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Kapitel 5: Berger

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Schloss Chambord, 28. Dezember 2027

Berger hörte bereits den Lärm der Rotorblätter des sich nähernden Hubschraubers. Lavoisier sah zum Fenster hinaus und war tief beeindruckt von der Grösse des riesigen Raumschiffs, das im Nordwesten an das Schloss Chambord angrenzte. Das Schloss selbst verkümmerte daneben zu einer Statistenrolle.

»Halten Sie sich fest!«, meldete der Pilot den Insassen. »Wir beginnen mit dem Landeanflug. Das Wetter ist windig, es wird also ein wenig schütteln.«

Lavoisier hatte sich gefragt, ob er ins Raumschiff oder ins Schloss gebracht werden würde. Ihm war bewusst, dass er früher oder später auf Gabriel treffen würde. Es mag absurd klingen, aber irgendwie freute er sich sogar darauf. Er glaubte nicht, dass Gabriel ein Racheengel des Herrn oder sonst eine biblische Figur war. Er war der Anführer anderer Wesen, und über deren Ziele war er sich nach wie vor nicht im Klaren. Lavoisier sah durch das kleine Fenster des Hubschraubers, dass sie sich dem Schloss näherten, und daraus zog er den Schluss, dass er zuerst zu Berger gebracht werden würde. Sie überflogen das Schloss und setzten auf dem grossen Vorplatz auf.

»Wenigstens regnet es im Moment nicht«, dachte er, und in der Tat durchbrachen ein paar Sonnenstrahlen das sonst so trübe und kalte Winterwetter.

Nachdem sie gelandet waren, kamen ein paar schwerbewaffnete Soldaten auf sie zu. Die Schiebetüre wurde geöffnet, und Agent Miller stieg als erster aus. Danach verliessen zwei weitere Agenten den Hubschrauber, und Lavoisier musste ihnen folgen. Er sah, wie Agent Miller sich mit einem der Soldaten unterhielt, konnte aber nicht verstehen, was sie miteinander besprachen.

»Kommen Sie, Dr. Lavoisier!«, sagte nun Agent Miller zu ihm und wies ihm den Weg Richtung Haupteingang des Schlosses. Es sah irgendwie gespenstisch aus. Vorne stand das grosse Schloss, und dahinter erkannte man das riesige Raumschiff, als sei es ein surreales Bühnenbild. Wäre er jetzt im Centre Pompidou in Paris, dann würde er sich in einer Ausstellung des Surrealisten René Magritte wähnen. Auch erinnerte ihn der Anblick an potemkinsche Dörfer, nur dass das Raumschiff keine Fassade, sondern real war.

Lavoisier kannte das Schloss recht gut und erinnerte sich an diverse Räume des riesigen Gebäudes. Insbesondere die Wendeltreppe hatte es ihm als kleinem Jungen angetan. Miller führte ihn in einen für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Flügel. Vor einer massiven Eichentüre blieb Miller stehen und sprach über sein Headset mit einer anderen Person. Es dauerte nicht lange, und die schwere Eichentüre wurde geöffnet. Ein älterer Herr, der Ornat trug, bat ihn einzutreten.

»Sie können mich Bruder Jacques nennen«, erklärte ihm der Ordensbruder.

Lavoisier wusste natürlich nicht, dass Bruder Jacques der Berater und Vertraute des Grossmeisters der Bruderschaft des reinen Herzens war. Lavoisier schaute zuerst Agent Miller an, und als dieser zustimmend nickte, trat er ein.

»Folgen Sie mir, Dr. Lavoisier!«, sagte er zu ihm.

Lavoisier folgte ihm und stellte fest, dass Agent Miller nicht eintrat und vor der Türe stehen blieb. Es fiel ihm auf, dass Bruder Jacques trotz seines fortgeschrittenen Alters ein sehr forsches Tempo anschlug.

»Warum hat er es so eilig?«, fragte er sich beiläufig.

Nachdem sie ein grosses Zimmer durchquert hatten, blieben sie vor einer weiteren Türe stehen. Bruder Jacques klopfte kurz an, und die Türe wurde von innen geöffnet. Er erkannte ihn sofort. Berger persönlich stand vor ihm.

»Kommen Sie herein, Dr. Lavoisier!«, sagte Berger höflich, wenn auch ein wenig drängend.

»Setzen Sie sich!«, ergänzte er, während sich Bruder Jacques zurückzog.

Nachdem Lavoisier auf einem Louis-XVI-Stuhl Platz genommen hatte, sah er sich im Zimmer um. Er erkannte zahlreiche Portraits französischer Könige, die von berühmten Renaissancemalern, wie den Niederländern Joos van Cleve, Jean Clouet und dessen Sohn François, der 1541 das französische Bürgerrecht erhielt und zudem Hofmaler von König Franz I. gewesen war, gemalt worden waren.

Sie sassen sich nun gegenüber, und ihre Blicke fixierten sich, wie bei zwei Boxern, bevor der eigentliche Kampf losgeht.

»Warum wurde ich gegen meinen Willen hierher gebracht?«, fragte Lavoisier.

»Begreifen Sie immer noch nicht, dass die Wiederkehr des Königs der Könige, unseres Herrn Jesus Christus, unmittelbar bevorsteht und die Aldemakros, die Racheengel des Herrn, zusammen mit ihm das neue Jerusalem errichten werden?«

»Deshalb haben sie Schloss Chambord ausgewählt. Der damalige Neubau des Renaissanceschlosses hatte im Ursprung rein symbolhafte Bedeutung. König Franz I. wurde durch das auf die Erde herabkommende Neue Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes inspiriert. Entsprechend pompös wurde die Anlage«, gab Lavoisier zur Antwort.

»Sie beeindrucken mich, Sie sind der erste, der diesen Zusammenhang erkannte«, sagte der Grossmeister. »Wir sind uns in vielen Dingen sehr ähnlich.«

»Aber wie König Franz I. gescheitert ist, so werden Sie und ihre Bruderschaft des reinen Herzens das gleiche Schicksal erfahren.«

»Sie haben immer noch nicht verstanden. Im Gegensatz zu Franz I. wird unsere Mission nicht scheitern. Sie sehen ja, wie weit wir es schon gebracht haben. Die Errichtung des neuen Reiches Gottes, des Himmlischen Jerusalems, steht unmittelbar bevor. Warum arbeiten Sie gegen den Willen Gottes?«, sagte nun Berger.

»Ich sehe nichts Göttliches. Das Einzige was ich erkenne, sind fremdartige Wesen, die versuchen, unseren Planeten zu erobern, und nicht davor zurückschrecken, Millionen von Menschen zu töten«, antwortete Lavoisier und blickte Berger tief in die Augen. Berger schaute nicht weg und konterte:

»Manchmal müssen die Menschen Opfer bringen, damit sie die Herrlichkeit Gottes erkennen.«

»Wollen Sie oder können Sie der Wahrheit nicht ins Auge sehen? Erkennen Sie nicht, dass die Aldemakros keine Racheengel Gottes, sondern fremde Wesen aus einer anderen Welt sind, die unseren Planeten gnadenlos erobern werden?«, antwortete Lavoisier, und Berger wurde sichtlich ungehalten.

»Sie irren und verkennen die Situation. Die Aldemakros werden zu Ehren des einzig wahren Gottes die Ungläubigen ein für alle Mal besiegen und beseitigen. Nur die Auserwählten und Berufenen und die dem einzig wahren Glauben Angehörenden werden ins Himmlische Jerusalem aufgenommen werden. Die Menschen sind abgrundtief bösartig und niederträchtig. Es ist an der Zeit, dass sich die wenigen Guten von ihnen trennen. Die schlechten Menschen werden alle in der Hölle und der ewigen Verdammnis landen.«

Lavoisier dachte über seine Worte nach und erkannte, dass es keinen Sinn hatte, mit Berger weiter zu diskutieren. Berger war überzeugt, dass die Aldemakros die Guten und Boten des einzig wahren Gottes waren. Allerdings lagen seine und Bergers Meinung über die Bösartigkeit und Niederträchtigkeit der Menschen nicht weit auseinander. Er musste Berger beipflichten, dass auch er selber nicht viel von den Charaktereigenschaften der meisten Menschen hielt. Aggressiv, bösartig, niederträchtig, gierig, schamlos, missgünstig und schlecht waren Attribute, die wohl Ausserirdische für unsere Spezies nennen würden, wenn sie uns beschreiben müssten. Dass auch Nächstenliebe, Güte und Liebe ein Teil von uns Menschen war, würde wohl nicht ins Gewicht fallen. Berger hatte vermutlich nicht ganz unrecht, wenn er sagte, dass sie sich in vielen Dingen sehr ähnlich waren. Und dieser Gedanke behagte Lavoisier ganz und gar nicht.

»Wie haben Sie herausgefunden, was unter der grossen Pyramide verborgen war?«, fragte nun Berger, und sein Ton hatte etwas Drängendes und Bedrohliches.

»Das hat nun keine Bedeutung mehr. Was geschehen ist, ist geschehen«, antwortete er.

»Ich will es trotzdem wissen!«

Lavoisier spürte, dass Berger eine ablehnende Antwort nicht dulden würde. Es fiel ihm auf, dass Berger nicht nur auf seine Armbanduhr sondern auch zwischendurch auf die Wanduhr blickte.

»Es ist eine seltsame Geschichte, und sie wird für immer mein Geheimnis bleiben«, antworte Lavoisier.

»Entweder erklären Sie mir jetzt freiwillig, wie Sie darauf gekommen sind, oder wir werden entsprechende Massnahmen ergreifen, um ihr Geheimnis zu lüften«, sagte Berger, und da war es wieder, dieses Gefühl der Gereiztheit und des Drängens. Lavoisier glaubte nun, den Hintergrund zu kennen, und begann bewusst auf Zeit zu spielen.

»Nehmen wir an, ich würde Ihnen erklären, wie ich es herausgefunden habe, was wäre Ihnen diese Information wert?«

»Sie wagen es, von mir ein Angebot zu verlangen?«, antwortete Berger gereizt.

»Ja, was ist es Ihnen wert, natürlich rein hypothetisch?«

»Sie sind von allen guten Geistern verlassen! Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?«

Lavoisier bemerkte, wie Berger sichtlich nervöser und fahriger wurde.

»Er steht unter Zeitdruck«, dachte Lavoisier und antwortete abschätzig:

»Doch, das weiss ich. Sie werden als der grösste Verräter der Menschheit in die Geschichte eingehen.«

»Wagen Sie es nicht…!« sagte Berger zornig, aber Lavoisier fuhr schon fort:

»Alain Berger, Grossmeister der Bruderschaft des reinen Herzens hat die Menschen an ausserirdische Wesen verraten und damit den Untergang der Erde herbeigeführt«, wird irgendwann in einem Buch zu lesen sein, sofern es dann noch Bücher und Menschen geben wird.«

Zornesröte schoss Berger ins Gesicht.

»Welcher Teufel hat Sie geschickt, um das Werk des Herrn zu stören?«, rief er wutentbrannt.

»Vermutlich der gleiche, der Sie zu dem gemacht hat, was Sie sind«, konterte Lavoisier mit ruhiger und sanfter Stimme.

»Ich werde dafür sorgen, dass wir Ihr Geheimnis erfahren werden«, schrie ihn nun Berger an und war nahe an einem Tobsuchtsanfall.

»Dann versuchen Sie es. Ich habe dazu nichts mehr zu sagen.«

»Meine Leute werden nicht zimperlich sein. Sie wissen, wie man einem Teufel beikommt. Ich frage Sie deshalb ein letztes Mal, wie haben Sie herausgefunden, dass unter den Pyramiden ein altes Kontrollzentrum verborgen war?«

Lavoisier antwortete nicht mehr, sondern schüttelte nur den Kopf. Er war sicher, was als nächstes folgen würde. Auch hier würde er recht behalten.

Berger versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht. Er drückte einen Knopf am seitlichen Ende seines Arbeitspultes, und Bruder Jacques kam wenige Augenblicke später herbeigeeilt. Er flüsterte Berger etwas ins Ohr, und Lavoisier sagte zu ihrer grossen Überraschung laut:

»Wir sind spät dran, bringt mich nun zu ihm!«

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