Читать книгу Feuerkuss und Flammenseele - Eileen Raven Scott - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеIlvios Kopf summte von all den Stimmen am Bahnhof. Nur gut, dass Audrey alles für ihn organisiert hatte. Für einen Geist dachte und agierte sie wirklich noch sehr materiell. Kein Wunder, war sie doch fähig, ihren Geistkörper vorübergehend in so feste Substanz zu formen, dass man sie für einen lebendigen Menschen halten konnte. Audrey hatte ihm sogar ein Telefon gegeben. Damit er Hilfe rufen konnte, wenn er alleine in London nicht klarkam, hatte sie gesagt. Und sie hatte ihm jede Menge erzählt, was auf ihn zukam. Wie man sich in der Stadt fortbewegen konnte und worauf er achten sollte. Er stieg ein und suchte sich einen Platz. Noch eine Weile winkte er Audrey und sah zu, wie sie auf dem Bahnsteig immer kleiner und kleiner wurde.
Als er sie nicht mehr sehen konnte, schaute er sich im Wagen um. Eine junge Frau mit einem kleinen Jungen saß ihm gegenüber. Sie las ihm ein Buch vor und er war völlig in der Geschichte gefangen. Ilvio musste lächeln. Durch sein weißblondes Haar und sein zartes Aussehen hatte der Kleine fast Ähnlichkeit mit einem Meereself. Die Frau sah auf und nickte Ilvio freundlich zu. Eilig nickte Ilvio zurück und sah dann geflissentlich aus dem Fenster. Soviel wusste er schon, die Menschen mochten es nicht besonders, wenn Fremde ihre Kinder allzu auffällig musterten. Draußen rauschten Bäume und Felder vorbei, Schafe und Kühe. Endlose Hecken und der Himmel.
Das Meer konnte er nicht mehr sehen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Eine Leere in seinem Herzen. Aber er schüttelte den Kopf und ballte seine Hand zu einer Faust. Er würde es schaffen. Mit neuer Musik würde er zurückkehren und es würde ihm besser gehen.
Die ersten Häuser Londons tauchten auf. Ilvio staunte, wie riesig sie hier waren. Ganz anders als in der kleinen verträumten Küstenstadt Lyme Regis. Unzählige Fenster glitzerten in der Sonne. Dahinter sah er spitze Kirchtürme, bunt besprühte Mauern und dicht befahrene Straßen. So viele Autos und rote Busse. Der Zug wurde langsamer und fuhr in eine riesige Halle mit Glasdach, gestützt von weißen Metallstreben.
Viele Menschen warteten dort geduldig auf ihre Bahn. Einige lasen Zeitung, andere unterhielten sich lachend und wieder andere telefonierten. Ilvio vergewisserte sich, dass er das Telefon von Audrey noch hatte, und suchte den Ausgang.
Lautes Stimmengewirr empfing ihn und ein seltsamer Geruch, den Ilvio nicht kannte. Er sah sich um. Eine Reihe von Glastüren schienen ins Freie zu führen. Ilvio steuerte auf die nächstliegende zu.
Draußen schien die Sonne. Ein kühler Wind wehte. Jemand neben ihm pfiff laut. Ein schwarzes Auto hielt an und der Mann stieg ein. Auf dem Dach leuchtete ein gelbes Licht auf. Andere dieser Autos kamen und sammelten Leute ein, manche waren schwarz, andere gelb oder ganz bunt. Das mussten Taxis sein, dachte Ilvio.
Er ging lieber zu Fuß. Er wusste ohnehin nicht, wo er hinwollte. Riesige Gebäude aus hellem Stein ragten neben der Straße empor. Autos hupten und brausten an ihm vorbei. Ilvio atmete tief durch und musste prompt husten. Stadtluft war eindeutig nicht mit Meeresluft zu vergleichen. Er drehte sich in alle Richtungen und erkannte eine Brücke.
Ilvio folgte ein paar Fußgängern und stand nach einigen Minuten am Ufer eines dreckig-braunen Flusses. Ilvio schauderte. In die Brühe würde er nicht mal eintauchen wollen, wenn jemand ihn mit vorgehaltener Waffe dazu zwang. Er schirmte die Sonne mit der Hand ab, sodass sie ihm nicht in die Augen schien, und überlegte, was Audrey gesagt hatte. Die London Underground solle er nehmen, wenn er längere Strecken fahren wollte. Wollte er das? Möglicherweise.
Er zählte das Geld in seiner Tasche und fand bald ein Gebäude, an dem das Underground-Zeichen angebracht war. Dort kaufte er sich einen Drei-Tage-Pass, nachdem er auf seinen Notizzettel gesehen hatte. Audrey hatte ihm glücklicherweise alles notiert und wieder war er seiner Tante unendlich dankbar für ihr Interesse an der Menschenwelt und dass sie die Geduld besessen hatte, ihm die Menschenschrift beizubringen.
Ilvio beobachtete die Leute um sich herum. Die anderen nachahmend, steckte er die Karte in einen schmalen Schlitz vor ein paar schwarzen Drehkreuzen. Das Drehkreuz gab nach und Ilvio tauchte mit einer steilen Rolltreppe in die Tiefe.
An der Wand hingen in immer gleichen Abständen Plakate mit den unterschiedlichsten Bildern und Texten. Ein Plakat erregte seine Aufmerksamkeit, darauf war ein Foto von einer Meerjungfrau, am Arm eine weiße Gestalt mit einem Umhang und eine Art Teufel. Sie schlenderten Arm in Arm über eine nächtliche Straße. Im Hintergrund sah er runde orange Laternen mit Gesichtern.
Dort wo solche Wesen waren, passte er sicher auch gut hin.
„Camden Town, Open Air Halloween-Party“, las er laut vor und nickte. Er sah auf seinen Notizzettel. Genau. Auf Parties gab es Musik. Schnell schrieb er sich die Worte „Camden Town“ auf. Am Fuß der Rolltreppe drehte er sich um und trat ein wenig zur Seite. Eine junge Frau in einem hautengen dunkelblauen Kleid kam geradewegs auf ihn zu. Sie sah ihn einen Moment an und Ilvio ergriff sofort die Gelegenheit.
„Wissen Sie, wie ich nach Camden Town komme? Ich bin nicht von hier.“
Sie stutzte, dann lächelte sie.
„Nehmen Sie die Victoria Line, die blaue, Richtung Seven Sisters bis Euston. Da müssen sie umsteigen in die Northern Line, eine schwarze. Richtung Edgware, ich glaube, High Barnet geht auch. Und dann kommen sie automatisch an Camden Town vorbei.“
„Die Bahnen haben Farben?“, fragte Ilvio, während er sich hektisch Notizen machte.
Die Frau lachte. „Oh, Sie sind wirklich nicht von hier. Die Lines haben verschiedene Farben. An den Wänden sind farbige Fliesen als Streifen und auf den Wegweisern sind die Farben auch. Ganz einfach. Kein Ding. Das schaffen Sie schon!“ Sie sah ihn einen Moment an.
„Kommen Sie mit, ich muss auch die Victoria Line nehmen. Ich zeige Ihnen wenigstens den ersten Zug.“
Ilvio ging dankbar mit. Sie kamen durch einen gefliesten Tunnel auf eine Plattform. Hier schien es nicht weiterzugehen. Eine Art unterirdischer Bahnhof also. Die Frau deutete auf ein Schild mit leuchtender Schrift.
„Noch drei Minuten, dann kommt die richtige Bahn.“
Als ein niedriger Zug mit knallroten Türen kam, folgte Ilvio der Frau ins Innere. Er verlor sie schnell aus den Augen zwischen all den Menschen, aber er würde es schon schaffen. Eng gedrängt zwischen einem dicken Mann im Trenchcoat und einem gepiercten Mädchen blieb er stehen und hielt sich an einer Stange fest, als die Bahn ruckelnd anfuhr.