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Kapitel 1: Der Verdacht

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Paris, 27. Dezember 2027

Alle Mitglieder des Teams Sargon waren über den Verlust ihrer Kollegen zu Tode betrübt. Steven Smith war ein angesehener und äusserst kompetenter IT-Chef gewesen, und seine Meinung wurde nicht nur gehört, sondern beachtet und respektiert. Er war ein Mensch, dem man sich gerne anvertraute und auf dessen Rat man hörte. Nun war er einfach nicht mehr da. So wie die anderen fünf Mitarbeiter aus dem Institut. Obwohl die ruppige Art von General Gresse ihnen zwischendurch auf die Nerven gegangen war, wussten sie, dass er einen guten Job gemacht hatte. Auch sein Verlust, den sämtlicher Sicherheitskräfte und der ägyptischen Mitarbeiter, die sie unterstützt hatten, schmerzten sehr.

Aber am schlimmsten war es, mit ansehen zu müssen, wie sich alle in der grossen Halle vor ihren Augen einfach in nichts auflösten. Das war unerträglich. Einige weinten, andere starrten irgendwo in eine Ecke, während einige ihrer Wut Luft machten und wie die Rohrspatzen fluchten und die Aldemakros verdammten. Lavoisiers Gedanken waren weit weg und drehten sich um eine einzige Frage.

»Warum war ein Aldemakro dort? Woher wusste er, dass sie in die unterirdische Halle gehen wollten? Es hatte keine elektronische Kommunikation gegeben, die darauf hingewiesen hätte. Ein Verdacht machte sich hartnäckig in seinem Bewusstsein breit. Aber er wollte ihn nicht wahrhaben, obwohl er wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab.

Lavoisier schickte alle Mitarbeiter nach Hause und wies sie an, den Sicherheitsanweisungen der Polizei und der Armee, die alle Mühe hatten, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, Folge zu leisten. Sie vereinbarten, dass sie alle am Folgetag um 9:00 Uhr im unterirdischen Forschungslabor erscheinen sollten. Dann würde das weitere Vorgehen besprochen. Lavoisier verliess gegen vierzehn Uhr das Gebäude als letzter und entschied, im Institut für Altertumsforschung noch einige Dinge zu erledigen, denn er wollte dem von ihm gehegten Verdacht nachgehen.

Zudem würde er bei Charles’ Kiosk vorbei gehen. Vielleicht hatte er, auf welche Weise auch immer, Informationen über seine Freunde in England zu erhalten. Ein Chauffeur brachte ihn sicher ins Institut in La Défense. Er liess den Wagen eine Strasse vorher anhalten, stieg aus und verabschiedete sich freundlich vom Fahrer, was dieser nicht erwartete und was ihn sichtlich erfreute.

Lavoisier schaute aus der Ferne zu Charles’ Kiosk und stellte fest, dass er keinen blauen Schal trug. Das bedeutete, dass die Agenten seine Überwachung eingestellt hatten. Langsam schlenderte er Richtung Kiosk, aber irgendein Bauchgefühl sagte ihm, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Charles‘ Bewegungen waren irgendwie anders, schienen gehemmter zu sein. Er ging langsam am Kiosk vorbei und tat so, als ob er an den Zeitungsaushängen interessiert wäre. Für einen Moment sah er Charles in die Augen. Er zeigte keinerlei Reaktionen und begrüsste ihn auch nicht. Genau das Fehlen einer Reaktion signalisierte Lavoisier, dass Charles in grossen Schwierigkeiten steckte.

Er ging weiter und betrat das Institut für Altertumsforschung. Vorher drehte er sich noch kurz um, und es sah aus, als ob er den Verkehr kontrollierte, bevor er die Strasse überquerte. Sein Blick huschte nicht nur über die Strasse, sondern er sah für einen kurzen Augenblick auch in den hinteren Bereich des Kiosks. Drei Männer konnte er erkennen, dem Aussehen nach keine Freunde von Charles. Nachdem Lavoisier die Sicherheitskontrollen im Institut passiert hatte, nahm er den Lift, um möglichst schnell in sein Büro zu gelangen. Er grüsste kurz eine Sekretärin, trat in sein Büro ein, öffnete eine abgeschlossene Schublade, fand den gesuchten Gegenstand, prüfte die Funktionsweise und verliess wieder sein Büro. Danach rannte er die Treppe hinunter, denn er wusste, dass er schneller als der Lift sein würde, und verliess das Institut. Er nahm den Kiosk in Augenschein. An der Situation hatte sich nichts verändert. Im hinteren Teil waren immer noch drei Personen zu erkennen. Charles bediente eine ältere Frau, gab ihr das gewünschte Journal, kassierte den entsprechenden Betrag ein und verabschiedete sich von der Kundin. Anschliessend drehte sich Charles mit dem Geld in der Hand um, und Lavoisier glaubte gesehen zu haben, dass er das Geld einem der drei aushändigte oder, besser gesagt, aushändigen musste.

»Diebe, Kleinkriminelle«, dachte Lavoisier.

»Dann werde ich Charles mal einen Besuch abstatten«, sagte er mehr zu sich selbst.

Er bewegte sich so, dass Charles und seine Peiniger sehen mussten, dass er schnurstracks auf den Kiosk zukam und durch mehrmaliges Auf-die-Uhr-Blicken den Eindruck hinterliess, dass er es sehr eilig hatte. Als er vor der breiten Theke stand, wartete er gar nicht darauf, bis Charles etwas sagen konnte, sondern gab direkt mehrere Bestellungen auf. Dabei streckte er seine Hand und seine fünf Finger so aus, dass nur Charles sie sehen konnte.

»Das kostet € 32.50«, sagte Charles in einem freundlichen, wenn auch reservierten Ton. Lavoisier zog eine Zweihunderternote hervor und überreichte sie Charles.

»Haben Sie es nicht kleiner?«, fragte er.

»Tut mir leid, leider nicht«, antwortete Lavoisier, und sein Blick fiel auf seine Hand. Charles warf auch einen Blick darauf und sah, dass nun nur noch vier Finger ausgestreckt waren. Charles blinzelte kurz und Lavoisier wusste, dass er es begriffen hatte.

»Jungs«, rief er in den hinteren Bereich des Kiosks. »Ich brauche Wechselgeld auf einen Zweihunderter!«

Lavoisier hörte Gesprächsfetzen und stellte fest, dass die Diebe sich nicht ganz einig waren, was sie tun sollten. Charles schaute auf seine Finger.

»Kommt jetzt endlich das Wechselgeld? Ich habe es eilig«, rief Lavoisier nach hinten. Charles sah, wie Lavoisier im Sekundentakt den vierten, dritten, zweiten und dann den letzten Finger seiner Hand zurückzog, so dass nur noch die Faust zu sehen war. Dann ging alles sehr schnell. Charles duckte sich und Lavoisier sprang über die Theke. Bevor die Diebe irgendetwas tun konnten, setzte Lavoisier den ersten mit einem gezielten Schlag in den Solarplexus, der sich am Übergang von Brustkorb zur Magengrube befindet, ausser Gefecht. Danach schlug er dem zweiten mit dem Fuss ein Messer aus der Hand, und bevor der Dritte zu einer Waffe greifen konnte, richtete Lavoisier seine Pistole auf ihn und befahl den beiden, die Hände hoch zu halten und sich auf den Boden zu legen, was sie auch augenblicklich taten. Lavoisier nickte Charles zu, und dieser rief die Polizei herbei.

»Wie lange machten sie das schon?«, fragte Lavoisier, nachdem die Gendarmen die drei Kleinkriminellen abgeführt hatten.

»Seit heute früh«, antwortete Charles sichtlich erleichtert und bedankte sich herzlichst bei ihm. Im Moment läuft vieles schief. Überall wird eingebrochen, geplündert, und kaum jemand hält sich noch an die Gesetze.

»Glaub mir, es wird noch viel schlimmer kommen«, sagte Lavoisier zu ihm.

»Dann möge Allah uns beistehen.«

Lavoisier nickte und sie tauschten die neuesten Informationen aus. Charles durchsuchte einen Stapel alter Zeitungen, zog zwei Kuverts, eines mit der Anschrift Galilei und ein anders das mit dem Namen Marcel versehen, hervor und übergab sie Lavoisier.

»Vielen Dank, mein guten Freund«, sagte Lavoisier und steckte die Briefe ein. Er kannte die Handschriften, und er wusste nicht, ob die Inhalte etwas Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hatten.

»Vielleicht solltest du daran denken, deinen Kiosk vorübergehend zu schliessen. Denn ich vermute, dass nach Ablauf des Ultimatums Unruhen und Plünderungen ausbrechen werden.

»Was werden Sie tun?«, fragte Charles.

»Ich weiss es nicht. Aber ich möchte morgen auf keinen Fall in einem der Länder sein, die nicht bedingungslos kapitulieren.«

»Das denke ich auch. Werden wir Menschen noch eine Zukunft haben?«

»Wir Menschen sind erst am Ende, wenn beim Letzten das Herz aufgehört hat zu schlagen«, sagte Lavoisier, und Charles spürte, dass er es todernst meinte.

»Besteht demnach noch Hoffnung?«, fragte Charles weiter.

»An dem Tag, an dem wir die Hoffnung aufgeben, wird das Ende der Zukunft für uns Menschen anbrechen. Ich will daran glauben können, dass dieser Tag noch weit entfernt ist.«

»Aber was können wir tun?«

»Ich weiss es nicht. Aber wir sind Menschen. Uns ist noch immer etwas eingefallen, wenn es hart auf hart gegangen ist.«

»Aber die Aldemakros scheinen über Technologien zu verfügen, die den unsrigen weit überlegen sind.«

»Ja, das mag sein«, sagte Lavoisier.

»Wir sollten Verbündete haben, die über die gleichen Technologien oder noch bessere verfügen«, sagte Charles.

Kaum hatte Charles den Satz zu Ende gesprochen, drang bei Lavoisier wieder das seltsame Gefühl an die Oberfläche wie damals, als er die Mitteilung erhalten hatte, dass neue Wurmlöcher entstanden und weitere Raumschiffe gelandet waren. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, aber diesmal hielt er ihn fest und war überzeugt, dass das Schicksal der Menschen eng mit diesem Gedanken verwoben war. Und er sollte Recht bekommen.

»Deshalb verwirrte mich alles«, dachte er und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.«

»Ein Königreich für deine Gedanken«, sagte Charles.

»Dein letzter Satz gibt uns vielleicht die Richtung vor, wie wir die Aldemakros besiegen können«, sagte Lavoisier und verabschiedete sich, weil er zu Hause noch einige Dinge erledigen wollte, die nicht warten konnten. Denn sein Verdacht nahm immer konkretere Züge an.

Der Grossmeister der Bruderschaft des reinen Herzens sass neben Gabriel im Schloss Chambord. Es sah irgendwie surreal aus. Da sass Gabriel, der Racheengel Gottes und neben ihm Berger, der dagegen fast schon zwergenhaft wirkte. Gabriel war nicht gut gelaunt.

»Eines muss man euch Menschen lassen. Ihr heckt immer wieder etwas aus, wenn es ums Überleben geht. Das respektiere ich. Aber ich werde dem ein für alle Mal ein Ende bereiten.«

»Aber wir brauchen doch viele von Ihnen«, sagte Berger.

Gabriel ignorierte seine Bemerkung und schwieg. Vielmehr wollte er wissen, wie es überhaupt zum Einsatz in Ägypten kommen konnte. Berger spürte, dass ihn Gabriel dafür irgendwie verantwortlich machte.

»Wer war der Urheber des Plans, in das alte Kontrollzentrum unter den Pyramiden einzudringen?«, fragte Gabriel.

»Meine Quelle erzählte mir, dass Dr. Lavoisier irgendeinen Film gezeigt hatte, in dem das alte Kontrollzentrum zu sehen war. Er verfügte auch über die Programmcodes, um die Kontrolle über das Wurmloch zu erlangen«, antwortete Berger. »Wie er dazu gekommen war, weiss meine Quelle nicht.

»Bring mir diesen Dr. Lavoisier, ich will wissen, was er alles weiss«, forderte Gabriel den Grossmeister auf.

»Soll ich ihn sofort zu dir führen?«

Gabriel überlegte, und es schien, als wäge er ab, wann es am besten wäre, sich Dr. Lavoisier vorzuknöpfen.

»Bring ihn mir morgen gegen Mittag!«, sagte er und Berger hatte das Gefühl, dass sich Gabriels Laune augenblicklich verbessert hatte.

»Ich werde ihn dir morgen bringen«, versicherte Berger ihm.

Draussen setzte bereits die Dämmerung ein. Der Nebel schlich durch die Strassen, und eine unangenehme, feuchte Luft wehte Lavoisier entgegen. Er mochte die Kälte und den Winter nicht. Er wusste, dass er bis zum morgigen Ultimatum viel vorbereiten musste. Gedankenverloren ging Lavoisier die Treppe zu seinem Appartement an der Rue de Baune hoch. Er schloss seine Wohnungstüre auf, trat ein und legte sich aufs Sofa, wobei er zuvor seine Schuhe auszog.

»Was für ein beschissener Tag«, dachte Lavoisier traurig. Er mochte gar nicht an die Ereignisse in Ägypten denken. Weil er Hunger hatte, öffnete er seinen Kühlschrank. Dieser war zwar gut gefüllt, aber irgendwie hatte er keinen Appetit und schloss, ohne etwas herauszunehmen, wieder die Türe. Dafür füllte er etwas Wein in ein Glas und achtete nicht einmal darauf, welche Weinflasche er gewählt hatte. Er leerte das Glas in einem Zug und stellte es auf das kleine Tischchen neben dem Sofa. Er hing seinen Gedanken nach. Dann erinnerte er sich plötzlich an die beiden Kuverts. Er zog sie hervor und öffnete das erste mit der Anschrift Marcel.

»Lieber Marcel

Wenn du diese Zeilen lesen wirst, werde ich schon in den USA sein. Zu riskant scheint mir der Aufenthalt in Europa zu sein. Ich werde nicht zurückkommen, warte also nicht auf mich. Ich habe die Zeit mit dir immer sehr genossen, und deine Liebe bedeutete mir viel. Aber alles hat seine Zeit. Ich wünsche dir gutes Gelingen und es wäre schön, wenn ich eines Tages sagen könnte, ein früherer Geliebter von mir hat die Welt gerettet. Danke für alles. Bisous«, las Lavoisier. Er musste die Unterschrift nicht lesen, denn er kannte Colettes Schrift auch so. Seine Stimmung wurde nicht besser, aber er konnte Colette sehr gut verstehen. Sie beide wussten, dass ihr Arrangement auf Dauer keinen Bestand haben würde. »Es ist, wie es ist«, dachte Lavoisier.

Er öffnete nun das zweite Kuvert, nahm einen Brief und einen USB-Speicherstick heraus. Instinktiv stand er auf, ging in sein Büro im oberen Stock, steckte den USB-Stick in den Laptop, während er die ganze Zeit im Brief las. Er wusste, wer der Absender war, aber er hätte nicht erwartet, dass er von Cartier noch einen Brief und sogar noch einen USB-Stick erhalten würde. Er ging davon aus, dass sie längstens in England angekommen waren.

»Lieber Marcel

Bevor wir Richtung England in See gestochen sind, hatte ich in meinem mobilen Labor noch einige weitere RNA-Filme erstellen können. Ich weiss nicht, ob sie dir weiterhelfen, aber man kann ja nie wissen. Ich habe mir ohne dein Wissen von allen im Team Sargon eine RNA-Probe geben lassen. Zuerst war es eine Spielerei, aber ich denke, was du sehen wirst, könnte womöglich hilfreich sein. Ich hoffe, dass deine Mission, wie immer sie aussieht, erfolgreich sein wird. Wir lassen dich alle herzlich grüssen und sind in Gedanken bei dir«, endete der Brief, gefolgt von mehreren Unterschriften. Lavoisier überflog sie. Er konnte die Namen von Emma, Jules, Isabella, Amana und Pierre entziffern, wobei Pierre eine schreckliche Schrift zu haben schien. Einen Namen allerdings vermisste er aufs schmerzlichste.

Er stand auf, ging nochmals hinunter in die Küche, öffnete das Gefrierfach des Kühlschranks und zog eine Pizza heraus. Danach schaltete er den Backofen ein, stellte die Temperatur auf 220 Grad ein und schob die Pizza in den Backofen. Dann klingelte es an der Haustüre. Lavoisier zögerte, ob er überhaupt den Knopf der Gegensprechanlage drücken wollte. Schliesslich tat er es doch. Hätte er es nicht getan, wären die Konsequenzen für die Menschheit katastrophal gewesen.

»Ja«, meldete sich Lavoisier.

»Jemand aus Amiens möchte dich besuchen«, hörte er eine ihm bestens vertraute weibliche Stimme.

»Er drückte auf den Entriegelungsknopf und hörte nach einem kurzen Klicken, wie die Haustüre geöffnet wurde.

»Alice«, dachte er, und augenblicklich durchströmte ihn eine innere Wärme.

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