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Kapitel 3: Robin

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Paris, 28. Dezember 2027

Lavoisier stand um halb vier Uhr wieder auf. Die Nacht mit Alice war wunderschön, aber er musste einem Gedanken auf den Grund gehen, der ihn seit ein paar Tagen verfolgte. Er ging in sein Büro, startete den Laptop und öffnete den RNA-Film mit der Szene, die im Kontrollzentrum unterhalb der Pyramiden in Ägypten spielte. Es war das Original von Cartier, und er schaute sich den RNA-Film immer und immer wieder an. Er erkannte plötzlich, dass die schwebende Person an den beiden Handoberseiten ganz kleine, eigenartige Symbole, Zeichen wie Tattoos, trug. Sie waren sehr klein und bis jetzt wohl niemandem aufgefallen. Er vergrösserte das Standbild und erkannte, dass es sich um Keilschriftzeichen handelte. Ein Abgleich mit einer spezifischen Datenbank lieferte ein erstaunliches Ergebnis. Es waren sumerische Keilschriftzeichen, und die Umschrift lautete »Nisaba.«

»Das ist doch auch der Name, der im Brief von Amana de Soto stand. Ist das ein Zufall, oder könnte es sein, so absurd auch die Idee sein mag, dass es die gleiche Nisaba wie im Brief ist? Und wenn ja, wäre es ein anderes Wesen und kein brutaler und bösartiger Aldemakro?«, fragte sich Lavoisier und überlegte, was das womöglich für die Menschheit bedeuten könnte. Lavoisier sah auch noch andere, gleichartige Wesen, die wie Nisaba aussahen. Er spielte den RNA-Film nochmals ab, aber diesmal rückwärts. Er begann also am Ende und würde am Anfang fertig sein. Dadurch hoffte er, einen weiteren entscheidenden Hinweis gewinnen zu können. Er war überzeugt, dass er etwas gesehen hatte, was wichtig war. Aber er vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern und hatte den Eindruck, im Nebel zu stochern. So entschied er, sich zu einem späteren Zeitpunkt den RNA-Film nochmals anzuschauen. Leider sollte er den Film nicht mehr sehen können. Aber die Erinnerung daran würde später von entscheidender Bedeutung sein.

Der Duft von frischem Kaffee liess Alice erwachen. Sie war immer noch müde, aber sie fühlte sich glücklich. Sie hatten eine wunderschöne Nacht zusammen verbracht. Nun hörte sie, wie Lavoisier im unteren Stockwerk mit Geschirr hantierte, und folgerte daraus, dass er den Frühstückstisch deckte. Sie schaute auf die auf dem Nachttisch liegende Armbanduhr. Sie zeigte 6:45 Uhr an. Eigentlich wäre sie jetzt lieber im warmen Bett liegen geblieben, wusste aber, dass viel Arbeit vor ihnen lag. Sie stand auf, duschte im angrenzenden Badezimmer und stieg, nachdem sie sich angezogen hatte, die Treppe hinunter.

»Guten Morgen«, sagte Lavoisier zu ihr, wobei er sie herzlich in die Arme nahm.

»Auch guten Morgen«, antwortete sie.

Sie setzten sich, frühstückten und gingen die einzelnen Punkte nochmals durch, die sie heute im Forschungslabor mit allen besprechen wollten. Sie wussten, dass es eine heikle Aufgabe war. Lavoisier hatte eine Art Vorahnung, die für ihn sehr nahe an Gewissheit grenzte, was alles an diesem Tag geschehen könnte. Er würde sich nicht irren. Er hatte sich schon oft gefragt, woher er diesen sechsten Sinn her hatte. Obwohl er sich eigentlich selber als einen Menschen bezeichnete, der basierend auf Fakten und logischem Denken handelte, so fiel ihm in den letzten Jahren auf, dass er vermehrt neben dem Verstand auch auf seine Intuition, seine Gefühle und Vorahnungen zurückgreifen konnte. Wenn es hart auf hart ging, so wusste er aus eigener Erfahrung, dass er sich auf seinen sechsten Sinn verlassen konnte. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und inneren Ruhe. Nachdem sie die ofenwarmen Croissants gegessen und den restlichen Kaffee getrunken hatten, brachen sie auf.

»Bist du gewappnet?«, fragte er.

»Ich denke ja, habe aber ein mulmiges Gefühl bei der ganzen Sache«, antwortete sie.

»Du wirst es schaffen, da bin ich mir sicher« sagte er und küsste sie auf die Stirne.

»Deine Zuversicht möchte ich in Anbetracht der Situation auch haben«, meinte sie lakonisch, als sie die Treppe zum Hausausgang hinunter stiegen.

Das Telefon klingelte nur kurz.

»Robin«, meldete sich der Innenminister, nachdem er seine Bürotüre zuvor geschlossen hatte. Er tönte müde und angespannt, und dies war nicht seinen 61 Jahren zuzuschreiben.

»Berger hier«, antwortete der Grossmeister der Bruderschaft des reinen Herzens.

»Es haben schon zahlreiche Länder bedingungslos kapituliert«, erklärte der Innenminister unaufgefordert.

»Deshalb rufe ich dich nicht an, Pascal.«

»Was hast du auf dem Herzen, Alain?«, fragte Robin.

»Gabriel will mit jemandem reden, und es ist kein Wunsch, sondern eine klare Anweisung«, erklärte Berger und ergänzte: »Er ist seit der Mission unter den Pyramiden sehr ungehalten. Er wollte wissen, wer das Ganze geplant hatte, und ich befürchte, dass er für die Misere insgeheim mich verantwortlich macht.«

»Und hast du es ihm gesagt?«

»Das musste ich. Er hätte sowieso meine Gedanken lesen können. Wenn ich einen Racheengel belüge, ist es dasselbe, wie wenn ich unseren Herrn Jesus Christus, der in Bälde zu uns kommen wird, belügen würde.«

»Ich verstehe«, sagte Robin.

»Ich brauche deine Unterstützung«, kamen Bergers Worte nur zögerlich über seine Lippen.

»Was willst du von mir?«, fragte Robin.

»Ich will wissen, wo sich Lavoisier und das Team Sargon morgen früh aufhalten werden.«

»Sie arbeiten in einem geheimen Forschungslabor tief unter der Erde«, antwortete Robin.

»Und wo befindet sich die Anlage?«

»Das ist geheim«, antwortete Robin, und ihm war klar, dass diese Antwort für Berger inakzeptabel war.

»Ich frage dich noch einmal, wo befindet sich die Anlage?«, ertönte die laute und tiefe Stimme Bergers.

Der Innenminister zögerte mit der Antwort, doch dann sagte er:

»Wenn du willst, kann ich dir Lavoisier ausliefern, aber der Ort der Anlage muss geheim bleiben.«

»Falsche Antwort. Du hast noch eine Chance«, sagte Berger, und Robin konnte die Eiseskälte in seiner Stimme förmlich spüren. Zudem machte sich ein fahler, leicht bitterer Geschmack in seinem Mund bemerkbar, denn er wusste, was Berger als nächstes sagen würde.

»Deiner Frau mag es ja egal sein, dass du mit jungen Dingern herummachst. Du weisst, dass ich das grundsätzlich nicht goutiere. Aber das ist deine private Angelegenheit. Ich hoffe aber, dass du dich noch daran erinnerst, wer dir damals deinen Arsch gerettet hat, als du als aufstrebender Politiker, mit Aussicht auf einen Ministerposten, an Silvester 1999 erwischt wurdest, wie du eine Vierzehnjährige gevögelt hast«, erklärte Berger seelenruhig.

Robin hatte immer schon gewusst, dass dieser Tag kommen und Berger ihn damit unter Druck setzen würde. Er war damals überzeugt gewesen, dass das Mädchen älter war. Erst anschliessend wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er in eine Falle seiner politischen Gegner getappt war, die um seine Vorliebe für junge Frauen wussten. Er würde den Tag nie vergessen, an dem man ihm die ersten aufgenommenen Nacktbilder anonym zukommen liess. Die Erpresser forderten nicht einmal Geld. Es schien ihnen auch egal zu sein, dass er es mit einer Vierzehnjährigen getrieben hatte. Vielmehr verlangten sie nur eines: seinen sofortigen Rücktritt aus allen politischen Ämtern. Sie gaben ihm drei Tage Zeit. Danach würden sie mit den Bildern an die Medien gelangen. Das wäre dann das gesellschaftliche Ende für ihn gewesen. In seiner Verzweiflung wandte er sich an Berger, den er von früher kannte. Berger war damals noch nicht Grossmeister und nahm sich der Sache auf seine Weise an. Nach zwei sich unendlich lang anfühlenden Tagen bekam er wiederum einen anonymen Brief, worin erklärt wurde, dass sich alles als ein grosses Missverständnis herausgestellt hätte und an der Sache nichts dran wäre. Die Erpresser schrieben sogar, dass sie ihm viel Glück für seine politische Zukunft wünschten. Berger musste ganze Arbeit geleistet haben. Er fragte ihn nie danach. Allerdings erklärte er ihm damals emotionslos, dass die Bilder nun bei ihm bestens aufgehoben seien.

»Ich warte«, hörte er nun Bergers ungeduldige Stimme, und augenblicklich waren seine Gedanken wieder in der Gegenwart.

»Hast du etwas zum Notieren?«, fragte Robin resigniert.

»Ja, schiess los«, antwortete Berger.

Der Innenminister gab ihm alle Angaben bekannt. Dies beinhaltete nicht nur die exakte Adresse, sondern auch die Zugangswege zum unterirdischen Forschungslabor und die Codes für die Liftsteuerung. Ebenso erklärte er Berger, dass Lavoisier vermutlich schon kurz nach acht Uhr an seinem Arbeitsplatz sein würde.

»Wie werdet ihr vorgehen?«, fragte Robin, den schon jetzt ein schlechtes Gewissen plagte.

»Lass das unsere Sorge sein. Je weniger du weisst, desto besser. Wir werden das zur Zufriedenheit Gabriels und zum Wohle des Herrn erledigen«, sagte Berger und riet ihm: »Schau dafür, dass uns niemand in die Quere kommt, sonst könnte es ein blutiges Ende nehmen.«

Der Grossmeister der Bruderschaft des reinen Herzens wartete erst gar nicht Robins Reaktion ab. Er legte auf und war einigermassen mit sich zufrieden.

»Morgen haben wir dich«, dachte er und meinte damit natürlich Lavoisier.

Er rief Bruder Patrice, den Führer des militärischen Arms der Bruderschaft, zu sich und gab ihm die entsprechenden Informationen weiter. Dieser nickte, und in weniger als einer Stunde stand der Einsatzplan für die Ergreifung Lavoisiers. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn sie Lavoisier zu Hause aufgegriffen hätten, aber Berger verfolgte noch ein anderes Ziel, das nur er kannte, und deshalb musste der Einsatz im unterirdischen Forschungslabor erfolgen. Dass er schon vorher gewusst hatte, wo es sich verbarg, behielt er ebenfalls für sich.

Das war am frühen Abend des Vortages geschehen. Nun war es sechs Uhr in der Frühe. Robin hatte keine gute Nacht verbracht, vor allem wenig geschlafen, und war entsprechend schlecht gelaunt. Das lag nicht nur daran, dass er die Nacht zu Hause bei seiner Frau verbrachte, sondern weil er ständig mit aktuellen Informationen über den Stand der bedingungslosen Kapitulationen verschiedenster Länder überhäuft wurde. Ebenso raubte ihm der geplante Einsatz der Bruderschaft den Schlaf. Er fühlte sich mies.

»121 Länder sind bereit, bedingungslos zu kapitulieren«, sagte der Innenminister mehr zu sich selbst.

Robin fühlte sich zunehmend unwohler. Der Gedanke an die Ergreifung Lavoisiers schlug ihm auf den Magen. Es war ihm klar, dass es nicht richtig war, was Berger vorhatte. Robin wusste natürlich, dass Berger ihn in der Hand hatte. Da kamen ihm die Worte von Alice Bonmot wieder in den Sinn.

»Als Innenminister bin ich als erstes unserem grossartigen Land verpflichtet. Das heisst für mich, dass ich die Verfassung unserer Republik über alles stelle. Wenn also jemand versuchen würde, ein neues Reich Gottes zu errichten, wäre dieses Vorgehen verfassungswidrig, und ich müsste entsprechend handeln.«

»Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los«, dachte Robin und fühlte sich augenblicklich wie der Zauberlehrling in einem der bekanntesten Gedichte Goethes.

Robin spürte, dass er etwas unternehmen musste.

»Wenigstens ist Alice Bonmot wieder im Team Sargon. So wäre die Leitung im Fall der Fälle in guten und zuverlässigen Händen«, dachte er. Dass Lavoisier zuvor genau den gleichen Gedanken gehabt hatte, konnte er nicht wissen. Dann fällte Robin einen Entscheid.

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