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GESUNDHEIT HÄNGT VOM WOHNORT AB

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John Wennberg kam beim Abendessen mit der Familie eine Idee. Er wunderte sich über die Unterschiede in der medizinischen Behandlung. Warum wurden so vielen Kindern in seinem Freundes- und Bekanntenkreis die Mandeln entfernt, während in der Schule seiner Tochter kaum ein Kind deswegen unters Messer kam? Wennberg ging dem Phänomen nach, das er sich medizinisch nicht erklären konnte. Das Ergebnis war verblüffend, denn der einzige Unterschied, den der Arzt entdecken konnte, war der Wohnort. Während im Schulbezirk seiner Tochter gerade mal 20 Prozent der Kinder bis zum 15. Lebensjahr die Gaumenmandeln entfernt bekamen, wurden im benachbarten Bezirk fast 70 Prozent der Kinder operiert, also mehr als dreimal so viele.

Der Epidemiologe konnte es zunächst nicht glauben, dass die Operationshäufigkeit rund um seinen Wohnort in Neuengland so stark voneinander abwich, abhängig vom jeweiligen Bezirk. Deshalb erhob er systematisch Daten – und kam zu erstaunlichen Unterschieden: In Wennbergs Heimat, dem US-Bundesstaat Vermont, hatten in manchen Regionen 13 von 10.000 Einwohnern keine Mandeln mehr. Jenseits der Ortsgrenze, im anderen Bezirk mit einer vergleichbaren Bevölkerungsstruktur, waren hingegen 151 von 10.000 Menschen die Tonsillen entfernt worden, also fast zwölfmal so vielen. 1973 veröffentlichte der Mediziner seine Daten im angesehenen Fachblatt „Science“3.

Die Erkenntnisse sind fast 50 Jahre alt, doch leider immer noch kein Fall für die Medizingeschichte. Solche grotesk anmutenden Unterschiede in der Häufigkeit von Operationen und anderen Behandlungen gehören keineswegs der Vergangenheit an. Und es gibt sie auch in Deutschland, wie diverse Auswertungen des Bertelsmann-Monitors und andere Erhebungen zeigen. Medizinisch kann nicht erklärt werden, warum in Bad Kreuznach 107 von 10.000 Kindern die Mandeln entfernt werden, in Coburg und im Unterallgäu hingegen nur 15 von 10.000 Kindern.

Diese Zahlen stammen nicht aus den 1970er-Jahren, sondern aus dem Jahr 2015 und beziehen sich auf die Landkreise und den Wohnort der Patienten, nicht auf den Standort des Krankenhauses. Das hätte Unterschiede in der Häufigkeit erklären können, weil möglicherweise in dem einen Krankenhaus traditionell mehr operiert wird. Engagierte Ärzte, die einer solchen Übertherapie und Überdiagnostik den Kampf angesagt haben, betonen immer wieder, dass sie die riskante Überversorgung nicht länger hinnehmen wollen. Aber hat sich in der Medizin tatsächlich so viel verändert, seit John Wennberg die Häufung von Mandeloperationen bei Schülern in seinem Umfeld seltsam vorkam?

„Zu selten gibt es in unseren Leitlinien Hinweise, welche Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden Ärzte unterlassen sollten“, beklagt Gerd Hasenfuß, lange Jahre Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin“. Weil vonseiten der Ärzteverbände zu selten betont wird, was schädlich und überflüssig für Patienten ist, drohen unnötige Therapien. Besonders die jungen und unerfahrenen Ärzte würden laut Hasenfuß dazu neigen – allerdings nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Unwissen und um ja nichts zu versäumen: „Wie wir alle wollen auch sie Patienten helfen und führen bestimmte Untersuchungen sicherheitshalber durch, oft in Unkenntnis, dass die Maßnahme keinen Vorteil oder sogar einen Nachteil für den Patienten bedeutet.“

Es sind jedoch keineswegs ausschließlich junge Ärzte, die ein Zuviel an Medizin herbeiführen. Finanzielle Anreize und eingeschliffene Rituale mögen auch bei erfahrenen Ärzten eine Rolle spielen, wie etliche Beispiele aus Deutschland und anderen Ländern zeigen. Ältere Ärzte überschätzen manchmal zu sehr das, was sie schon immer gemacht haben, und zeigen sich wenig offen für Kritik und neue Erkenntnisse, die ihr bisheriges Vorgehen infrage stellen.

John Wennberg hat in den 1970er-Jahren übrigens erfolgreich zu Verbesserungen für Kinder und Jugendliche mit Halsentzündungen beigetragen, nachdem er seine Erkenntnisse publik gemacht hatte. Er überzeugte lokale Behörden und Ärztekammern davon, dass sich die Unterschiede in der Versorgung kaum vernünftig erklären ließen und die vielen Mandeloperationen medizinisch nicht sinnvoll sein konnten. Die Ärzte stellten ihr Verhalten um und innerhalb weniger Jahre sank die Häufigkeit der Tonsillektomien drastisch; zumindest in diesem Teil der Neuenglandstaaten.

Ist das Medizin oder kann das weg?

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