Читать книгу Katharina und Abigail - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 8

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4.

»Vor vielleicht zwanzig Jahren hatte ich einmal eine ziemlich schlimme Auseinandersetzung mit meiner Mutter. Beide waren wir ungefähr gleich dickköpfig. Das führte dazu, dass wir uns lange weder gesehen noch gehört oder miteinander gesprochen haben.

Dann durchbrach meine Mutter die Schweigespirale. Sie bat mich, zu ihr zu kommen. Da meine Sehnsucht sicher genauso groß war, sie wiederzusehen, verabredeten wir uns gleich für den darauffolgenden Samstag.

Ich hatte keine Ahnung, wie wir nach drei Jahren Stillschweigen wieder miteinander umgehen sollten. Da kam mir die Idee, einen Kassettenrekorder und ein Mikrofon einzupacken und ein Interview mit meiner Mutter zu führen. So kann ich dir jetzt aus der Kindheit und der Jugend meiner Mama berichten.«

Katharina nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Wasserglas.

Dann fuhr sie fort: »Ich tat so, als sei ich eine Reporterin von einem Radiosender. Dieses Spiel nahm der Situation ein wenig die Anspannung. Zunächst wehrte sie ab, indem sie behauptete, ihr Leben sei nicht erzählenswert. Doch dann ließ sie sich darauf ein. Mir war natürlich schon einiges bekannt, aber ich stellte fest, dass über viele Dinge noch nie gesprochen wurde.

Meine Mutter war ein sehr glückliches kleines Mädchen mit braunen Zöpfen und einem fröhlichen Naturell. Im Kreis ihrer Familie, die aus meinem Opa, meiner Oma, einem Bruder und drei Schwestern bestand, fühlte sie sich am wohlsten. Nach ihrem eigenen Bericht war sie in folgsames Kind.

Ihr Vater war mit neunzehn Jahren Lehrer geworden und hielt um die Hand meiner damals sechszehnjährigen Oma an. Die Urgroßeltern waren von der Idee, einen „armen Schlucker“, als solche galten Lehrer damals, als Schwiegersohn zu bekommen, nicht begeistert, stimmten dann aber zu, als meine Oma sie mit Tränen und Wutausbrüchen, mit Schmeicheleien und Traurigkeit umstimmte.

Der Zar von Russland hatte Kaiser Wilhelm seinen Wunsch überbracht, dass er gern junge deutsche Familien im Ural ansiedeln würde. Zwar stammte Oma von einem relativ großen Gut in Berlin, stand aber in der Erbfolge an ungünstiger Stelle, sodass ihr ältester Bruder den Hof übernahm. Seiner Schwester ließ er eine ansehnliche finanzielle Unterstützung zukommen, um ihr die Möglichkeit zu geben, zusammen mit ihrem Lehrer im Ural etwas aufzubauen. So konnten die beiden jungen Eheleute voller Abenteuerlust losziehen und dem Ruf des Zaren folgen.

Ihre neue Heimat musste erst einmal errichtet und gestaltet werden. Doch sie waren nicht allein. Mit ihnen hatten noch mehrere Familien den Neuanfang gewagt. Nun half ein Nachbar dem anderen. Jeder brachte seine Fähigkeiten ein und es dauerte nicht lange, bis ein kleines Dorf entstand.

Es gab in der Gegend, die ihnen als neuer Lebensraum zugewiesen worden war, noch andere Dörfer. Eine Schule hatte man in ihrem Ort gebaut, aber es fehlten Lehrer. So kam Opa wie gerufen. Er unterrichtete Kinder in zwei deutschen Ortschaften.

Die Familie lebte sich relativ schnell in ihrer neuen Heimat ein. Meine Oma, die Hebamme wurde, war – genau wie Opa – ein gern gesehener und geachteter Gast in den Häusern des Dorfes.

Mein Großvater war in den kleinen deutschen Dörfern neben dem Schuldienst auch zuständig für die Gottesdienste. Sie fanden ebenfalls in den Schulgebäuden statt und wurden dafür provisorisch umfunktioniert. Opa war evangelischer Laienprediger. Auch diese Aufgabe führte er mit Leib und Seele aus. Er konnte die Geschichten der Bibel so anschaulich erzählen, dass sein Publikum gern kam. An den Sonntagen wurden die schönsten Kleider angezogen. Es war nicht allein der Gottesdienst, der die Menschen zusammenführte. Dort war auch der Treffpunkt, an dem man sich austauschen konnte, Vereinbarungen traf und die neuesten Dorfgeschichten erfuhr.

Doch trotz allem stand Gottes Wort an erster Stelle. Die Bibel war den Menschen noch heilig. Gesangbücher, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Man sang die alten Choräle aus dem Gedächtnis. Eine Frau, die sehr gut Geige spielte, begleitete den Gesang nach den Noten, die Opa aufgeschrieben hatte. Die Gemeindemitglieder waren ihrem Gott von Herzen dankbar, dass er sie bis hierher gebracht hatte. Sie konnten bezeugen, dass er zuverlässig und treu ist.

Hochzeiten, Konfirmationen und Taufen wurden von einem ordinierten Pastor vorgenommen, der einmal im Jahr kam und für eine paar Tage im Hause meiner Großeltern wohnte.

Auch später wurden bestimmte Rituale eingehalten. Jeder Tag begann mit einem Gebet. Dasselbe galt für das Mittagessen. Opa las aus der Bibel vor. Manchmal übernahm das auch mein Onkel. Wenn für die Kinder Schlafenszeit war, knieten sie sich vor ihren Betten nieder und dankten dem Herrn Jesus dafür, dass er sie den Tag über beschützt hatte, und baten ihn, auch in der Nacht auf sie und die anderen Menschen aufzupassen.

Ungefähr zehn Jahre nach ihrer Ankunft wurden meine Großeltern mit ihren vier Kindern und den anderen deutschen Familien nach Sibirien deportiert. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen und auf Deutsche waren die Russen nicht mehr gut zu sprechen.

Meine Mutter hat mir nicht erzählt, wie sie dort lebten. Alles, was sie wusste, war schon durch das Sieb der Erinnerung meiner Großeltern gerieselt. In Sibirien erblickte sie als jüngstes Kind das Licht der Welt.

Eines Tages kam Opa aufgeregt nach Hause und ließ meine Oma schnell Sachen für die Kinder zusammenpacken. Es muss im Jahr 1919 gewesen sein. Meine Mutter war gerade drei Jahre alt. Er hatte gehört, dass in einer Stunde der letzte Zug nach Westen abfahren würde, den sie unbedingt erreichen mussten. Sie schafften es und hofften, sie würden so nach Deutschland und am liebsten gleich nach Berlin kommen. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Sie mussten im späteren Warthegau den Zug verlassen. Er fuhr nicht weiter, doch Opa fand an allem etwas Gutes. Dass dass sie nicht nach Berlin kamen, nahm er als Wink Gottes. Immer wieder hielt sich die Familie an Jesus Christus fest. ›Wer weiß, was Er hier für uns vorbereitet hat; denn nichts geschieht durch Zufall, immer ist Gott der Initiator«

Meine Mutter erzählte mir, dass diese feste Zuversicht, dass Jesus immer da ist, ihr oft im Leben die Kraft zum Weitermachen gegeben hat. Es ist wichtig, ein Fundament zu haben, auf dem man fest stehen kann.«

»Ich dachte schon, auch hier wieder heile Welt! Aber so heile blieb die Welt ja dann noch nicht!«, warf Abigail ein, als Katharina eine kurze Pause einlegte. Ihr kam es so vor, als habe sie einen Hauch Zynismus aus diesen Worten herausgehört.

»Ich verstehe nicht. Wie meinst du das mit der heilen Welt? Wenn du weiter zuhörst, wirst du sehen, wie schwer das Leben damals war!« Ganz kurz hatte ihre Stimme ihren freundlichen Klang verloren. »Wollen wir weitermachen? Irgendwie ist mir gerade nicht danach!«

Plötzlich änderte sich Abigails Gesichtsausdruck. Eben noch ein wenig spöttisch und von oben herab, lächelte sie jetzt Katharina, fast wie um Vergebung bittend, an. »Ach bitte, mach doch weiter. Natürlich nur, wenn du willst.«

»Also, die älteren Kinder unserer Familie gingen mit ihrem Vater in die Schule. Er verlangte von ihnen, Vorbild für die anderen Schüler zu sein. Sie bemühten sich sehr darum.

Meine Mutter, die kleine Amalia, hatte keinerlei Verpflichtungen. Das auszukundschaftende Zuhause war ein Bauernhaus mit Garten und Ställen. Ihre Neugier war kaum zu stillen. Jeden Tag entdeckte sie etwas Neues. Sehr gern spielte sie einfach mitten auf dem Weg, den die Fuhrwerke mit der Zeit in die Erde gegraben hatten. Sie saß dann da und ließ den feinen weißen Sand zwischen den Fingern durchrieseln. Es war so ein eigenartiges und wunderbares Gefühl, wenn der Sand die Fingerinnenseiten streichelte.

Als sie eines Tages an der lang gezogenen Ligusterhecke vorbeiging, lag dort zwischen den Zweigen ein kleines Tierchen. Es bewegte sich nicht. Schnell lief sie zu ihrer Mutter. ›Guck mal, Mama, was ich da habe.‹ – ›Oh, ein toter Maulwurf. Was machen wir nun damit? Ich hab eine Idee! Wir nehmen den Karton, der da oben auf den Schrank steht, legen ganz viele Blätter hinein, damit er weich liegt, und dann begraben wir ihn.‹

Amalia schaute genau zu, was die Mutter da mit ihrem Maulwurf machte.

›Lauf mal und schau, ob du nicht unter der Eiche Blätter findest.‹ Die Kleine kam mit einer ganzen Handvoll zurück. So wurde der Sarg aus Pappe weich gepolstert und das tote Tier hineingelegt. Dann grub die Mutter ein Loch, in das der Karton hineinpasste. Aus zwei Birkenstöckchen band sie ein Kreuz zusammen, das auf das Grab gesteckt wurde. Das kleine Mädchen war mit Mutters Werk zufrieden.

Als am späten Nachmittag mein Großvater nach Hause kam, musste er sich die Neuigkeiten sofort anhören, noch bevor er seine Tasche auf dem Stuhl ablegen konnte. Er streichelte ihr über den Kopf. Er liebte sein kleines quirliges Mädchen, das voller Lebensfreude war.

Sie lernte reiten und durfte bald ihren großen Bruder begleiten. Er war ihr Held. Wenn er auf dem Hof war, konnte man sicher sein, dass die Kleine nicht weit entfernt war. Sie bewunderte ihn für die vielen Dinge, die er schon konnte und sie nicht. Zum Beispiel konnte er auf den Fingern pfeifen. Sie übte und übte, aber es dauerte noch ein ganzes Jahr, bis sie es endlich auch heraushatte. Er brach einen Roggenhalm ab, machte daraus eine Pfeife und schenkte sie ihr. Er schnitzte ihr einen Wanderstab und eine Flöte, der man verschiedene Töne entlocken konnte. In ihren Augen war er der Allergrößte, der Allerbeste, eben ihr Held.

Als sie ungefähr fünf Jahre war, begann sie meiner Großmutter beim Kochen zur Hand zu gehen. Sie lernte Stricken und Strümpfe stopfen. Die ersten Resultate waren noch nicht überzeugend, doch ihr Vater zog tapfer die Socken an, obwohl sie durch die Stopfbemühungen seiner Tochter an den Fersen ein bisschen eng geworden waren.

Noch bevor sie einen Fuß in die Schule gesetzt hatte, las sie schon ein wenig aus der Bibel vor, konnte ihren Namen schreiben und leichte Rechenaufgaben lösen. Während sich ihre Schwestern schwer taten, sich den Lernstoff zu erarbeiten, war sie wissbegierig und besaß eine schnelle Auffassungsgabe.

Jahre später, als meine Mutter ungefähr zehn Jahre alt war, gab sie auf Wunsch ihres Vaters den Kindern Nachhilfe. ›Amalia, das ist eine gute Gelegenheit für dich, schon mal zu üben.‹ Für ihn stand fest, dass sie Lehrerin werden würde. Mit ihrer liebevollen, geduldigen Art erreichte sie die Herzen der Kinder. Sie kamen gern zu ihr und versuchten, durch eifriges Lernen dem nur wenig älteren Mädchen eine Freude zu machen.

Nun mache ich aber doch einen Schnitt. So in der Erinnerung zu kramen, strengt ganz schön an.« Abigail nickte und schaltete das Aufnahmegerät aus. »Bist du noch böse wegen vorhin?« »Ach nein, aber lass uns nicht mehr davon reden, ja?«

Katharina und Abigail

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