Читать книгу Katharina und Abigail - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 13
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»Der Opa war ein wunderbarer Mann. Er liebte seine ›Bälgerlin‹, wie er uns Kinder nannte. Wenn meine Mutter wieder einmal Grund genug hatte, uns zu versohlen, und sie hatte ein ›lockeres Handgelenk‹, versteckten wir uns schnell hinter dem Opa, der uns beschützte und unsere Mutter immer wieder beschwichtigen konnte.« Katharina lächelte still vor sich hin, während diese Szenen an ihrem geistigen Auge vorbeizogen.
»Es kamen Fuhrwerke zu unserer Schmiede und die Männer baten Opa, die Pferde noch ein letztes Mal zu beschlagen. Sie verließen unser Dorf, um in den Westen zu fahren. Es hieß, der Krieg sei verloren und die Russen ständen schon mit ihren Panzern kurz vor der nächsten Stadt. Der alte Mann schüttelte den Kopf und konnte sich nicht vorstellen, ebenfalls fortzugehen. Aber es kamen immer mehr Pferdekarren durch den Ort und von allen Menschen, die durchzogen, hörten wir dieselbe Geschichte. Doch wir konnten damals nicht einfach so weg. Meine Mutter hatte einen kleinen Jungen geboren, in den ich mich sofort verliebte.
Wir spürten alle die Unruhe, die unseren Großvater von Tag zu Tag nervös umhertrieb. Immer wieder lief er vor das Haus und hielt Ausschau. Und eines Tages war es soweit, er stürzte ganz aufgelöst in die Wohnstube und erzählte unserer Mutter, dass die Panzer sich schon ganz in der Nähe unseres Dorfes bewegten. Wir müssten sofort aufbrechen.
Es blieb keine Zeit für umfangreiche Vorbereitungen. Die ersten Geschütze rollten bereits durch unseren Ort. Opa spannte unsere beiden Pferde vor den Wagen, den er schon vor einigen Tagen beladen hatte. Betten, Kleidung, Lebensmittel verfrachtete er so geschickt, dass noch Platz für seine gichtgeplagte Frau und Amalia mit dem Baby vorhanden war. Wir Kinder konnten ja laufen und er tröstete uns damit, dass wir auch auf den Wagen dürften, wenn wir müde sind.
An dem Tag, an dem man uns von Haus und Hof verjagte, war mein kleiner Bruder gerade mal acht Tage alt. Eilig sammelte meine Mutter ihre ›Küken‹ um sich, legte das Baby in eine Decke, die sie sich umband, und zog uns Kindern und der Oma mehrere Jacken und Mäntel übereinander. Wir konnten uns darin kaum bewegen, aber es war ein bitterkalter Winter.
Ängstlich schauten wir immer wieder zurück und sahen, dass ein Panzer auf unseren Hof gefahren war. Russische Soldaten riefen laut fremde Wörter. Wir mussten unsere Tiere zurücklassen. Das war für mich besonders schlimm. Brav liefen wir neben dem Wagen her. Dann standen junge polnische Männer vor uns, die unsere Pferde haben wollten. Opa versuchte, ihr Herz zu erreichen und sie dazu zu bewegen, sie uns zu lassen. Aber sie kannten keine Gnade. Sie stahlen unsere Pferde und ritten davon. So mussten wir auch den voll bepackten Wagen stehen lassen. Oma und Mama waren nun auch gezwungen, den Weg zu Fuß fortzusetzen. Jeder von uns bekam ein Bündel mit irgendetwas in die Hand und auf den Rücken gebunden. Ich erinnere mich noch heute an Mamas Rufe: ›Laufen, Kinder, nicht stehenbleiben! Bewegt euch!‹ Irgendwann waren wir alle übermüdet und durchgefroren. Wir Kinder liefen traumatisiert zwischen den Erwachsenen umher und begriffen nicht, was da geschah.
Es war Winter, Januar 1945.«
Die Journalistin spürte, dass die alte Frau diese Erlebnisse ohne Unterbrechung erzählen musste, so, als wenn sie diese damit schneller loswerden könnte. Eine Erschütterung, die bis heute nachwirkte.
Kriege reißen unendlich tiefe Wunden, die selten ganz verheilen. Männer, Frauen, Kinder, niemand bleibt verschont. Der Krieg ist grausam und unerbittlich, und er ist so unnötig. Schon immer hat Gewalt abermals Gewalt erzeugt. Und Druck wird immer Gegendruck auslösen. Warum werden sie geführt, diese Tötungsorgien? Wem nützen sie, wer ist der große Profiteur?
Abigail kannte den Krieg nur vom Hörensagen. Doch nun begann sie, durch Katharinas Erinnerungen eine leise Ahnung von der brutalen Wirklichkeit zu erlangen, der die Menschen in dieser aussichtslosen Lage ausgesetzt waren.
Nach längerem Schweigen fragte sie leise und mitfühlend: »Wollen wir für heute Schluss machen?«
»Nein, bitte lass uns das durchziehen und zu Ende bringen.
Meine älteste Schwester wurde krank – Scharlach. Ich sehe noch, wie meine Mutter ihre achtjährige Tochter in den Armen hält und ihr unaufhaltsam Tränen der Verzweiflung über das Gesicht laufen, während sie versucht, das glühende kleine Gesicht zu kühlen.
Wir waren gerade zwei Tage unterwegs. Vor uns gab es viele Pferdefuhrwerke und Menschen, die ihre Bündel nun selbst tragen mussten, weil man ihnen vielleicht auch ihre Fuhrwerke abnahm. Uns folgten nur noch vereinzelt Menschen, die, genau wie wir, ohne Ziel unterwegs waren, getrieben von der Angst vor Tod, Gefangennahme und Sorge um ihre Kinder oder ihre alten Familienangehörigen – ein endloser, trauriger, gebeugter Treck.
Mein Opa lief vor zu einigen Fuhrwerken und fragte nach Medizin. Niemand konnte ihm helfen. So starb meine Schwester in der Krisis. Wir konnten sie in kein Grab legen. Die Erde war tief gefroren, sodass uns nichts anderes übrig blieb, als sie im Schnee zu beerdigen.
Zwei Tage später starb auch mein kleiner Bruder. Wir hatten durch den Verlust unseres wohlbeladenen Wagens nicht viel mitnehmen können. Das Wenige war bald aufgezehrt. Meine Mutter verzichtete zu unseren Gunsten immer öfter auf ihren Anteil an Brot und den gefrorenen Äpfeln. Dadurch hatte sie nicht genug Milch für das Baby. Auch der Kleine fand kein Grab. Meine Mutter weinte nicht mehr, als sie ihn im Schnee verscharrte. Sie fiel über den Schneehügel, unter dem die kleine Leiche lag und wollte nicht mehr aufstehen. Opa und Oma sprachen auf sie ein, zogen sie mit vereinten Kräften hoch und riefen ihr in Erinnerung, dass es noch mehr Kinder gab, die sie brauchten. Von diesem Tag an war meine Mutter wie versteinert.«
Die Erinnerung war fast zu viel für Katharina. Die Trauer ließ sie verstummen. Abigail konnte ihr Entsetzen kaum verbergen. Und das hielten Menschen aus? Sie warf einen Blick auf die alte Frau neben sich. Was machte es mit ihnen, diesen Grausamkeiten in absoluter Hilflosigkeit ausgeliefert zu sein? Und dann noch funktionieren müssen?
Unvermittelt begann Katharina erneut zu versuchen, das Ungeheure in Worte zu fassen. Es war noch nicht zu Ende, noch mehr war geschehen, dass in vielen Menschen ewig schmerzende, nie verheilende Wunden gerissen hatte.
»Wir Kinder weinten vor Hunger. Aber es war nichts mehr da. Wir liefen wie in Trance, wie kleine Roboter, von keinem Willen angetrieben, monoton einen Fuß vor den anderen setzend. Wir nahmen hin, dass nichts mehr zu essen da war. Wir hatten auch nicht die Kraft, unseren Tränen zu trotzen. Sie liefen und liefen. Wir bemerkten es gar nicht. Meine Mutter warf sich in den Schnee auf ihre Knie und schrie: ›Herr Gott im Himmel, hilf uns! Gib meinen Kindern was zu essen! Nimm sie mir nicht auch noch weg, bitte lass sie nicht sterben!‹ Sie wimmerte leise vor sich hin. Dann richtete sie sich wieder auf. Wir gingen weiter, immer weiter vor uns hin. Plötzlich wurden wir aus unserer Lethargie gerissen. Vor uns war von einem Fuhrwerk ein Laib Brot heruntergefallen. Wir rannten hin und brachten es überglücklich unserer Mutter. Sie teilte es und murmelte vor sich hin: ›Danke, danke, Vater im Himmel‹ und immer wieder: ›Danke‹. Es war das leckerste Brot, das ich jemals gegessen habe.«
Nach einer kurzen Weile fuhr Katharina fort:
»Es gibt Situationen im Leben, die prägen sich tief ein und andere wiederum sind kaum oder gar nicht mehr präsent. Ich weiß, dass wir in Flüchtlingslagern waren, aber nicht mehr aus eigener Erinnerung. Mama hat davon erzählt, Bekannte auch. Da verschwimmt das Erlebte wie im Nebel mit dem Berichteten.«
Nach kurzer Unterbrechung sprach sie weiter: »Mama hat ab und zu davon geredet, was unterwegs geschehen war. Vor allem, wenn unsere Tante Pauline bei uns zu Besuch war, erinnerten sich die beiden Frauen gegenseitig an ihre Erlebnisse während der Flucht. Dort hatten sie sich kennengelernt. Tante Pauline war genauso alt wie sie. Gemeinsam war das Leid besser zu ertragen. Durch ein solches Gespräch erfuhren wir Kinder, dass abends oft junge Polen oder Russen ins Lager kamen und Frauen und Mädchen aussuchten, die sie vergewaltigten. Meine Mutter und ihre Freundin gaben vor, krank zu sein und ›sraczka‹, das polnische Wort für ›Durchfall‹, zu haben. Man ließ sie in Ruhe.
Eines Abends kamen polnische oder russische Jugendliche, die Opa aus dem Zelt holten. Da er einen langen weißen Bart trug, hielten sie ihn für einen Juden. Nach einigen Minuten hörte meine Mutter Schüsse. Es war nach zweiundzwanzig Uhr. Sie durfte das Lager nicht mehr verlassen. Am nächsten Morgen fand sie ihn – tot. Jetzt also auch noch er! Selbst, als Mama das erzählte, konnte sie nicht weinen. Ich kann mich gar nicht erinnern, sie jemals in Tränen aufgelöst gesehen zu haben.«
Katharina lehnte sich zurück und sah zum Wald, der den Garten begrenzte. Es dauerte eine Weile, bis sie wahrnahm, dass die Vögel die wärmenden Sonnenstrahlen genossen und das durch ihr fröhliches Zwitschern laut und wohltönend verkündeten. Ob sie Schlimmes erlebt haben oder nicht – wir wissen es nicht. Sie loben und preisen den Herrn, der sie gemacht hat und dafür sorgt, dass sie glücklich sein können. Katharina lächelte über ihre Gedanken. Ja, das macht das Leben aus. Ihre Freundin sagte ihr einmal diesen Spruch, den ihre Oma immer parat hatte: ›Willst du Gott für jede Gabe Dank erst sagen, du fändest keine Zeit mehr, über Leid zu klagen.‹ Wie wahr!
Da Abigail ihre Gedanken nicht kannte, schaute sie ziemlich erstaunt, dass Katharina nach diesen tragischen Erlebnissen noch lächeln konnte.
Abigail stand auf, reckte sich und beendete ihre
›Sitzung ‹ mit den Worten: »Ich bin ganz geschlaucht. Lass uns für heute aufhören. Ich laufe noch ein paar Schritte durch den Wald, okay?« Als ihre Frage mit einem Nicken beantwortet wurde, ging sie durch den Garten und rief: »Ich bin ungefähr in einer Stunde wieder zurück.«
In den nächsten zwei Tagen machten sie eine Pause, indem sie Heidelberg besuchten, wo natürlich jeder Amerikaner gewesen sein musste, wenn er sich in Deutschland aufhielt. Sie benutzten die Bahn, was für Abigail auch neu war. In Amerika war sie entweder mit dem Auto oder zu Fuß unterwegs.
Heidelberg ist für Touristen wahrscheinlich interessanter als für die Bewohner selbst. Viele Lieder und Gedichte wurden über diesen romantischen und schon verklärten Ort geschrieben und in viele Sprachen übersetzt. Die beiden Frauen genossen den Aufenthalt, liefen durch Geschäfte, die gut sortiert und teuer waren, und überall fand Abigail etwas, was sie als Geschenk gut gebrauchen konnte.
Der nächste Tag war ebenfalls ohne irgendwelche Verpflichtungen. So verging die Zeit wie im Flug.