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Kapitel 2: Alice

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Paris, 27. Dezember 2027

Nachdem Alice an der Wohnungstüre geklingelt hatte, öffnete Lavoisier ohne Umschweife und bat sie herein. Beide wussten nicht so recht, wie sie sich begrüssen sollten. Eine gewisse Verlegenheit war beiden anzumerken. Aber Alice nahm das Heft in die Hand und küsste ihn auf die Lippen. Lavoisier erwiderte ihre Küsse und sie umarmten sich.

»Komm herein«, sagte Lavoisier. »Wieso bist du nicht in England?«, fragte er und war irgendwie dankbar, dass er ein Thema gefunden hatte, das er anschneiden konnte.

»Danke, es geht mir auch gut«, antwortete Alice ein wenig reserviert, und erst jetzt bemerkte Lavoisier, dass er sie gar nicht nach ihrem Befinden gefragt hatte. Er bedauerte augenblicklich, dass er zuerst die Englandfrage gestellt hatte und wollte gerade fragen, wie es ihr ginge, als sie ihn einfach wieder küsste.

»So, nun weisst du, wie es mir geht«, antwortete Alice und lächelte ihn ein wenig schmollend an.

»Ich habe nicht ganz verstanden, wie es dir geht«, bemerkte Lavoisier und musste ebenfalls lächeln.

»Komm her, ich erkläre es dir nochmals«, sagte Alice und küsste ihn nochmals leidenschaftlich.

»Jetzt habe ich verstanden, obwohl ich mich frage…«

»Netter Versuch, aber jetzt müssen wir zuerst andere Dinge besprechen.«

»Du hast natürlich recht«, antwortete Lavoisier, aber das Wort ‚zuerst‘ blieb in seinen Gedanken hängen. Er versuchte wieder etwas ernsthafter zu wirken, was ihm aber nicht ganz gelang.

»Hast du schon etwas gegessen?«, fragte er sie.

»Nein«, antwortete Alice, die jedoch bemerkt hatte, dass aus dem Backofen ein Pizzaduft zu ihnen her wehte.

»Nimmst du auch eine Pizza?«, fragte er, und Alice nickte.

Nachdem er die zweite Pizza auch in den Backofen geschoben hatte, deckte er den Esstisch und sie setzten sich danach aufs Sofa.

»Es freut mich, dass du hier bist«, begann Lavoisier, »aber es wäre sicherer für dich gewesen, wenn du mit Emma und Cartier nach England gereist wärest.«

»Ich weiss. Aber was soll ich in England tun? Ich will dir helfen, die Aldemakros zu stoppen, aber wenn ich in England bin, kann ich das nicht.«

Lavoisier dachte über ihre Worte nach. Natürlich hatte sie recht. Aber es wäre ihm wohler gewesen, wenn er sie in England gewusst hätte.

»Und dann gab es noch einen anderen Grund«, nahm sie wieder den Faden auf.

»Und der wäre?«

Sie hob vom kleinen Salontisch sein Weinglas auf und prostete ihm mit einem Lächeln zu.

»Du bist der Grund«, antwortete sie.

Erst jetzt bemerkte er, dass er ihr keinen Wein offeriert hatte. Er hatte den Eindruck, dass er nicht ganz bei der Sache war, aber er entschied, dass das bei verliebten Menschen wohl normal war. Er stand auf, nahm ein zweites Weinglas, füllte es mit Rotwein, wobei er diesmal auf die Etikette achtete und zufrieden nickte. Danach streckte er das Glas Alice entgegen.

»Ich behalte deins«, sagte sie.

»Auf dich«, antwortete Lavoisier und als ihre Gläser sich berührten, ertönte ein gläserner Klang, der langsam verhallte.

»Ich war bereits auf Emmas Yacht, und wir wollten gerade ablegen«, sagte sie.

»Aber ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl, das mir sagte, ich solle in Paris bleiben.«

»Normalerweise bin ich das mit den komischen Gefühlen«, sagte Lavoisier.

»Stimmt, aber ich habe mich dann entschieden, zurück nach Paris zu kommen, und jetzt bin ich hier«, sagte sie. Lavoisier wollte sie in die Arme nehmen und küssen, aber der Backofen begann wie wild zu piepsen, und er musste die Pizzen herausholen. Sie setzten sich an den grossen Esstisch. Alice nahm die beiden Weingläser mit und stellte eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch, während Lavoisier mit zwei Tellern, auf denen sich die Pizzen befanden, an den Esstisch trat. Er servierte und zog aus einer danebenliegenden Schublade entsprechendes Pizzabesteck heraus. Sie wünschten sich guten Appetit und begannen mit dem Essen.

»Was denkst Du, wird morgen geschehen?«, fragte Alice.

»Es wird zur Katastrophe kommen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie werden die Länder vernichten, auslöschen und von der Landkarte tilgen, die sich nicht hinter das weltweite Verhandlungskonsortium unter der Leitung des Innenministers stellen. Die Länder, die schon entschieden haben, weder zu verhandeln noch zu kapitulieren, werden die ersten sein, die durch die Aldemakros bestraft werden«, antwortete Lavoisier.

»Und werden alle bedingungslos kapitulieren?«, fragte Alice.

»Das denke ich nicht. Die Bedingungen der Aldemakros sind unmissverständlich. Es gibt keine Verhandlungen, wenn nicht alle kapituliert haben. Nach dem, was in Ägypten geschehen war, werden sie mit aller Härte zeigen, wozu sie fähig sind. Sie werden keine Gnade walten lassen.«

»Wir müssen diese Wurmlöcher schliessen, sonst wird es keine Zukunft für uns Menschen geben«, meinte Alice.

»Du hast gesehen, was unter den Pyramiden passiert ist«, antwortete Lavoisier.

»Ja, ich mag gar nicht daran denken«, sagte Alice mit trauriger Stimme, denn auch sie hatte Steven Smith sehr gemocht.

»Wie konnte das nur passieren?«, fragte er.

»Entweder war es purer Zufall, oder …«

»Oder jemand hat uns verraten«, machte Lavoisier den Satz fertig.

Alice wusste, dass Lavoisier nicht an Zufälle glaubte. Sie hatte sich auch schon den Kopf darüber zerbrochen, und was ihr Verstand ihr sagen wollte, gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Hast du jemanden im Verdacht?«, fragte sie.

»Ja, das habe ich, aber ich bin mir noch nicht sicher. Ich muss alle Personen nochmals auf Herz und Nieren überprüfen, bevor ich mir zu hundert Prozent sicher bin.«

»Du meinst, wir müssen«, erwiderte Alice.

»Wenn du Zeit und Lust hast, mir zu helfen, dann habe ich nichts dagegen.«

»Wo fangen wir an?«, fragte Alice.

»Ich habe auf diesem USB-Stick alle Informationen über die Mitglieder des Teams Sargon. Dich und mich natürlich ausgeschlossen. Wir müssen alles überprüfen, auf jeden Hinweis achtgeben, alles in Frage stellen, auch der kleinsten Unregelmässigkeit nachgehen«, meinte er.

»Das tönt nach einer anstrengenden Nacht«, antwortete sie.

»Das ist noch nicht alles. Cartier hat mir einen USB-Stick mit weiteren RNA-Filmen geschickt.«

Alice nickte, denn während sie auf der Yacht war, wurde sie durch Cartier informiert und kannte den RNA-Film, der unter den Pyramiden spielte. Lavoisier erklärte ihr, dass er dem Team Sargon nicht den ganzen RNA-Film gezeigt, sondern einige Stellen vorenthalten hatte. Er kopierte ihr den zugeschnittenen RNA-Film auf ihren USB-Stick.

»Hast du die neuen Filme schon angeschaut?«, fragte Alice.

»Nein, noch nicht. Von jedem vom Team hat er ohne mein Wissen Zellproben genommen und daraus einen RNA-Film hergestellt.«

»Auch von mir?«

»Ja, auch von dir. Wenn du willst, kannst du deinen alleine anschauen. Der Entscheid liegt ganz bei dir.«

»Ich schlage vor, dass wir zuerst die einzelnen Personen überprüfen und zwar im Vieraugenprinzip, danach schauen wir den RNA-Film der entsprechenden Person an«, erklärte Lavoisier.

»Das macht Sinn.«

Sie assen die Reste ihrer Pizzen, tranken die Weingläser leer, und nachdem sie die Teller und das Besteck in der Küche abgestellt hatten, begannen sie mit ihren Recherchen.

»Mit wem beginnen wir?«, fragte Alice, und Lavoisier zuckte mit den Schultern. »Gehen wir von unverdächtig zu verdächtig vor«, schlug er dann doch vor. Alice war einverstanden. Lavoisier holte für sie einen Laptop und kopierte den Inhalt der beiden USB-Sticks darauf. Sein eigener stand schon auf dem grossen Büropult, vor das sie sich nun setzten.

»Helen Moody«, las Alice vor, und sie begannen, die Informationen zu lesen. Zwischendurch stellte er oder sie eine Frage, sie recherchierten auf dem Internet, gingen verschiedenen Hinweisen nach und kamen zum Schluss, dass es in ihrer Akte keinen Hinweis auf ein Motiv für einen Verrat gab. Auch der RNA- Film gab nichts Substanzielles her. So gingen sie alle Personen durch. Sie fanden nichts Auffälliges, und die RNA-Filme waren zwar sehr interessant und bei einigen Personen aufschlussreich, aber sie fanden nichts, das auf einen Verrat hindeuten konnte. Dann kam das letzte Dossier. Alice schaute ihn an, und er nickte nur kurz.

»Deine hauptverdächtige Person?«, fragte sie.

»Ja das ist so.«

»Ich will, dass wir absolut objektiv an die Überprüfung herangehen. Wir müssen uns so verhalten, als ob wir keinen Verdacht gegen die Person hegen würden«, erklärte Lavoisier.

»Dann lass uns unseren Job machen!«, sagte sie.

Beide arbeiteten das Dossier durch, suchten nach auffälligen Mustern, überprüften Hinweise. Aber sie fanden auch hier keine plausible Erklärung, warum die Person verdächtig sein sollte. Der RNA-Film war äusserst beeindruckend und erschreckend, aber daraus einen Verdacht abzuleiten, schien ihnen dann doch zu verwegen zu sein. Alice schaute Lavoisier an und wollte gerade eine Frage stellen, als sie seinen Blick sah. Sie fragte sich manchmal, ob er überhaupt anwesend war, wenn sie diesen Gesichtsausdruck sah. Er schien weit entrückt zu sein, und sie wusste, dass sie ihn in solchen Momenten auf keinen Fall stören durfte. Seine Gedanken schienen sich in der Unendlichkeit zu verlieren.

»Was geht in ihm jetzt wohl vor?«, fragte sich Alice einmal mehr. Sie wusste, dass Lavoisier auf irgendein Detail, auf einen mikroskopisch kleinen Hinweis gestossen sein musste, der bei ihm eine gedankliche Kettenreaktion ausgelöst hatte. Sie stellte sich vor, wie er in Windeseile diesen Hinweis mit seinem gesamten Wissen abglich und einen Zusammenhang herzustellen versuchte. Sie schwieg, denn sie wusste aus Erfahrung, dass er jetzt auf keinen Fall gestört werden durfte.

»Ich brauche eine Karte von Paris«, sagte er plötzlich, als seien seine Gedanken nie ins Universum entschwunden.

Alice öffnete auf ihrem Laptop die Anwendung Google Earth und zoomte Paris heran.

»Was suchst du?«, fragte Alice.

»Die Abtei Saint-Germain-des-Prés, die älteste Kirche von Paris«, antwortete Lavoisier.

»Was ist mit ihr?«, fragte Alice, während sie bereits die Suche gestartet hatte.

»Ich weiss, dass sie am Boulevard Saint-Germain liegt und auch Namensgeberin der Strasse ist«, antwortete Lavoisier.

»Wenn du schon Bescheid weisst, was willst du dann noch wissen?«, fragte sie.

»Liegt sie im 6. Arrondissement?«

»Moment, ich schaue schnell nach«, sagte Alice und antwortete kurz darauf mit »Ja«.

Ohne etwas zu sagen, tippte Lavoisier danach wie wild auf der Tastatur seines Laptops herum. Er wirkte wie ein Besessener, der bei einem Verhör den alles entscheidenden Hinweis aus einem Verdächtigen herauspressen will, und seine Finger flogen förmlich über die Tastatur. Dann lehnte er sich im Bürostuhl zurück, und seine Mimik verriet Alice, dass er fündig geworden war. Er drehte den Laptop zur Seite, so dass Alice sehen konnte, was Lavoisier ihr zeigen wollte.

»Das kann nicht sein!«, rief sie empört.

»Ich hatte es schon immer vermutet«, antwortete er.

»Marcel, du bist in sehr grosser Gefahr«, sagte Alice, und der Gedanke daran liess sie erschauern.

»Ich weiss«, antwortete er nur trocken, stand auf, holte die angefangene Weinflasche und füllte die beiden Weingläser wieder auf. Doch trank er noch nicht daraus.

»Es ist besser, seine Feinde zu kennen, als im Trüben zu fischen«, sagte er in einem beiläufigen Ton.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Ich werde als erstes ein Schreiben verfassen und an den Innenminister persönlich mailen, dass du ab sofort wieder im Team Sargon bist. Ich habe die Entscheidungskompetenz über das ganze Personal. Deshalb kann und will ich dich als meine Stellvertreterin nominieren. Du wirst also morgen früh mit mir ins unterirdische Labor mitkommen. Wir werden alle Informationen, die wir nun zusammengetragen haben, mitnehmen und die Person überführen. Die neuen RNA-Filme nimmst du aber besser zu dir. Sollte etwas mit mir geschehen, so werden sie die RNA-Filme nicht bei mir finden. Ich habe alle angeschaut und sie mir, soweit ich es für notwendig hielt, eingeprägt. Zudem gebe ich dir einen Wohnungsschlüssel. Man weiss ja nie, was geschehen wird. Natürlich nur, wenn du möchtest«, sagte Lavoisier.

Alice nickte und war froh, wieder dabei zu sein. Lavoisier öffnete seinen Mailaccount, tippte in wenigen Sätzen ein, was sie besprochen hatten und drückte auf die Sendetaste. Der Innenminister Robin würde in wenigen Sekunden seine Mail erhalten und ihm sicher kurzum eine Antwort zukommen lassen.

»Warten wir ein paar Minuten. Ich bin überzeugt, dass Robin schnell antworten wird«, sagte Lavoisier und hob sein Glas.

»Auf uns Menschen!«

»Auf uns Menschen!«, stimmte ihm Alice zu.

Dann gab sein Laptop einen kleinen Piepston von sich. Er fand eine neu eingegangene Mail mit dem Absender des Innenministers vor. Lavoisier las Alice den folgenden Text vor:

»Sehr geehrter Dr. Lavoisier

Ich begrüsse ihren Entscheid, Madame Alice Bonmot wieder ins Team Sargon aufzunehmen. Ich bin überzeugt, dass sie uns durch ihre Fähigkeiten sehr gut unterstützen kann. Es freut mich, dass Sie zu einer anderen Beurteilung gekommen sind, was den Verrat von Madame Alice Bonmont anbelangt. Ebenso begrüsse ich ihre Nominierung als Ihre Stellvertreterin.

Freundliche Grüsse

Innenminister Pascal Robin.«

Lavoisier nickte, antwortete dem Innenminister mit ein paar Anstandsfloskeln, schloss seinen Mailaccount und legte den Laptop zur Seite. Alice tat es ihm gleich.

»Du weisst, was du zu tun hast, sollte der Fall der Fälle eintreten?«, fragte er.

»Ja, das weiss ich«, antwortete Alice, und dabei blickten sie sich tief in die Augen. Sie hoben beide die Weingläser, und bevor Lavoisier etwas sagte, leerte er in einem Zug sein Glas.

»Nun ist die Arbeit getan.«

»Oder sie fängt erst richtig an«, antwortete sie, nahm ihm sein Glas ab und führte ihn ins Schlafzimmer. Lavoisier wehrte sich nicht.

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