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Vertrauen
ОглавлениеSo ging dieser Tag mit äußerst bewegenden Worten zu Ende. Ich schöpfte Hoffnung, aber eine gehörige Portion Skepsis blieb. Nach so einer emotionalen Eröffnung hatte ich das dringende Bedürfnis nach ein wenig Ruhe, bevor wir uns alle am Abend in der Bar wieder treffen wollten. Ich musste nachdenken und begab mich in mein Zimmer – nicht ohne vorher noch ein paar Telefonate zu führen. Als ich so auf meinem Bett lag und die Augen schloss, zogen verschiedene Situationen des Tages an meinem inneren Auge vorbei. Auch die Mittagspause und das Gespräch mit Steffen Karneth.
»Vertrauen finden« – diese Worte von ihm ließen mir keine Ruhe. Sie hatten mich irritiert. Ging es denn um Vertrauen? Ging es nicht vielmehr darum, Mittel und Wege zu finden, Fachkräfte zu bekommen, Qualitätsmängel zu beheben, Termintreue wiederherzustellen? Stattdessen hatten die Herren UnternehmensBeatmer im Kick-off, in den Einzelgesprächen und im Workshop unterschiedliche vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen, die allesamt dazu führten, dass die Stimmung am Ende fast euphorisch war. Diese Feedbackrunde war aber auch ein geschickter Schachzug. Nicht nur als vertrauensbildende Maßnahme. Denn so wurde sehr deutlich, wo noch Verbesserungspotenzial war, ohne dass auch nur ein kritisches oder gar verletzendes Wort gefallen wäre. Fast unbemerkt war im Laufe des Tages aus dem Haufen keilender Kollegen ein Team geworden, in dem sich jeder Einzelne wertschätzend über die anderen geäußert hatte. Auch über mich. Ich sei freundlich, hilfsbereit und ehrlich, hatten sie gesagt. Aber fast alle wünschten sich, dass ich mehr Zeit für sie hätte, dass ich nicht immer in Eile wäre und nicht so vieles liegen ließe oder Fragen unbeantwortet blieben. Sie wünschten sich, ich möge mehr delegieren. Aber wie sollte das gehen? An wen? Wer war kompetent genug? Johannes Barth? Der hatte sich zwar gut in den Workshop eingefügt, aber würde er das nicht dazu nutzen, Maßnahmen voranzutreiben, die ich nie billigen würde?
Der Abend in der Bar verlief zunächst ein wenig hölzern. Man unterhielt sich artig, aber distanziert. Nur Ali Ben Nasul und Jasper Kamensieg fanden ein gemeinsames Thema, die arabische, bzw. muslimische Kultur. Herr Kamensieg war sehr interessiert an den Ansichten der Muslime. Die anderen taten sich sichtlich schwer, gemeinsame Themen zu finden. So kam es, dass sich das Interesse der meisten auf die UnternehmensBeatmer richtete. Das war die Gelegenheit, die beiden noch näher, noch privater kennenzulernen, und niemand musste sich intensiv mit den Kollegen befassen.
»Jetzt haben Sie ja schon einen ersten Eindruck von der Gruppe«, sprach ich Steffen Karneth an. »Was glauben Sie – trennt die meisten nicht zu viel, um zu einem guten Team zusammenzuwachsen?«
»Alles Trennende kann überwunden werden«, gab sich Herr Karneth philosophisch.
»Was macht Sie da so sicher?«, fragte ich nach.
»Das sind drei Dinge: Zum einen ist es die jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Teams. Es ist noch nie vorgekommen, dass eine Gruppe von Führungskräften nicht am Ende wirklich besser zusammengearbeitet hätte.
Zum anderen ist es die Erfahrung des heutigen Tages. Ich spüre von allen einen klaren Wunsch, als Team zusammenzukommen und die vor ihnen liegenden Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Das ist toll!«
»Und zum Dritten?«, fragte ich neugierig.
»Zum Dritten ist es meine ganz persönliche Lebensgeschichte, die mit der Überwindung einer historischen Trennung zu tun hat.«
»Dürfen wir daran teilhaben?« Wenke Schneider beugte sich neugierig vor.
»Aber sicher. Ich erzähle die Geschichte gerne. Sie hat mein Leben stark geprägt. Es war der 9. November 1989. Ich war mit meiner späteren Frau Katrin in einem Berliner Jugendklub in der heutigen Torstraße, Ecke Friedrichstraße. Musik dröhnte in unseren Ohren, aber etwas war anders als sonst. Eine ungewohnte Unruhe breitete sich aus. Wortfetzen drangen zu uns durch, ›Mauer … offen‹, immer mehr Jugendliche gingen hinaus. Katrin und ich schlossen uns an, ohne zu verstehen, was vor sich ging. Draußen reihte sich ein Trabi an den nächsten. Wir bewegten uns mit der Masse in Richtung des nahen Grenzübergangs Invalidenstraße. Dort stockte es. Nichts ging mehr. Plötzlich, als wäre ein Damm gebrochen, schob sich die Menschenmenge vorwärts. Eine merkwürdige Aufregung erfasste mich. Da waren Grenzer, aber wir passierten sie einfach. Ich schaute mich um. Waren wir schon im Westen? Ich wusste es nicht, der Grenzstreifen war breit. Dann sah ich in einiger Entfernung von mir auf der linken Seite ein Schild: ›Lehrter Stadtbahnhof‹. Den kannte ich nicht. Das musste Westberlin sein. Eine S-Bahn hielt, wir stiegen ein und am Bahnhof Zoo wieder aus. Dann liefen wir mit allen anderen zum ersten Mal über den Ku’damm. Wo wir auch hinkamen, feierten die Menschen, luden uns ein. Wir tranken Sekt mit Wildfremden, wurden umarmt, als wären wir lang vermisste Geschwister. Eine Stimmung, die uns mitriss, uns in einen fantastischen Freudentaumel katapultierte. Das Leben war plötzlich so bunt und vielfältig, so voller Möglichkeiten. Überwältigt von den Eindrücken erlebte ich eine nie gekannte Verbindung, eine grenzenlose Freiheit und die Gewissheit: Es ist möglich, alles Trennende zu überwinden!«
Es war ruhig geworden in der Bar. Alle hatten gebannt zugehört. Und weil Steffen Karneth ein Ereignis geschildert hatte, mit dem jeder eine ganz persönliche Geschichte verband, lockerte sich die Atmosphäre plötzlich. Einige erzählten, wie sie selbst diesen historischen Tag erlebt hatten. Keinen hatte der Mauerfall kalt gelassen und alle hatten die Verbundenheit und Freude des Moments mitempfunden. Die Überwindung der Trennung einer ganzen Nation hatte ihre strahlende Wirkung nach so vielen Jahren noch nicht verloren, wie wir alle an diesem Abend in der Bar spürten.