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Kapitel 9: Im Bunker

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Paris, 28. Dezember 2027

»Weit mehr als eine Milliarde Menschen wurden soeben von den Aldemakros getötet«, sagte Alice zu Marie de Beauvoir, die sichtlich unter Schock stand. Dass die Aldemakros, die Boten des Herrn, so weit gehen würden, hätte Alice sich nicht vorstellen können. Sie stellte verstört fest, dass seit der Zerstörung von Washington, Moskau und der vier indischen Métropolen sich eine gewisse Lethargie bei ihr einstellte. Ob es Millionen oder Milliarden tote Menschen gab, spielte irgendwie keine Rolle mehr, es war so oder so jenseits des Vorstellbaren und des Fassbaren.

»Wie viele unschuldige Männer, Frauen und Kinder wurden von den Aldemakros wohl getötet? Waren es hundert Millionen oder gar mehr? Glaubst du wirklich, dass die Aldemakros Boten Gottes sind? Würde Gott zulassen, dass so viel Ungerechtigkeit über die Welt kommt? Und das ist sicher nur der Anfang. Wer wird als nächster sterben? Welches Land mit all den unschuldigen Menschen wird als nächstes ausgelöscht? Oder vernichten sie am Ende die ganze Menschheit?«, fragte Alice nun Marie.

Marie schwieg, dachte nach.

»Das mit deinem kleinen Bruder tut mir sehr leid«, sagte Alice nun. Sie fühlte sich nicht gut dabei, dieses Thema anzuschneiden, aber sie musste alles daran setzen, damit Marie ihnen helfen würde. Es blieb kein Platz für Sentimentalitäten. Alice wusste, dass sie Marie brauchen würden.

Marie brach in Tränen aus.

»Der Fahrer war stockbesoffen«, begann sie heulend, »und statt auf die Strasse zu schauen, schrieb er mehrere WhatsApp-Nachrichten bis er mit seinem Lieferwagen in unserer Einfahrt meinen kleinen Bruder zu Tode fuhr. Er bekam nur eine bedingte Gefängnisstrafe. Das Ganze sei ein unglücklicher Unfall gewesen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«

»Bist du deshalb auf der Suche nach Gerechtigkeit und Rache?«, fragte nun Alice.

»Er kam einfach so davon. Und mein Bruder war tot!«, schrie sie förmlich in die Zelle hinein.

»Manchmal kann man sich nicht erklären, warum einige hart vom Schicksal getroffen werden und andere verschont bleiben. Der römische Kaiser Marc Aurel schrieb in seinen Selbstbetrachtungen sinngemäss, dass keinem Menschen etwas widerfährt, das er nicht seiner Natur nach auch ertragen könnte. Einige trifft es härter, andere weniger. Aber die Götter muten uns nur das zu, was wir eigentlich ertragen und verkraften können«, versuchte es Alice mit ein paar tröstenden Worten und fragte dann: »Was ist aus dem Fahrer geworden?«

»Ich weiss es nicht, er ist dann aus unserer Stadt weggezogen, und niemand wusste, wohin es ihn verschlagen hatte. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört«, antwortete Marie, und Alice war überzeugt, dass sie aus ihrer Sicht die Wahrheit sagte. Alice wusste aber mehr. Lavoisier hatte herausgefunden, dass der Fahrer ein halbes Jahr danach tot in einem Strassengraben gefunden wurde. Er war nicht betrunken, und es war auch weit und breit kein Auto zu finden. Er war angeblich zu Fuss unterwegs. Offiziell war er gestürzt und hatte sich den Kopf an einem spitzen Stein so unglücklich aufgeschlagen, dass er ein Schädelhirntrauma erlitt. Als man ihn fand, kam jede Hilfe zu spät. Das war aber nicht alles. Lavoisier hatte sich den Obduktionsbericht beschafft. Es gab einen kleinen Hinweis, dass in der klaffenden Wunde des Toten auch kleine Splitter von Hickory, einem Baum aus der Familie der Walnussgewächse, gefunden wurden. Alice war diese Baumsorte völlig unbekannt. Aber Lavoisier erklärte ihr, dass der Baum nur in Nordamerika und Ostasien vorkommt. Sie fragte ihn damals, wozu dieses Holz verwendet wurde. Sie staunte nicht schlecht, als er ihr erklärte, dass man früher aus dem Holz des Hickorybaums auch Baseballschläger hergestellt hatte.

»Ich habe mir das Ganze anders vorgestellt. Ich war von der göttlichen Offenbarung überzeugt gewesen und empfand es als richtig, dass eine neue himmlische Ordnung entstehen würde. Die Engel des Herrn sollten doch die Guten sein. Sie sind doch diejenigen, die die Welt von der grenzenlosen Ungerechtigkeit, von allen bösen und niederträchtigen Menschen befreien und ein neues Reich Gottes errichten sollten«, sagte Marie enttäuscht.

»Aber dann ist alles anders gekommen«, sagte Alice zu ihr.

»Ja, oder ist das Ganze nicht doch eine Prüfung Gottes? Werden nur diejenigen, die standhaft im Glauben sind, bestehen?«, fragte Marie.

Alice schwieg, denn es war für sie wichtig, dass Marie selber zu einer Einsicht gelangen musste. Sie stellte den Laptop auf den Tisch.

»Stell ihn weg. Ich will den Zeitungsartikel nie mehr lesen.«

Alice schüttelte den Kopf und erklärte ihr, dass es nicht um den Zeitungsartikel ginge.

»Ich möchte, dass du dir diesen kurzen Film ansiehst«, sagte Alice.

»Worum geht es darin?«

»Das wirst du gleich selber sehen.«

Alice öffnete den Film auf dem Laptop und drückte noch auf die Pausetaste. Sie hatte ihn schon einmal gesehen und wusste danach instinktiv, dass der Film wichtig war.

»Schau dir den Film ganz genau an und schau nicht weg«, sagte sie zu Marie und es hörte sich wie ein Befehl an.

Dann drückte sie auf die Abspieltaste und der Film begann.

Marie konnte einen düsteren, im Halbdunkel liegenden Raum erkennen, der schwach durch kleine Fackeln erleuchtet wurde, die an den Wänden in eisernen Halterungen hingen. Die Person, mit deren Augen das Ganze zu sehen war, schaute an sich hinunter und man sah, dass es eine junge Frau war, die zerrissene Kleider trug und halbnackt war. Um die Hand- und Fussgelenke trug sie enganliegende Eisen. Sie musste eine Gefangene sein. Ein blutbeschmierter Tisch stand vor ihr, und der Blick der Frau wanderte an die dahinterliegende Wand, wo sie verschiedene ihr unbekannte Werkzeuge und zahlreiche Kreuze sah.

»Du weisst, was das ist?«, fragte Alice.

»Es ist eine Folterkammer, und die Frau scheint zu wissen, dass sie das nächste Opfer ist, denn sie zittert am ganzen Körper«, antwortete Marie, der es ziemlich unbehaglich wurde.

Ein Mann kam auf sie zu und schlug ihr ohne Vorwarnung brutal mit seiner Faust ins Gesicht. Sie taumelte, fiel aber nicht hin.

Marie entfuhr ein kleiner Schrei. Dann wurde die junge Frau rücklings gewaltsam auf den blutverschmierten Tisch gezerrt, der mit messerscharfen Glassplittern übersät war. Danach wurde sie mit Ledergürteln festgezurrt. Sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken.

»Schalte aus!«, sagte Marie.

»Nein, ich will, dass du dir das alles genau ansiehst!«, antwortete Alice.

Widerwillig stimmte Marie zu.

Im Film sah man nun, wie eine in ein Priestergewand gekleidete Person sich über die junge Frau beugte und ein grosses Kreuz vor sich hielt.

»Du Hexe«, schrie er und bespuckte sie, »bekenne dich im Namen des einzig wahren Gottes schuldig, dass du mit dem Teufel im Bunde stehst, nur so kann deine Seele gerettet werden.« Obwohl die Sprache altfranzösisch war, konnten sie das meiste gut verstehen.

Die junge Frau weigerte sich, zu bekennen. Der Priester nickte zur Seite, und eine maskierte Person kam mit einem glühenden Eisen auf sie zu. Marie konnte den typischen Geruch glühenden Eisens förmlich riechen, als ob sie selber in der Folterkammer wäre.

Der Maskierte riss der Frau das Hemd vom Leib und fuhr mit dem glühenden Eisen wenige Zentimeter über ihre Haut. Die junge Frau musste die Hitze schon gespürt haben, denn sie zuckte manchmal zusammen, vermutlich dann, wenn das Eisen zu nahe kam.

»Bekenne!«, rief der vor ihr stehende Priester.

»Ich bin unschuldig«, schrie die junge Frau verzweifelt.

Sie konnte den Satz kaum beenden, als der Maskierte ihr das glühende Eisen auf die nackte linke Brust drückte. Man konnte das Zischen hören, als das glühende Eisen auf ihr Fleisch traf. Marie hatte den Eindruck, dass sie den Geruch von verbranntem Fleisch wahrnehmen konnte, und zuckte selber zusammen.

Ein gellender Schrei durchdrang alles, der Priester beugte sich nochmals über sie und schrie sie ein weiteres Mal an:

»Bekenne, nur so kann deine Seele gerettet werden!«

Die junge Frau spuckte ihm ins Gesicht.

»Das sollst du vom Teufel Besessene büssen!«, rief er angeekelt. Der Maskierte gab ihm ein weiteres glühendes Eisen und er brandmarkte auch ihre rechte Brust. Wie von Sinnen schrie die junge Frau herum, denn die Schmerzen mussten unerträglich sein. Aber es war noch nicht vorbei. Ganz im Gegenteil, es war erst der Anfang.

»Willst du nun bekennen?«, sagte er in einem etwas ruhigeren und versöhnlichen Ton zu ihr. Natürlich war das Teil des ausgeklügelten Folterprozesses. Man wollte gegenüber dem Opfer eine verständnisvollere Rolle einnehmen, um danach mit aller Brutalität weiterzufahren.

»Nein«, sagte sie leise.

»Dummes Kind«, sagte der Priester. »Du wirst früher oder später sowieso bekennen.«

Sie schüttelte leicht den Kopf, hielt ihn aber sofort wieder still, denn er lag wie ihr ganzer Körper auf messerscharfen Glassplittern. Ein leises Wimmern verriet Marie, dass einer davon wohl der jungen Frau den Hinterkopf aufgeschnitten hatte.

»Weisst du, was das ist?«, fragte der Priester, der nun das Kreuz abgelegt hatte und ihr eine Art riesige eiserne Zange zeigte. Sie erinnerte Marie an eine Grillzange. Die linke und die rechte Spitze der Zange teilten sich auf und hatten je zwei nach innen gebogene und spitz zulaufende Greifer. Er fuchtelte wild mit der Zange vor ihrem Gesicht hin und her.

»Nein«, sagte sie mit kaum wahrnehmbarer Stimme.

»Du wirst es bald am eigenen Leib spüren, du elende Hexe!«, schrie er sie unvermittelt und wutentbrannt an. Er öffnete die Zange und liess sie zu ihrer rechten Brust gleiten. Wenn die Situation nicht schon pervers genug gewesen wäre, hätte man durchaus etwas Zärtliches, Lustvolles in der Bewegung des Priesters erkennen können. Er übergab die Zange dem Maskierten, der die Spitzen der Zange in ein loderndes Feuer legte. Die junge Frau wusste nicht, dass die Folterknechte der Zange den Namen »Brustausreisser» gegeben hatten. Nun trat der maskierte Mann mit einer anderen, kleineren Zange zu ihr, die er soeben aus dem Feuer gezogen hatte. Der Priester trat zu ihr, bückte sich und sein Mund war ganz nah an ihrem Ohr.

»Schwöre dem Teufel ab, bekenne jetzt deine Schuld, oder du wirst für immer in der Hölle schmoren, denn deine Seele kann nicht mehr gerettet werden. Sag es schon!«, sagte er mit einem Flüsterton

»Nein!« , schrie sie, und es waren die letzten Worte, bevor der Maskierte ihr mit der glühenden Zange die Zunge aus dem Mund riss und zugleich ihren Mund ausbrannte. Sie schrie wie von Sinnen, und dann wurde das Bild zuerst unscharf, verschwommen und danach war nur noch dunkelste Schwärze zu sehen. Die junge Frau musste in Ohnmacht gefallen sein. Hier hörte der Film auf.

Marie schrie bei dieser Szene auf, ging zum Lavabo und musste sich übergeben.

»Warum zeigst du mir das?«, fragte sie Alice, nachdem sie sich wieder etwas erholt hatte.

»Durch die Inquisition«, begann Alice, »wurde die These bestätigt, dass nichts den menschlichen Geist mehr beflügelt als die Lust an der Grausamkeit. Es handelte sich richtiggehend um eine Leidenschaft. Die christlichen Kirchen erfanden immer neue Möglichkeiten, damit die Qualen der Inquisitionsopfer noch grösser und grausamer wurden. Es hat noch nie eine Religion gegeben, die von so viel Nächstenliebe sprach und so viel Nächstenhass praktizierte.«

»Was hat das Ganze mit mir zu tun?«, wollte Marie wissen.

Alice beantwortete die Frage noch nicht und sprach weiter:

»Ein Buch spielte dabei eine zentrale Rolle. Der Malleus Maleficarum, der in 29 Auflagen gedruckt wurde.«

»Der Hexenhammer«, antwortete Marie, denn als Religionswissenschaftlerin kannte sie das Standardwerk der Hexenverfolgung. Es ist eine Anleitung zum Aufspüren, Foltern und Bestrafen von Hexen.

»Kein anderes Buch der Menschheitsgeschichte hat wohl mehr Unheil über die Frauen gebracht als der Hexenhammer, und alles geschah im Namen des einzig wahren Gottes. Die Inquisition hat zwar den Namen geändert und nennt sich heute "Kongregation für die Glaubenslehre«, aber der inquisitorische Geist ist der gleiche geblieben.«

»Wir werden wohl nie erfahren, was aus der jungen Frau geworden ist«, sagte nun plötzlich Maire mitleidvoll und schien irgendwie an ihrem Schicksal interessiert zu sein.

»Sie hat diese grausame Folter überlebt«, antwortete Alice. »Allerdings kann ich mir auch nicht in den schlimmsten Alpträumen vorstellen, welche Höllenqualen und Schmerzen sie erlitten haben muss.«

»Woher willst du wissen, dass sie überlebt hat?«, fragte Marie.

Alice wartete mit der Antwort, schaute dabei Marie tief in die Augen und sagte dann:

»Weil ihr Blut in deinen Adern fliesst!«

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