mit der Psyche und dem seelischen Befinden verknüpft ist wie der Rücken. Bekommt die Seele einen Knacks, knirschen auch die Knochen.

Ist das Medizin oder kann das weg?

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